Jenseits der Mauer
Von der ursprünglichen Bemalung der Berliner East-Side-Gallery blieb wenig erhalten, jetzt kamen neue Bilder hinzu





Stefan Roloff kennt seit seiner Jugendzeit die Berliner Mauer und hat sie von westlicher Seite in Fotos und Videoaufnahmen dokumentiert. Seine eindrucksvollen Bilder werden vielen Menschen im Gedächtnis bleiben.





Wandmalereien der ersten Generation blieben an der East-Side-Gallery erhalten oder wurden in den vergangenen Jahren aufgefrischt wie diese Menschenflut, die sich in die Freiheit ergießt, oder das etwas verfremdete Porträt von Michail Gorbatschow.



Manche Bilder und aufgemalten Sprüche laden zum Nachdenken ein, andere Flächen haben eine banale Aussage. Da ist es gut, wenn auf der Mauerseite zur Spree aufgeklärt wird, was sich hier zwischen 1961 und 1989 abgespielt hat.



Obwohl überall solche Tafeln um Vorsicht und Respekt bitten, scheren sich manche Besucher wenig um den Ort, an dem schreckliche Verbrechen begangen wurden. Sie wissen auch zu wenig um seine Geschichte. (Fotos: Caspar)

Sechsundfünfzig Jahre nach ihrem Bau ist von der Berliner Mauer, dem berüchtigten Monument der deutschen Teilung, kaum etwas noch zu sehen. Diese Behauptung stimmt nicht ganz. Denn da und dort erinnern in der Hauptstadt auch heute Betonteile und Türme, ausrangierte Elektrokästen und andere Hinterlassenschaften an den Mauerbau 13. August 1961 und danach errichteten Sperrzaun und seine tödlichen Folgen. Die längste Hinterlassenschaft dieser Art ist die nach 1989/90 immer wieder mit neuen Bildern bemalte East-Side-Gallery an der Mühlenstraße zwischen Ostbahnhof und Oberbaumbrücke im Bezirk Friedrichshain. Vor den bunt bemalten, mit Graffiti übersäten Segmenten der 1,3 Kilometer langen Betonwand bauen sich Touristen für Fotos auf. Ganze Busladungen und viele einzelne Besucher kommen, um sich die bizarre Hinterlassenschaft des SED-Regimes anzuschauen. Sie steht unter Denkmalschutz und kann daher nicht beseitigt werden, obwohl sie den Blick auf die Spree und das andere Ufer im Bezirk Kreuzberg versperrt.

Trotz der überhasteten Beräumung der ehemaligen Grenzanlage ist überall in Berlin noch immer eine einzigartige Erinnerungslandschaft mit mehr als einhundert authentischen Orten erhalten. An der Spitze stehen 25 unter Schutz gestellte Baulichkeiten wie der Tränenpalast, also die mit vielen trüben Erinnerungen verbundene Übergangsstelle am S-Bahnhof Friedrichstraße, die vergitterten Fenster im Haus der früheren Akademie der Landwirtschaftswissenschaften in der Krausenstraße im Bezirk Mitte, die Kunstfabrik im ehemaligen Grenzstreifen zwischen Kreuzberg und Treptow, der Kontrollpunkt in Dreilinden und natürlich die Gedenkstätte an der Bernauer Straße sowie die von "Mauerspechten" zerhackten Betonreste an der Niederkirchnerstraße.

Schicksale von Flüchtlingen und Regimegegnern

Seit wenigen Tagen kann man auf der dem Westen und zur Spree gewandten Seite die Kunstinstallation "Beyond the Wall/Jenseits der Mauer" des Berliner Künstlers Stefan Roloff betrachten. Die auf den Beton montierten Bilder entlang der Mühlenstraße bestehen aus großformatigen Schwarz-Weiß-Silhouetten von Opfern des DDR-Regimes und Tafeln mit ihren Aussagen über das, was ihnen Stasi und Justiz angetan haben, kombiniert mit farbigen Momentaufnahmen von Filmen, die Roloff 1984 vom Treiben der Grenztruppen der DDR angefertigt hat. Diese leicht verfremdeten Videostills vom ehemaligen Grenzgebiet, die Berichte in weißer Schrift auf schwarzem Grund sowie die Silhouetten und kurze Zitate wurden von dem in Westberlin aufgewachsenen Künstler zu Triptychen vereint. Die 229 Meter lange Wand gewährt auf bewegender Weise einen Blick auf die streng gesicherte militärische Zone und auf die Schicksale derer, die dem Regime widerstanden und die Mauer zu überwinden versuchten.

