Das Volk auflösen und ein anderes wählen
SED-Führung und DDR-Regierung ignorierten im Sommer 1953 eine klugen Ratschlag von Bertolt Brecht und verfälschten eine Stellungnahme





Das Brecht-Denkmal in Sichtweite des Berliner Ensembles wird durch Inschriften ergänzt.





Die Tafel das Brecht-Weigel-Haus an der Chausseestraße 125 in Berlin-Mitte erinnert an das berühmte Künstlerpaar, das wenige Schritte weiter auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof bestattet ist. (Fotos: Caspar)

Der von der Roten Armee und den Sicherheitsorganen der DDR niedergeschlagene Volksaufstand vom 17. Juni 1953 löste heftige Reaktionen unter Intellektuellen und Künstlern im zweiten deutschen Staat aus. Walter Ulbricht, der eben noch um seine Stellung gebangt hatte, saß als SED-Chef und stellvertretender Ministerpräsident fester denn je im Sattel. Ihm schickte Bertolt Brecht einen Brief, aus dem das SED-Zentralorgan NEUES DEUTSCHLAND nur diesen Satz zitierte: "Es ist mir ein Bedürfnis, Ihnen in diesem Augenblick meine Verbundenheit mit der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands auszudrücken." Freunde im Westen nahmen dem Dichter diesen Kotau übel, Brecht wurde aus westdeutschen Spielplänen genommen und galt lange Zeit als Kommunistenfreund.

Erst nach Brechts Tod im Jahr 1959 wurde bekannt, dass Bertolt Brecht kein Telegramm mit jenem kurzen Satz, sondern einen langen Brief an Ulbricht geschrieben und ihn und die falsche Politik der Regierung für den Aufstand verantwortlich gemacht hatte. In dem Schreiben betonte der Dichter seine Forderung nach Reformen, die auch diesen Namen verdienen. Selbstverständlich gingen Ulbricht und Co., die mit Brecht manche Schwierigkeiten hatten, auf den Brief nicht ein. Lediglich pickten sie sich jene Höflichkeitsfloskel ganz zum Schluss und fabrizierten aus ihr ein zustimmendes Votum. Ebenfalls unterdrückt wurde ein Gedicht, dem Brecht die Überschrift "Die Lösung" gab. "Nach dem Aufstand des 17. Juni / ließ der Sekretär des Schriftstellerverbandes / in der Stalinallee Flugblätter verteilen, / auf denen zu lesen war, daß das Volk / das Vertrauen der Regierung verscherzt habe / und es nur durch verdoppelte Arbeit / zurückerobern könne. Wäre es da / nicht einfacher, die Regierung / löste das Volk auf / und wählte ein anderes?"

Ich habe eine Resolution vorzuschlagen.

Was Ulbricht und die von Otto Grotewohl geführte Regierung dazu sagten, wissen wir nicht, wohl aber, dass es ein paar Jahre später im Westen und von dort über das Radio auch in der DDR verbreitet, sogar hinter vorgehaltener Hand zitiert wurde. Das Gedicht war eine Reaktion auf die von der SED und der DDR-Regierung ausgegebene Behauptung, der Aufstand sei ein von der Bundesrepublik Deutschland und insbesondere vom West-Berliner Sender RIAS organisierter faschistischer Putschversuch gewesen, auf den das Volk wie eine dumme Hammelherde hereingefallen sei. Dagegen wandte sich Brecht auf einer Tagung in der Akademie der Künste mit den Worten: "Ich habe eine Resolution vorzuschlagen. Da sich herausgestellt hat, dass unser Volk eine dumme Hammelherde ist, empfehlen wir der Regierung, sich ein anderes Volk zu wählen." Dass er dann jenes Gedicht schrieb, sei nur eine Reaktion dafür gewesen, dass sie den Resolutionsvorschlag nicht ernst zu nimmt.

