"Vorwärts immer, rückwärts nimmer"
Von Honecker und Genossen bis zum Überdruss zitierte Politparolen wurden vom "Volk der DDR" absichtlich falsch verstanden



Bei der Kommunalwahl am 7. Mai 1989 glaubten Erich Honecker und seine Frau, die allmächtige Volksbildungsministerin Margot Honecker, noch fest im Sattel zu sitzen. Ein paar Monate später war die Clique weg vom Fenster.



Der Porzellanteller mit dem jugendlich wirkenden Honecker ist im Deutschen Historischen Museum Unter den Linden in Berlin ausgestellt. Der mächtigste Mann ließ sich, Aussagen von Fotografen zufolge, niemals von hinten und von oben fotografieren, weil er nicht wollte, dass man sein schütteres Haar sieht.



Das große, einige Millionen Ost- und Westmark verschlingende Hobby des Erich Honecker und einiger seiner Vertrauten war die Jagd, die hier auf der West-Karikatur spöttisch aufs Korn genommen wird.



Eine fingierte Zeitungsseite von 1979 im Stil des NEUEN DEUTSCHLAND schildert die Flucht des Ehepaars Honecker in den Westen. Zehn Jahre später brauchten die beiden den Ballon nicht, da konnte das ganze Volk unbehelligt die Grenzen passieren.



Auf einer großen Demonstration am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz war Egon Krenz, der am 18. Oktober 1989 Honeckers Nachfolge angetreten hatte, als Wolf im Schafspelz und als Hochstapler karikiert. (Foto/Repros: Caspar)

Erich Honecker, seines Zeichens SED-Chef und Staatsratsvorsitzender der DDR, war ein zitierfreudiger Mann. Er hatte immer einen sinnigen Spruch parat, und so würzte er auch seine Festansprache zum 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober 1989 mit einem solchen. Als er im Palast der Republik seine Rede, eher einen langweiligen Vortrag, hielt, schlugen draußen Mielkes Leute die Demonstranten zusammen und brachten sie ins Gefängnis. Das muss dem nur noch für wenige Tage mächtigsten Politiker des zweiten deutschen Staats bewusst gewesen sein, als er seinen Zuhörern mit seinem sowjetischen Ehrengast Michail Gorbatschow an der Spitze die DDR in den rosigsten Farben malte und sie als "zu den zehn leistungsfähigsten Industrienationen der Welt" gehörig beschrieb, als eines weltweit von den knapp zwei Dutzend Ländern mit dem höchsten Lebensstandard. Laut Honecker sei der der Wohlstand hierzulande weder aus der Erde gesprudelt noch auf Kosten anderer erreicht worden. "Die DDR ist das Werk von Millionen, von mehreren Generationen, die in harter Arbeit ihren Arbeiter- und Bauern-Staat aufgebaut haben." Die DDR sei ein Staat mit moderner Industrie und Landwirtschaft, mit einem sozialistischen Bildungswesen, mit aufblühender Wissenschaft und Kultur. Schließlich sei sie, rief der Partei- und Staatschef unter anhaltendem, starken Beifall, wie das Protokoll vermerkte, eine Weltnation im Sport. Er vergaß zu sagen, dass dieser Höchststand vielfach nur durch Doping erreicht wurde. Das alles kam erst lange nach seinem schimpflichen Abgang von der politischen Bühne ans Tageslicht und beschäftigt bis heute die Gerichte.