Stefan Roloff, ein bekannter Pionier digitaler Foto- und Videokunst, befasst sich schon als Jugendlicher mit dem Thema Mauer. 1984 filmte er auf Westberliner Seite die DDR-Grenze und drehte nach dem Mauerfall am 9. November 1989 Videoporträts von Zeitzeugen. Zitate aus diesen Gesprächen sind Bestandteile der Installation, mit der der Autor nach eigenem Bekunden zeigen will, was es heißt, Mauern zu bauen sowie Menschen voneinander abzugrenzen und gegeneinander aufzuhetzen und einzusperren. "Ich sehe die Mauer als zeitloses Symbol von Angst, Feindschaft und Rassismus." Die von US-Präsident Donald Trump geforderte Abschottung seines Landes gegenüber Mexiko beweise, dass Mauern zwar abgebaut, an anderer Stelle aber mit gleichem Ziel wieder errichtet werden. Roloff empfindet es als einen leisen Triumph, dass man auf solch einer Mauer wie hier in Berlin eine Ausstellung plakatieren kann, die sich um dieses Thema dreht. Die Installation entstand als Zusammenarbeit des Vereins "Kunst darf alles" mit der Kulturprojekte Berlin GmbH. Beteiligt an der Freiluftausstellung mit deutscher, englischer und französischer Beschriftung sind ferner die Bundeszentrale für politische Bildung, die Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa, die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg.

Wiedersehen mit dem Vernehmer

Wer die Texte liest, bekommt erschreckende Einsichten in die Art und Weise, wie die Stasi und Polizei in der DDR mit so genannten Feinden und Republikflüchtlingen umgegangen sind und wie die Opfer ihre traumatischen Erlebnisse verarbeitet haben. Im Katalog zur Ausstellung, den man in einem Kiosk an der East-Side-Gallery für 15 Euro bekommt, kann man die Texte und weitere Informationen nachlesen. So berichtet Mario R., wie er einige Jahre nach dem Ende der SED- und Stasiherrschaft durch Zufall seinem ehemaligen, offenbar gut situierten Verhöroffizier begegnet. Er hatte aus ihm, dem Häftling in Zelle 328 im Stasigefängnis Hohenschönhausen, durch perfide Drohungen Informationen darüber abpressen wollte, wer seine Komplicen bei einem Fluchtversuch sind, und ihm einzureden versucht, dass er den Weltfrieden verraten hat und einen Atomkrieg provozieren wollte. Der Mann weigerte sich vehement, nur ein Wort des Bedauerns zu sagen. Das deckt sich mit anderen Beobachtungen, denn auch heute sind ehemalige Stasileute und Funktionäre der Meinung, niemand hätte die DDR verlassen und deren Gesetze brechen müssen, und wer das getan hat, musste sich auf drastische Strafen einstellen.

Alexander A. erzählt, wie er als junger Bursche mit Freunden in Potsdam "staatsfeindliche" Flugblätter mit Friedengedichten bekannter Autoren gedruckt hat und dabei erwischt wurde. Die Gruppe wollte gegen die Atomaufrüstung in Ost und West protestieren, und das reichte schon für eine Verurteilung zu 14 Monaten Haft. Als die Gefangenen zum Duschen geführt wurden, schoss dem jungen Mann durch den Kopf, dass von oben hoffentlich Wasser und kein Gas strömt. Die Gefangenen mussten Zwangsarbeit ohne jeden Arbeitsschutz leisten, und wenn jemand die Norm nicht erfüllte, wurde er wegen angeblicher Sabotage zusätzlich bei Wasser und Brot in eine Dunkelzelle gesteckt. Höhnisch sagte der Schließer, dass die Häftlinge für den Westen schuften müssen, und zeigte auf Kartons mit der Aufschrift IKEA.

Ulrike P. berichtet auf einer weiteren Tafel, wie sie sich mit Freundinnen in der Gruppe "Frauen für den Frieden" engagiert hat und ins Visier der Stasi geriet. Für diesen "Landesverrat" konnte man zwischen zwei und zwölf Jahre Knast bekommen, doch da der Fall internationales Aufsehen erregte, kam es nicht dazu. Dafür aber wurde die Familie rund um die Uhr überwacht. Per "Wanzen" konnte die Stasi jedes Wort, jedes Abwaschgeräusch mithören. Als der Spuk vorbei war, las Ulrike P. in der Zeitung, dass alle elektronischen Geräte abgeschaltet sind. "Da hatte ich plötzlich ein totales Befreiungsgefühl."