Da sich DDR-Kulturpolitiker gern mit Bertolt Brecht schmückten und ihm beziehungsweise seiner Frau Helene Weigel mit dem Berliner Ensemble sehr gute Arbeitsmöglichkeiten boten, hat man dem Dichter nichts getan. Dabei schrieb er den Funktionären und nicht nur ihnen ins Stammbuch: Wer die Wahrheit nicht weiß, der ist bloß ein Dummkopf. Aber wer sie weiß und sie eine Lüge nennt, der ist ein Verbrecher." 1988 wurde ihm zu Ehren auf dem Platz vor dem Berliner Ensemble ein von Fritz Cremer in Verbindung mit dem Architekten Peter Flierl geschaffenes Denkmal errichtet. Die Inschriften auf den Stelen und im Boden vor der bronzenen Sitzfigur zitieren Aussprüche des Dichters und Theatermanns wie diesen: "Ich benötige keinen Grabstein, aber / wenn ihr einen für mich benötigt / wünschte ich, es stünde darauf: / Er hat Vorschläge gemacht. Wir / haben sie angenommen. Durch eine solche Inschrift wären / wir alle geehrt." Vergeblich aber wird man auf dem Friedhof den Satz suchen, wonach sich die DDR-Regierung gefälligst woanders ihre Macht ausüben möge.

Anmut sparet nicht noch Mühe

Die 1950 von Brecht verfasste Kinderhymne mit den Zeilen "Anmut sparet nicht noch Mühe / Leidenschaft nicht noch Verstand, / dass ein gutes Deutschland blühe, / wie ein andres gutes Land. / Dass die Völker nicht erbleichen / wie vor einer Räuberin, / sondern ihre Hände reichen / uns wie andern Völkern hin. / Und nicht über und nicht unter / andern Völkern wolln wir sein, / von der See bis zu den Alpen, / von der Oder bis zum Rhein. / Und weil wir dies Land verbessern, / lieben und beschirmen wir's. / Und das liebste mag's uns scheinen / so wie andern Völkern ihrs" wurde von Hanns Eisler vertont. Es war von seinem Schöpfer als Gegenstück zum "Lied der Deutschen" nach dem Text von Hoffmann von Fallersleben gedacht, von dem nach dem Zweiten Weltkrieg nur noch die dritte Strophe gesungen werden durfte.

Die Kinderhymne entspricht in ihrem Versmaß dem des Deutschlandliedes und nahezu dem der Becher'schen Nationalhymne der DDR von 1949. Zugleich war die Kinderhymne auch als Alternative zur Nationalhymne der DDR mit dem Eingangssatz "Auferstanden aus Ruinen" gedacht, konnte sich aber gegen diese nicht durchsetzen. Nach dem Ende des SED-Staates haben sich Bürgerinitiativen und Medien für die Kinderhymne als neue deutsche Nationalhymne eingesetzt. Der von der SED gemaßregelte und in seinem Schaffen behinderte Schriftsteller Stefan Heym gab in seiner Eigenschaft als Alterspräsident des Deutschen Bundestages bei dessen feierlicher Eröffnung im November 1994 den Abgeordneten auf den Weg: "Deutschland, und gerade das vereinigte, hat eine Bedeutung in der Welt gewonnen, der voll zu entsprechen wir erst noch lernen müssen. Denn es geht nicht darum, unser Gewicht vornehmlich zum unmittelbaren eigenen Vorteil in die Waagschale zu werfen, sondern das Überleben künftiger Generationen zu sichern. […] Arbeits- und Obdachlosigkeit, Pest und Hunger, Krieg und Gewalttat, Naturkatastrophen bisher unbekannten Ausmaßes begleiten uns täglich. Dagegen sind auch die besten Armeen machtlos. Hier braucht es zivile Lösungen: politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle."

Heym rezitierte die von manchen Zeitgenossen wegen ihrer klaren, unprätentiösen Sprache gelobte Kinderhymne und gab zu bedenken, dass die Menschheit nur in Solidarität überleben kann. "Das aber erfordert Solidarität zunächst im eigenen Lande: West, Ost, oben, unten, reich, arm." Die Rede des greisen Dichters wurde von Abgeordneten der Union und anderer Parteien sowie von Bundeskanzler Helmut Kohl mit eisigem Schweigen quittiert. Als der Schauspieler Peter Sodann 2009 von der Linkspartei zur Bundespräsidentenwahl nominiert wurde, sprach er sich dafür aus, Brechts Kinderhymne zur Nationalhymne des wiedervereinigten Deutschland zu machen, und hatte damit aber keinen Erfolg.

23. August 2017

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