Nichts wurde uns geschenkt

"Mit unseren Händen und Köpfen haben wir das zuwege gebracht, unter Führung der Partei der Arbeiterklasse. Nichts, aber auch gar nichts wurde uns geschenkt oder ist uns in den Schoß gefallen. Zudem waren hier nicht nur mehr Trümmer wegzuräumen als westlich der Elbe und Werra, sondern auch noch die Steine, die uns von dort in den Weg gelegt wurden. Heute ist die DDR ein Vorposten des Friedens und des Sozialismus in Europa. Dies zu keiner Zeit zu verkennen, bewahrt uns, sollte aber auch unsere Feinde vor Fehleinschätzungen bewahren", so Honecker. Der mit versteinertem Gesicht neben ihm sitzende Michail Gorbatschow wird gewusst haben, dass durch die sowjetischen Demontagen nach dem Zweiten Weltkrieg der Wiederaufbau in Ostdeutschland schwer behindert wurde und die Sowjetunion die Wirtschaft der DDR durch schamlose Knebelverträge ausbluten ließ. Dass überall und bis zum Überdruss die deutsch-sowjetische Freundschaft beschworen wurde, änderte nichts an der Ungleichheit zwischen beiden "Bruderländern".

Gerade zu einer Zeit, da einflussreiche Kräfte der BRD die Chance wittern, die Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges und der Nachkriegsentwicklung durch einen Coup zu beseitigen, fuhr der SED- und Staatschef fort, bleibe ihnen nur erneut die Erfahrung, dass an diesen Realitäten nichts zu ändern ist, dass sich die DDR an der Westgrenze der sozialistischen Länder in Europa als Wellenbrecher gegen Neonazismus und Chauvinismus bewährt. An der festen Verankerung der DDR im Warschauer Pakt sei nicht zu rütteln. Mit Blick nach Bonn, in die damalige Bundeshauptstadt, behauptete Honecker, in 40 Jahren DDR summiere sich zugleich die vierzigjährige Niederlage des deutschen Imperialismus und Militarismus. 40 Jahre DDR seien 40 Jahre heroische Arbeit, 40 Jahre erfolgreicher Kampf für den Aufstieg unserer sozialistischen Republik, für das Wohl des Volkes gewesen. "Wir werden auch weiterhin im Sinne der Erkenntnis von Karl Marx handeln, dass es darauf ankommt, die Welt nicht nur zu interpretieren, sondern sie zu verändern. Wir werden unsere Republik in der Gemeinschaft der sozialistischen Länder, durch unsere Politik der Kontinuität und Erneuerung auch künftig in den Farben der DDR verändern. Die Ziele sind im Programm unserer Partei niedergelegt. Es geht um die weitere Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft."

Arbeite mit, plane mit, regiere mit

Honecker unterstrich in verklausulierter Form die Abgrenzung gegenüber den Vorgängen in der Sowjetunion. Die dort von Gorbatschow praktizierte Politik von Glasnost und Perestroika war ihm, dem Oberstalinisten der DDR, ausgesprochen suspekt. Sie hatte seinen Ideologie-Sekretär Kurt Hager zu seinem fatalen Tapeten-Vergleich veranlasst, demzufolge man nicht seine Wohnung neu tapezieren muss, wenn es der Nachbar tut. Stürmischer Beifall brandete auf, als sich Honecker mit Blick auf kommende Aufgaben zu diesen Worten verstieg: "Selbstverständlich ist dies kein Vorhaben, das binnen kurzer Zeit und nach fertigen Rezepten, ohne unablässige Suche nach den jeweils zweckmäßigsten Lösungen zu bewältigen wäre. Es handelt sich vielmehr um einen historischen, einen langfristigen Prozess tiefgreifender Wandlungen und Reformen in allen Bereichen. Dadurch erlangt der Sozialismus, als reale Alternative zum Kapitalismus eine ständig höhere Stufe, wirken seine Vorzüge umso nachhaltiger auf das Leben der Menschen. Sie selbst sind, bei aktiver Beteiligung an allen gesellschaftlichen Belangen nach unserem Grundsatz ,arbeite mit, plane mit, regiere mit' die Schöpfer ihrer Gegenwart und Zukunft. Soviel steht fest, für uns gilt die in der Gründerzeit der DDR geprägte Losung: Vorwärts immer, rückwärts nimmer." Viele Zuhörer der Geburtstagsrede werden die Parole als eigenständige Schöpfung ihres großen Vorsitzenden beklatscht haben. Vielleicht aber wusste der eine oder die andere, dass Honecker den Satz nur aus dem Sprücheschatz der deutschen Arbeiterbewegung entlehnt hatten. Denn schon hundert Jahre zuvor kursierte er in Arbeiterkreisen, und wer von der Polizei dabei erwischt wurde, wie er ihn öffentlich aussprach, hatte mit Unannehmlichkeiten zu rechnen.

