Honecker erhob in Gera unerfüllbare Forderungen
Zentrale Erfassungsstelle in Salzgitter blieb bis 1992 bestehen, und eine Aufwertung der Ständigen Vertretungen fand auch nicht statt



Erich Honecker erhob am 13. Oktober 1981 in der thüringischen Bezirksstadt Gera gegenüber der Bundesrepublik Deutschland Forderungen, die diese nie und nimmer zu erfüllen gedachte. Nach den so genannten Geraer Forderungen sollten die Elbgrenze zwischen der DDR und der Bundesrepublik in der Mitte des Stroms festgestellt, die der DDR-Führung besonders verhasste Zentrale Erfassungsstelle der Länderjustizverwaltungen für Gewaltverbrechen in Salzgitter aufgelöst, die DDR-Staatsbürgerschaft von der Bundesrepublik anerkannt und die Ständigen Vertretungen in Ostberlin und in Bonn in den Rang von Botschaften erhoben werden. Die SED- und Staatsführung sah in der Zentralen Erfassungsstelle ein Relikt aus dem Kalten Krieg, bezichtigte sie der Einmischung in innere Angelegenheiten der DDR und forderte kategorisch die Abschaffung der als revanchistische Errichtung der Bonner Ultras diffamierten Behörde.

Die Erfassungsstelle (ZESt) wurde am 24. November 1961, wenige Wochen nach dem Bau der Mauer, eingerichtet, um Informationen über die politische Verfolgung sowie Tötungshandlungen und andere Vorkommnisse an der innerdeutschen Grenze und der Berliner Mauer zu sammeln und auf ihrer Grundlage Untersuchungen und Gerichtsverfahren gegen die Täter und ihre Hintermänner durchzuführen. Die Mitarbeiter der von der Bundesregierung und den Ländern finanzierten Erfassungsstelle in der niedersächsischen Stadt Salzgitter stützen sich auf Beobachtungen an der Grenze, Aussagen von Flüchtlingen und ihren Angehörigen sowie Informationen von Überläufern und freigelassenen DDR-Gefangenen. Bei Bewerbern für den öffentlichen Dienst, die aus der DDR auf welchem Weg auch immer in die Bundesrepublik gelangt waren, erteilte die Erfassungsstelle Auskünfte darüber, ob diese eine Straftat in der DDR begangen haben, sofern man das ermitteln konnte, und welches Urteil gesprochen wurde.

Mit der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 stellte die Erfassungsstelle ihre Arbeit ein. Jetzt übernahmen die Verfolgungsbehörden in den neuen Bundesländern die Verfolgung der Straftaten. In den Mauerschützenprozessen spielten die in Salzgitter gesammelten Unterlagen eine große Rolle. Allerdings wurden nur ganz wenige Todesschützen gerichtlich belangt, die politischen Drahtzieher kamen, wenn überhaupt, mit geringen Gefängnisstrafen davon. Die Zentrale Erfassungsstelle wurde 1992 geschlossen. Bis dahin wurden über 42 000 Gewaltakte in der DDR registriert. Die Akten der Behörde lagerten bis 2007 beim Oberlandesgericht Braunschweig und befinden sich seither im Bundesarchiv in Koblenz. Damit die ZESt und ihre Tätigkeit nicht in Vergessenheit geraten, hat die Stadt Salzgitter vor dem Gebäude, in dem sie tätig war, eine Gedenkstätte errichtet. Sie wurde am 9. November 2009, dem 20. Jahrestag des Mauerfalls, errichtet. Sie besteht aus einem Teilstück der ehemaligen Berliner Mauer und ist mit einer Schriftplatte aus Bronze versehen. Links und rechts informieren Bild-Schrifttafeln über den Verlauf der innerdeutschen Grenze sowie über die Arbeit der Behörde.

Die Initiative des SED- und Staatschefs war nur ein verbales Muskelspiel, ein Versuchsballon, um die Stimmung auf der anderen Seite zu testen und gegenüber dem Westen Stärke zu demonstrieren. Sein Vorstoß wurde von der Bundesregierung unter Helmut Schmidt und einem Teil der bundesdeutschen Öffentlichkeit entrüstet zurückgewiesen, in linken Kreisen und von Pazifisten hingegen durchaus als überlegenswert kommentiert. Auf einem Treffen mit Bundeskanzler Schmidt im Dezember 1980 auf Schloss Hubertusstock am Werbellinsee brachte Honecker noch einmal den Wunsch für die Erfüllung der Geraer Forderungen zum Ausdruck, doch kam er damit nicht durch. Alsbald war von dem zunächst von der DDR-Propaganda mit viel Geschrei herausposaunten Forderungspaket nicht mehr die Rede

Rückblickend stellte Bundeskanzler Helmut Kohl fest, für ihn sei es nicht in Frage gekommen, die DDR-Staatsbürgerschaft anzuerkennen, die Zentrale Erfassungsstelle in Salzgitter aufzulösen, die Ständigen Vertretungen in Botschaften umzuwandeln und damit normale völkerrechtliche Beziehungen zwischen DDR und Bundesrepublik aufzunehmen, die Mitte der Elbe als Staatsgrenze zwischen DDR und Bundesrepublik anzuerkennen oder den "Missbrauch der Transitwege" zu unterbinden, wie es Honecker gewünscht hatte. "Es war und ist beschämend, dass große Teile der deutschen Sozialdemokratie am liebsten gleich alle diese Forderungen von Erich Honecker erfüllt hätten. Zumindest bei einigen Forderungen wurden unter anderem auch Gerhard Schröder - der damalige SPD-Bundestagsabgeordnete sollte später mein Nachfolger im Bundeskanzleramt werden - und der NRW-Ministerpräsident und spätere Bundespräsident Johannes Rau schwach und kamen dem SED-Regime aus ihrem Opportunismus heraus sehr entgegen. CDU und CSU dagegen lehnten Honeckers gesamten Forderungskatalog kategorisch ab." Die SED-Spitze habe also sehr genau gewusst, was von dem neuen Bundeskanzler zu erwarten war, woran sie mit ihm, Kohl, war und auf welchen Gebieten die größten Chancen bestanden, Fortschritte in den bilateralen Beziehungen zu erreichen. "Es war natürlich grober Unsinn, mir zu unterstellen, ich hätte die Absicht, eine ,Eiszeit' in den innerdeutschen Beziehungen eintreten zu lassen. Gleich zu Beginn meiner Kanzlerschaft (1. Oktober 1982, H. C.) legte ich Wert auf den direkten persönlichen Kontakt zu Erich Honecker. Die Telefondiplomatie, wie ich sie auf vielen Gebieten praktizierte, war auch in der Deutschlandpolitik ein probates Mittel der Politik. Es war immer besser, miteinander zu sprechen, als Briefe zu schreiben und Schriftstücke auszutauschen."

4. August 2017

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