Gründerboom und Gründerkrach
Französische Kontributionszahlungen nach dem Krieg von 1870/71 kurbelten Wirtschaft im neuen Deutschen Reich an



Die Proklamation des preußischen Königs Wilhelm I. zum deutschen Kaiser am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles wurde von Anton von Werner gemalt und durch solche Holzstiche popularisiert.



Die Postkarte aus der Zeit nach der Reichsgründung schildert die hohen Erwartungen in die Mark, die per Gesetz zur neuen Gemeinschaftswährung erhoben wurde.



Reges Treiben herrscht in der prachtvoll ausgestalteten Berliner Börse, in der das Herz des deutschen Wirtschaftslebens schlug.



Heinrich Zille schilderte mit seinen Bildern auf drastische Weise, wie es denen geht, die nicht auf der Sonnenseite leben und nicht zu den Profiteuren des Wirtschaftsaufschwungs im Deutschen Reich gehören.



Die Dresdner Bank und andere große Geldhäuser haben sich in der Reichshauptstadt Berlin mit solchen Prunkbauten etabliert.



Vom Anhalter Bahnhof, vor dem ein Mann Zeitungen verkauft, ein berittener Polizist auf Ruhe und Ordnung achtet und eine Pferdebahn vorbei fährt, sind nur ein paar Figuren und die Eingangsfront übrig geblieben. (Repros: Caspar)

Nach dem Deutschen Krieg von 1866, den Preußen und seine Verbündeten gegen Österreich und dessen Bundesgenossen führte, war es nur noch eine Frage der Zeit, dass sich die deutschen Bundesfürsten und Freien Städte zur Reichseinigung unter preußischer Oberhoheit entschlossen. Der siegreiche Krieg gegen Frankreich von 1870/71 gab den letzten Stoß in dieser Richtung. Die so genannte kleindeutsche Lösung umfasste die Reichseinigung ohne den habsburgischen Vielvölkerstaat. Durch den Vertrag von Versailles, der nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg 1919 unterzeichnet wurde, war es dem Deutschen Reich und Österreich verboten, sich zu vereinigen und ein Großdeutsches Reich zu bilden. Das gelang dem deutschen Diktator Adolf Hitler erst im Jahr 1938!

Nur widerwillig nahm am 18. Januar 1871 in Versailles Preußens König Wilhelm I. den deutschen Kaisertitel an. Sein Ministerpräsident, der spätere Reichskanzler Otto von Bismarck, wandte alle Überredungskünste an, um dem alten Herrn die Rangerhöhung schmackhaft zu machen. Der preußische König zeigte wenig Lust, sich als Kaiser an die Spitze des neuen Deutschen Reiches zu stellen. Der Titel erschien ihm überflüssig, denn in seinen Augen hatte die Würde des Königs von Preußen mehr Glanz als die deutsche Kaiserkrone, die nur eine Fiktion war und nur auf Fahnen, Siegeln, Münzen. Medaillen und Denkmälern dargestellt wurde, aber niemals bei einer Krönung und zu an deren Zeremonien zum Einsatz kam.

Proklamation im Schloss von Versailles

König Wilhelm I. fügte sich Bismarcks Wünschen und wurde am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles zum deutschen Kaiser ausgerufen. Streit gab es um den Titel, den das neue Reichsoberhaupt tragen sollte. Wilhelm I. gefiel die von Bismarck vorgeschlagene Formulierung "Kaiser der Deutschen" (analog zum Kaiser der Franzosen) nicht, eingebürgert hat sich "Deutscher Kaiser". Bei der Proklamation im Spiegelsaal des Versailler Schlosses wurde ein Hoch auf "Kaiser Wilhelm" ausgesprochen, womit der König von Preußen und alle anderen Beteiligten gut leben konnten.

Das im Krieg von 1870/71 unterlegene Frankreich musste im Frieden von Frankfurt am Main nicht nur der Abtretung von Elsaß-Lothringen an das Deutsche Reich zustimmen, sondern wurde auch zur Zahlung von Kontributionen in Höhe von fünf Milliarden Francs verpflichtet. Die Reparationsleistungen setzten sich aus Warenlieferungen sowie Überweisungen in Form von Bargeld, Goldbarren und Wechseln zusammen. Der Edelmetallzufluss ermöglichte es dem Kaiserreich, eine umfangreiche Goldmünzenproduktion aufzulegen und im Juliusturm der Spandauer Zitadelle für den Fall der Mobilmachung einen Reichskriegsschatz im Wert von 120 Millionen Mark anzulegen.

Überall im neuen Deutschen Reich entstanden Fabriken, Aktiengesellschaften und Banken, doch viele Unternehmen brachen schon bald beim Gründerkrach wieder zusammen. Vor allem profitierte die Reichshauptstadt Berlin von dem Wirtschaftsboom. Zehntausende Zuzügler vor allem aus den östlichen Provinzen suchten und fanden hier Arbeit. Sie brauchten Wohnungen, Schulen und Sozialeinrichtungen, mussten sich ernähren und kleiden. So entstanden die berüchtigten Mietskasernenviertel, aber auch Markthallen und Kaufhäuser sowie verzweigte Rohr- und Kanalisationssysteme zur Versorgung der Stadt mit Wasser und Gas und zur Entsorgung der Abwasser und Abfälle. Die französischen Kontributionen wurden für öffentliche Bauten wie Festungen, Kasernen und andere Militärstandorte, aber auch für die Modernisierung der Infrastruktur und der Verkehrswege verwendet. Berlin machte sich auf den Weg, eine moderne Großstadt zu werden, und andere Städte und Regionen zogen nach.