Spektakuläre Mal- und Sprühaktion

Bald nach dem Fall der Mauer am 9. November 1989 war die östliche Seite der Betonwand Schauplatz einer spektakulären Mal- und Sprühaktion. Zahlreiche wirkliche und Möchtegern-Künstler versahen die Segmente mit Bildern, von denen viele Bau und Fall der Mauer illustrieren, aber auch spektakuläre Fotos wie den Bruderkuss des sowjetischen Staats- und Parteichefs Leonid Breshnew und seines ostdeutschen Kollegen Erich Honecker adaptieren. Honecker wurde höchstpersönlich als feudaler Herrscher mit Königsmantel und Federhut dargestellt. Das Bild lehnt sich an eine Vorlage aus der Zeit vor der französischen Revolution an. Sie zeigt den König Ludwig XVI. mit stolzgeschwellter Brust, einen Monarchen, der 1793 unter der Guillotine seinen Kopf verlor. Damit musste Honecker bei seinem vorzeitig beendeten Prozess nicht rechnen. Aber den Absturz, den er aus wolkiger Höhe Amtes erlitt, war, wie er nicht tiefer sein konnte.

Bereits in DDR-Zeiten war die heutige East-Side-Gallery ein öffentlicher Ort. Im Unterschied zu anderen Abschnitten der Mauer war die östliche Seite der Grenzanlagen für jedermann sichtbar. Die vierspurig gebaute Mühlenstraße diente gelegentlich als "Protokollstrecke", auf der auch Kolonnen mit Staatsbesuchern zwischen dem Flughafen Schönefeld und der Innenstadt hin- und herfuhren. Daher wurde die so genannte Hinterlandsicherungsmauer als "Grenzmauer 75" ausgeführt, bestehend aus L-förmigen Fertigteilen, die man oben mit aufgeschlitzten Abwasserrohren als Übersteigschutz bekrönte. Zurückhaltend grau gestrichen, diente der Betonwall der Unterbindung von Fluchtversuchen, aber auch als Sichtblende, die die eigentlichen Grenzbefestigungen dahinter verbergen und verharmlosen sollte.

In den vergangenen Jahren gab es große Anstrengungen, die Bilder der zu den vielbesuchten Berliner Sehenswürdigkeiten gehörenden East-Side-Gallery zu sichern und vor den Unbilden der Witterung zu schützen. Leider geschah das mit mäßigem Erfolg, denn viele dieser zum Teil recht witzigen Malereien der ersten Generation sind stark abgewittert oder existieren nicht mehr. Außerdem wurden die nach dem Mauerfall am 9. November 1989 bemalten Segmente, die kein Dach haben, neu überstrichen, so dass man nur noch in der Literatur zum Thema "Berliner Mauer" Aufnahmen von ihrem ursprünglichen Aussehen betrachten kann.

Um den Wissensstand über die Mauer in und um Berlin zu verbessern, hat die für den Denkmalschutz zuständige Senatsverwaltung für Stadtentwicklung alles, was heute an die Mauer erinnert, unter der Adresse www.stadtentwicklung.berlin.de ins Internet gestellt. Die Dokumentation erläutert anhand von Bildern, Karten und kurzen Beschreibungen Aufbau, Entwicklung und Verlauf der ehemals 43 Kilometer langen Grenzanlage quer durch Berlin und um die Stadt und zeigt, nach Stadtbezirken gegliedert, die genaue Lage der noch vorhandenen Relikte. Selbstverständlich ist auch die East-Side-Gallery auf der Internetseite vermerkt. Im Übrigen ergeben Umfragen vor Ort, dass vor allem junge Deutsche weder etwas mit den "Mauerbauern" Ulbricht und Honecker noch mit dem drakonischen Grenzregime und dem Terror der Stasi und der DDR-Justiz anfangen können, was kein gutes Licht vor allem auf unsere Schulen wirft. Wenn die Stefan Roloffs Installation hilft, dieses Manko zu beseitigen, wäre viel gewonnen.

15. August 2017

Zurück zur Themenübersicht "Geschichte, Zeitgeschichte, Ausstellungen"