Während es überall in der DDR gärte und Protestierer von der Stasi und Volkspolizei zusammengeprügelt wurden, zog der SED- und Staatschef unverdrossen und bar jeder Kritik an der eigenen Politik eine strahlende Bilanz von 40 Jahren DDR, als er sagte: "Durch die Arbeit des Volkes und für das Volk wurde Großes vollbracht. Auch künftig werden nicht geringe Anstrengungen notwendig sein. Neue Anforderungen verlangen neue Lösungen, und wir werden auf jede Frage eine Antwort finden. Wir werden sie gemeinsam mit dem Volk finden für unser Voranschreiten auf dem Weg des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik." Fast auf den Tag ein Monat nach dieser Rede fiel die Berliner Mauer, von der Honecker zu allgemeiner Empörung noch Anfang 1989 behauptet hatte, sie werde noch hundert Jahre stehen.

Der doppelte Honecker

Am 14. August 1989 hatte der gesundheitlich angeschlagene Honecker sich und seinen Leuten bei einem Besuch des Erfurter Mikroelektronikwerks "Karl Marx" anlässlich der Vorstellung des neuen 32-bit-Speicherchips Mut gemacht, als er sagte "Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf". Sie wird zwar August Bebel zugeschrieben, aber das ist nicht nachzuweisen, war aber als geflügeltes Wort in der Berliner Sozialdemokratie populär. Honeckers Untertanen freilich sahen in dem Ausspruch zu einer Zeit, da die DDR sich bereits in Agonie befand, einen weiteren Grund, am geistigen Zustand des Mannes an der Spitze der Einheitspartei und DDR zu zweifeln. Hüben und drüben machte man seine Witze. Im Westen erschien eine Karikatur, auf der Honecker in einem Karren auf vier Rädern in voller Fahrt dem Abgrund entgegen rast, während Ochs und Esel belustigt zuschauen. Wen der mächtigste Mann der DDR mit den Vierbeinern meinte, ist nicht klar, gewiss wird er neben dem "Klassenfeind" auch die eigenen Untertanen im Auge gehabt haben, die sich seinem Regime verweigern und in Scharen die Republik verlassen.

In unseren Kinos läuft gerade die Politkomödie "Vorwärts immer" in der Regie von Franziska Maletzky. Schauspieler proben ein gerade ein Theaterstück mit diesem Titel. Dabei erklärt der wie sein Vorbild nuschelnde Honecker-Imitator (Jörg Schüttauf) seinem Adlatus Egon Krenz (Alexander Schubert) und Stasiminister Erich Mielke (André Jung), er habe einen Traum gehabt und wolle seinen Bürgern wahre Demokratie sowie Mitwirkung an allen gesellschaftlichen Belangen bescheren und Abschied von Bevormundung und Unterdrückung nehmen. Das geschieht, während in Leipzig die Volksmassen auf die Straße gehen und genau diese Forderungen rufen. Um einen vom echten Honecker erteilten Schießbefehl rückgängig zu machen und seine eigene, in die Messestadt wegen eines falschen, zur Ausreise benötigten Westausweises gereiste Tochter und deren Freunde vor dem Schlimmsten zu bewahren, schlüpft der falsche Honecker in die Rolle des echten, sich gerade auf der Jagd befindlichen Staats- und Parteischefs. Der Falsche spielt im Zentralkomitee den Zimmer und Telefone verwechselnden Trottel. Er bekommt mit, dass Krenz & Co. ihn absetzen wollen. Seine plötzlich aufgetauchte Ehefrau Margot (Hedi Kriegeskotte) kann der nachgemachte Honecker nicht täuschen. Sie macht aber die Komödie im Zentralkomitee und später im Wandlitzer Wohnhaus Nummer 11 (heute Habichtweg 5) mit. Sie kann und will den echten, von der Jagd mit einem vom Auto überfahrenen Hasen in der Hand zurück gekehrten Honecker kaum noch vom Double unterscheiden. Der Schießbefehl wird in allerletzter Sekunde aufgehoben, und am Ende liegen sich die zu allem entschlossenen Stasileute und Polizisten mit den zwischenzeitlich verhafteten Demonstranten in den Armen. Alles wird gut. Schüttauf und die anderen Komödianten bleiben in guter Erinnerung, die Lacher im Kino waren auf ihrer Seite.