Dahlem, das deutsche Oxford

Nach der Reichseinigung schlug die Stunde der großen Banken, die dem Staat bedeutende Summen liehen, denn die französischen Kontributionen reichten für die Modernisierung des Landes und seine Ertüchtigung für die Aufgaben des 20. Jahrhunderts nicht aus. Vertreter der Hochfinanz bekamen direkten Zugang zum Herrscherhaus und saßen als Abgeordnete sowohl im Reichstag als auch im Preußischen Landtag, waren also an der Gesetzgebung beteiligt. Kaiser Wilhelm II. holte Bankiers und Wirtschaftskapitäne in die Regierung, pflegte freundschaftlichen Umgang mit Fabrikanten, Reedern und Großagrariern und verschaffte ihnen lukrative Aufträge. Politik und Wirtschaft, Krone und Kapital, Kirche und Militär waren in der Kaiserzeit untrennbar verwoben. Um dem Reichsoberhaupt und der Regierung nahe zu sein, verlegten Bankiers und Wirtschaftsbosse ihre Wohn- und Firmensitze nach Berlin. Die Behrenstraße zwischen Stadtschloss und den an der Wilhelmstraße gelegenen Reichsministerien entwickelte sich zu einem exzellenten Bankenplatz.

Einer der größten Finanzmagnaten war der Kaiser selbst, Besitzer eines dreistelligen Millionenvermögens sowie von ausgedehnten Ländereien, von Dutzenden Schlössern und hochkarätigen Kunstsammlungen. Der Monarch betätigte sich, ganz preußischer Tradition verpflichtet, als Mäzen, unterstützte kulturelle und wissenschaftliche Projekte zum Teil aus der eigenen Tasche, schickte Archäologen in ferne Länder und glänzte als Stifter der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft als wichtiges Gremium für die naturwissenschaftliche Forschung. In dieser Zeit erlebte der Zehlendorfer Ortsteil Dahlem nicht nur als Wohnort des Berliner Geburts- und Geldadels einen Höhenflug ohnegleichen, sondern auch als Standort wissenschaftlicher Institute. Das verschaffte Dahlem den Ehrennamen "Deutsches Oxford". Noch heute stößt man hier überall auf Ausbildungs- und Forschungsinstitute der Freien Universität, der Max-Planck-Gesellschaft als Nachfolgerin der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft sowie auf Museen und Sammlungen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Das gerade in der Kubatur des 1950 abgerissenen Stadtschlosses entstehende Humboldtforum wird ab 2018/9 die bisher in Dahlem untergebrachten außereuropäischen Sammlungen der Preußenstiftung präsentieren und damit einen Kontrapunkt für die europäischen und archäologischen Museen auf der gegenüber liegenden Museumsinsel bilden.

Die einen sind im Dunkeln, die andern sind im Licht

Von dem Gründerboom profitierte der Berliner Westen, vor allem der Kurfürstendamm und seine Umgebung. Angelegt in nachmittelalterlicher Zeit als unbefestigte Verbindung zwischen der kurfürstlichen Residenzstadt, dem Tiergarten und - ganz weit draußen - dem Jagdschloss Grunewald, hat sich der Kudamm, wie die Berliner sagen, im Laufe der Jahrhunderte zu einem herausragenden Wohn- und Gewerbestandort und einer international bekannten Sehenswürdigkeit entwickelt. Die repräsentative Bebauung stammt aus der Kaiserzeit, als sich hier ein von wohlhabenden Berlinern bevorzugtes Wohn-, Geschäfts- und Einkaufsgebiet entwickelte. Berühmt wurde die Straße durch das von Hildegard Knef gesungene Lied "Ich hab so Heimweh nach dem Kurfürstendamm" sowie durch die Klatschtanten vom Kabarett "Die Insulaner" des Senders RIAS, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg "mitten auf dem Kurfürstendamm" trafen, um über Politik und Politiker sowie Skandale, Stars und Sternchen herzuziehen.

Gegen den gründerzeitlichen Prunk, der trotz der Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs nicht ganz verschwunden ist, kontrastierten die Mietskasernenviertel, in denen Arbeiter und kleine Angestellte auf engstem Raum zusammengepfercht waren. Die miserablen Lebensbedingungen riefen zwar Sozialämter, Kirchen, Parteien und Vereine auf den Plan, geändert haben aber ihre Hilfsmaßnahmen an den Zuständen grundsätzlich aber nichts. Bertolt Brecht hat die Situation in der Ballade von Mackie Messer in der Dreigroschenoper so beschrieben: "Denn die einen sind im Dunkeln / Und die andern sind im Licht. / Und man siehet die im Lichte / Die im Dunkeln sieht man nicht."

Verschwundener Prunk und Protz

Berlin besaß in der Kaiserzeit eine gute Verkehrsanbindung ins Reich hinein und ins Ausland sowie repräsentative Bahnhöfe. Die meisten dieser prunkvoll, ja protzig gestalteten Bauten gingen im Zweiten Weltkrieg unter oder wurden danach so umgestaltet, dass von ihrer ursprünglichen Gestalt kaum noch etwas zu erkennen ist. In ein Museum der modernen Kunst umgewandelt wurde vor einigen Jahrzehnten der Hamburger Bahnhof, und vom Anhalter Bahnhof sind nur ein paar Schmucksteine und Skulpturen im Deutschen Technikmuseum erhalten. Mit der Eisenbahn zu fahren, wurde nach und nach auch für einfache Leute erschwinglich, und rund um die Bahnhöfe entwickelte sich eine bemerkenswerte Hotel-, Gastronomie- und Einkaufsszene mit all ihren Licht- und Schattenseiten. Speziell für Auswanderer vor allem aus Osteuropa wurde in Ruhleben ein Bahnhof gebaut.

16. Mai 2017



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