Panzer gegen den Prager Frühling
Der Niederschlagung der Bürgerbewegung 1968 folgte neun Jahre später in der CSSR die Charta 77



Die sozialistischen Bruderländer mit der Sowjetunion an der Spitze taten alles, um oppositionelle Strömungen, gar einen Siegeszug des demokratischen Sozialismus auf der Prager Burg und der ganzen CSSR im Keim zu ersticken.



Was der Reformkommunist Alexander Dubcek und seine Mitstreiter anstrebten, wurde in der Charta 77 unter Berufung auf die Schlussakte von Helsinki fortgeschrieben.



Der sowjetischer Machthaber Leonid Breshnew ließ 1968 Truppen in die CSSR einmarschieren, während die von Walter Ulbricht und seinem Adlatus Erich Honecker (links) bereitgestellten Soldaten an der Grenze Halt machen mussten.



Zwar sah es bei solchen Militärparaden aus, als sei die DDR ein stabiler und prosperierender Staat. Doch war sein Untergang Ende der 1980-er Jahre nicht aufzuhalten. (Fotos/Repros: Caspar)

Das Jahr 1968 war in der Bundesrepublik Deutschland durch eine machtvoll sich zu Wort meldende außerparlamentarische Oppositionsbewegung gezeichnet, die mit legalen und illegalen Mitteln, zum Teil mit politischen Attentaten, dem Anzünden von Kaufhäusern und anderen Akten massiv für Veränderungen in allen gesellschaftlichen Bereichen stritt. Die Bezeichnung Achtundsechzig oder 68-er wurde, manchmal in Verbindung mit "Alt" für bestimmte Kreise zum Hassbegriff beziehungsweise zum Qualitätssiegel.

Dass das Jahr 1968 in den unter sowjetischer Vormundschaft stehenden Staaten durch eine andere Bewegung, die des Prager Frühlings geprägt war, wird bis heute im Gedenken an eher "1968" am Rand erwähnt. Angelehnt an den Namen eines bekannten Musikfestivals, war der Prager Frühling Inbegriff für eine Reformbewegung in der damaligen CSSR, die nach dem Einmarsch sowjetischer und weiterer Truppen der Warschauer Vertragsstaaten am 21. August 1968 und danach blutig niedergeschlagen wurde.

Der von großen Teilen der tschechoslowakischen Bevölkerung getragene und von Reformkommunisten unternommene Versuch, einen "menschlichen" Sozialismus aufzubauen, alarmierte die Führer der Sowjetunion und der anderen sozialistischen Länder. Die mit dem Erwachen der Natur nach einer als quälend empfundenen Frost- und Stagnationsperiode verglichene Zeit eines politischen und kulturellen Aufbruchs gipfelte in der Forderung nach Demokratisierung von Partei, Staat und Wirtschaft, nach freien Wahlen, Zulassung regimeunabhängiger Parteien und Organisationen, Aufhebung der Zensur und dem Austritt des Landes aus dem Warschauer Pakt sowie seiner Befreiung von sowjetischer Vormundschaft.

Brüderliche Hilfe

Was sich in der CSSR tat, durfte nach Auffassung des sowjetischen Parteischefs Leonid Breschnew, seines ostdeutschen Genossen Walter Ulbricht und all der anderen Staats- und Parteiführer auf keinen Fall Schule machen. Deshalb wurde der Prager Frühling im August 1968 von den Truppen der Sowjetunion und anderer Staaten des Warschauer Vertrags gewaltsam niedergeschlagen. Die in die Sowjetunion zitierten Führer der tschechoslowakischen Reformbewegung mit Alexander Dub?ek an der Spitze wurden massiv unter Druck gesetzt und gezwungen, die bereits eingeleiteten Neuerungen zurückzunehmen. Auf Wunsch von Breshnew mussten Truppenteile der Nationalen Volksarmee der DDR an der Grenze "Gewehr bei Fuß" innehalten, was Ulbricht als diskriminierend empfand. Der Hinweis seines "großen Bruders" mit Blick auf den Überfall der deutschen Wehrmacht, 23 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg seien deutsche Truppen in dem Nachbarland unpassend, mussten der SED-Chef und seine Generale als klaren Befehl hinnehmen.

Nach der als brüderliche Hilfe deklarierten Niederschlagung des Prager Frühlings und des Versuchs, in der CSSR einen eigenen Weg des Sozialismus zu gehen und ihm ein menschliches Antlitz zu geben, fanden Prozesse gegen die, wie man sagte, Rädelsführer der Reformbewegung statt. Dub?ek, der als zeitweiliger Parteichef an der Spitze des Prager Frühlings gestanden hatte, wurde politisch kalt gestellt, jedoch wegen seines hohen internationalen Bekanntheitsgrades nicht wie sonst üblich liquidiert.