Mutige Fotografen mit der Amateurkamera

Der Film ist in einem wichtigen Detail historisch nicht korrekt, denn ein Schießbefehl zur "chinesischen", also blutigen Niederschlagung der Massenproteste in der Messestadt mit bis zu 70 000 Teilnehmern wurde nicht ausgegeben. Davor schreckten die Hardliner in der SED- und Staatsführung denn doch zurück. Wohl aber gab es die brutalen Zusammenstöße und Schlägereien mit den "bewaffneten Organen" sowie als "Zuführung" umschriebene Verhaftungen. Echt waren auch die Ostberliner Fotografen Siegbert Schefke und Aram Radomski, die heimlich aus Dachluken mit einer Amateurvideokamera die Demonstranten und ihren Ruf "Wir sind das Volk" heimlich gefilmt haben. Da es gelang, die Aufnahmen nach Westberlin zu schmuggeln, konnten sie im Deutschen Fernsehen sehr zum Ärger der greisen Männer vom SED-Politbüro ausgestrahlt wurden. Die Bilder und Rufe erreichten auf diesem Weg Millionen Zuschauer und trugen zur Destabilisierung der ohnehin schon maroden DDR bei. Honecker, Krenz, Mielke und Genossen konnten nicht mehr das Märchen von "Einzeltätern" aufrechterhalten Der mit dokumentarischen Fotos und Filmaufnahmen versehenen Fernsehzweiteiler "Deutschlandspiel" aus dem Jahr 2000 stellt die Geschichte der Wiedervereinigung dar und würdigt auch die beiden Fotografen, die ihr Leben und Freiheit aufs Spiel gesetzt haben, um der Welt zu zeigen, was wirklich in Leipzig rund um den 7. Oktober 1989 vor sich geht.

Das "Volk der DDR" war sehr kreativ war, wenn es darum ging, den vom Zentralkomitee vorgeschriebenen Politparolen einen neuen Sinn zu geben. So wurde "Wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben" in "Wie wir heute leben, so werden wir morgen arbeiten" umgedeutet, und es gab auch den hinter vorgehaltener Hand gesprochenen Satz "Wie die Verpflegung, so die Bewegung". Wer tiefer im Sprüchekasten der SED und DDR kramt, wird weitere wenig schmeichelhafte Äußerungen wie "Mein Staat, kein Holz" statt "Mein Staat, mein Stolz" oder "Keine Kohle im Keller, keine Kartoffeln im Sack, es lebe der 30. Jahrestag" finden. Die von Honecker und Genossen gern zitierten Sätze "Arbeite mit, plane mit, regiere mit" und "Vorwärts immer, rückwärts nimmer" wurde von Witzbolden in "Arbeite mit, plane mit, resigniere mit" beziehungsweise "Vorwärts nimmer, rückwärts immer" umgewandelt und fanden in dieser Fassung ganz gewiss nicht den Beifall ihrer Erfinder.

22. Oktober 2017

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