Was sich in der CSSR abspielte, wurde in der DDR und den anderen "sozialistischen Bruderländern" sehr aufmerksam verfolgt. Wer sich mit dem Prager Frühling solidarisierte und den Einmarsch der Armeen als großes Unrecht verurteilte, rief die Stasi und die Justizorgane auf den Plan. Erich Mielkes Geheimdienst tat alles, um die als "feindlich-negative Personen" diffamierten Bürgerrechtler zu unterwandern und zu neutralisieren, wie es im Stasi-Jargon heißt. Dabei konnte sich die Opposition in der DDR auf die Schlussakte von Helsinki berufen, die Honecker mit anderen Politikern am 3. Juli 1973 unterzeichnet hatte. Durch ihren Beitritt verpflichtete sich die DDR unter anderem zur Gewährung von Freizügigkeit und Reisefreiheit. Doch hielten sich Honecker und seine Genossen nicht an ihre Verpflichtungen, weshalb sie immer wieder von der sich langsam entwickelnden Bürgerrechtsbewegung an die eigene Unterschrift erinnert wurden und in Zugzwang gerieten.

In der Argumentation spielte die Charta 77 eine Rolle, eine im Januar 1977 veröffentlichte Petition gegen die Menschenrechtsverletzungen in der ?SSR, aus der sich eine tschechoslowakische Bürgerrechtsbewegung entwickelte. In ihr schlossen sich oppositionelle Künstler und Intellektuelle, Arbeiter, Priester, ehemalige Kommunisten und weitere Bürgerrechtler zusammen. Der Dramatiker und spätere Staatspräsident Vaclav Havel und weitere Persönlichkeiten griffen das kommunistische Regime wegen seiner Menschenrechtsverletzungen an und forderten die Einhaltung der Schlussakte von Helsinki, der auch die ?SSR beigetreten war.

Selbstverständlich wurde das regimekritische Manifest in den tschechoslowakischen Medien nicht veröffentlicht, doch da diese eine massive Kampagne gegen die Charta 77 führten, sorgten sie dafür, dass ihr Inhalt landesweit bekannt und diskutiert wurde. Das Dokument kritisierte die Unterdrückung bürgerlicher Rechte im Lande, die Unterordnung von Politik und gesellschaftlichem Leben unter die "politischen Direktiven des Apparats der regierenden Partei und unter die Beschlüsse machthaberisch einflussreicher Einzelpersonen". Gefordert wurde ein demokratischer Dialog zwischen Politik und Bürgern, der diesen Namen verdient, die Gewährung von Reisefreiheit, freie Religionsausübung, Amnesie politischer Gefangener, Meinungspluralismus und Aufhebung der Zensur.

Diffamierung und Verfolgung

Wie die Vertreter der Charta 77 im eigenen Land waren auch deren Mitstreiter in der DDR Repressalien wie Bespitzelung, Verhaftungen, Gerichtsverfahren, Berufs- und Publikationsverboten und anderen Drangsalierungen ausgesetzt. Viele von ihnen wurden zu Zuchthausstrafen verurteilt, nur weil sie sich zu den Zielen der Charta 77 bekannt hatten. Die erste Reaktion des kommunistischen Staates erfolgte am 12. Januar 1977 in der Zeitung Rude Pravo. Unter der Überschrift "Schiffbrüchige und Selbsterwählte" wurden die Unterzeichner als verkrachte Anhänger der tschechoslowakischen reaktionären Bourgeoisie sowie der "Konterrevolution von 1968" bezeichnet, womit der Prager Frühling gemeint war. Angeblich würden die Leute von der Charta 77 auf Bestellung antikommunistischer und zionistischer Zentralen und im Auftrag westlicher Agentenzentralen handeln. Das Dokument selbst sei eine antistaatliche, antisozialistische, gegen das Volk gerichtete, demagogische Hetzschrift, die in grober und verlogener Weise die Tschechoslowakische Sozialistische Republik und die revolutionären Errungenschaften des Volkes verleumdet.

Im Untergrund agierend, wurden die Bürgerrechtler in beiden Ländern von der jeweiligen Geheimpolizei beobachtet, unterwandert und als konterrevolutionär und imperialismusfreundlich verunglimpft. Mitglieder und Sympathisanten der Charta 77 wurden von der Staatsmacht starken Repressalien wie Berufsverbote, Verhaftungen und Verurteilungen ausgesetzt und konnten nur im Untergrund agieren. Von dort hielten sie ihre Kontakte zum Westen aufrecht und versorgten westliche Medien immer aufs Neue mit Berichten über Menschenrechtsverletzungen.

Führende Mitglieder und Sprecher waren der Philosophieprofessor Jan Patocka, der Schriftsteller Václav Havel sowie Jiri Hájek, Professor und ehemaliger Außenminister der Tschechoslowakei während der Dubcek-Ära. Ungeachtet massiver Verfolgung und Verleumdung blieben die Mitglieder der Gruppe im Untergrund publizistisch aktiv. Havels Werke erschienen nach 1977 im westlichen Ausland und kursierten im eigenen Land. Unter dem Eindruck der politischen Veränderungen in der Sowjetunion und den Ostblockstaaten wurden im Wendeherbst 1989 wesentliche Forderungen der Charta 77 verwirklicht. Die kommunistischen Eliten verschwanden sang- und klanglos auf dem Müllhaufen der Geschichte. Im Dezember 1989 wurde Havel, einer der Wortführer des Bürgerforums, zum Staatspräsidenten der Tschechoslowakei gewählt. Havel war der erste nichtkommunistische Staatschef dieses Landes. Die Charta 77 wurde 1990 aufgelöst.

12. Januar 2017

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