Pajoks und Privilegien
In seinem Buch "Die Revolution entlässt ihre Kinder" beschreibt Wolfgang Leonhard, wie er vom kommunistischen Glauben abfiel



Die englische Karikatur zeigt Hitler und Stalin als verliebtes Brautpaar. Allerdings war das "Glück" der beiden mit Kriegsbeginn am 22. Juni 1941 vorbei.



Als Stalin als Sieger des Zweiten Weltkriegs und als Heer über ein Sechstel der Erde gefeiert wurde, schlug sich der kommunistische Funktionär Wolfgang Leonhard mit Selbstzweifeln herum und plante seine Flucht in den Westen, die im Frühjahr 1949 unter dramatischen Umständen gelang.



Während sich die Berliner und die Ostdeutschen hungrig um Rotarmisten drängten, um ein wenig warmes Essen zu bekommen, ließen es sich "Arbeiter-und-Bauern-Funktionäre" in streng bewachten Villenvierteln und Erholungsheimen gut gehen.



Gelegentlich nahmen Ulbricht (in der Mitte mit Mütze) und Genossen an Aufmärschen teil und taten so, als würden sie zur Masse des Volkes gehören.



Bevor Genossen vom SED-Politbüro in das streng abgeschottete Funktionärssiedlung Pankow umzogen, bewohnten sie enteignete Villen im Pankower Stadtteil Niederschönhausen. Und schon bekam das DDR-Regime im Westen den Kurznamen "Pankow". Das Foto zeigt Ulbricht und dahinter dessen Frau Lotte sowie die Spitzenfunktionäre Willi Stoph und Erich Honecker beim Verlassen des säulengeschmückten Gästehauses der Regierung am Majakowskiring 2.



Wie Stalin, so landete auch sein Vorgänger, der KP-Führer und Begründer des Sowjetstaates Wladimir Iljitsch Lenin, auf dem Müllhaufen der Geschichte - oder wie hier - auf einem Berliner Trödelmarkt. (Foto/Repros: Caspar)

In seiner Autobiographie "Die Revolution entlässt ihre Kinder" blickt der bekannte Historiker und Publizist Wolfgang Leonhard auf sein bewegtes Leben, auf das Leben eines lange Zeit von den Ideen von Marx, Engels, Lenin und Stalin beeindruckten Kommunisten zurück, der in den frühen 1950-er Jahren unter dramatischen Umständen der SED und der DDR den Rücken kehrte. Der Buchtitel wandelt eine Textstelle aus dem Drama "Dantons Tod" von Georg Büchner ab, in der es heißt "Ich weiß wohl, - die Revolution ist wie Saturn, sie frisst ihre eigenen Kinder." Diesem Ausspruch liegen die letzten Worte des französischen Rechtsanwalts und Revolutionärs Pierre Vergniaud kurz vor seiner Hinrichtung Ende 1793 zugrunde. Er appellierte an seine Mitbürger "Es ist zu befürchten, dass die Revolution wie Saturn nach und nach all ihre Kinder verschlingt und am Ende den Despotismus mit all seinem Unheil gebiert." Indem Leonhard diese Schreckensvision zum Motto seiner Erinnerungen machte, schilderte er aus eigenem schmerzvollen Erleben, wie machthungrige und skrupellose Menschen nach und nach gute Vorsätze und Ideen in ihr Gegenteil verkehren und desavouieren. Er selber kehrte, disziplinarische und/oder juristische Maßnahmen gegen sich befürchtend, im März 1949 dem Paradies der Arbeiter und Bauern den Rücken und gelangte mit Hilfe von Freunden in den Westen. Wolfgang Leonhard war von nun an in der DDR eine Unperson, seine Bücher kamen auf den Index. "Die Revolution entlässt ihre Kinder" beginnt und endet mit dieser Flucht.

Der an seiner weißen Mähne auch im hohen Alter sofort erkennbare Leonhard starb 2014 mit 93 Jahren. DER SPIEGEL (35/2014) nannte ihn in einem Nachruf den "Inbegriff eines Renegaten, des Intellektuellen, der sich dem Kommunismus verschrieb, aber vom Glauben abfiel und dies öffentlich begründete." In seinem Erinnerungsbuch beschreibt er unter anderem, wie der im August 1939 abgeschlossene Hitler-Stalin-Pakt die nach Moskau geflüchteten deutschen Kommunisten jeden Alters, also auch ihn, den jugendlichen Idealisten, bis ins Mark getroffen hat und wie die sowjetische Propaganda von einem Tag auf den anderen von antifaschistisch auf prodeutsch umgeschaltet hat, ja wie die "Prawda" Artikel aus Hitlers "Völkischem Beobachter" nachgedruckt hat.

Stalin und Hitler als ziemlich beste Freunde

Stalins Untertanen, aber auch die deutschen und anderen Antifaschisten, die in seinem Reich Zuflucht bekommen hatten, waren wie vor den Kopf geschlagen. Sie mögen nicht die Hintergründe des Vertrages erkannt haben und wussten auch nichts von geheimen Absprachen über die Aufteilung von Interessenzonen und die Duldung des bewaffneten Landraubes in Osteuropa, die über Jahrzehnte von der sowjetischen Regierung stets als Märchen und böswillige Unterstellung zurück gewiesen und erst unter Gorbatschow und Jelzin in den späten 1980-er Jahren kleinlaut eingeräumt wurden. Zu ihrem Erschrecken sahen sie aber, wie Hitler und Stalin "ziemlich beste Freunde" wurden, um den Titel eines französischen Filmdramas zu verwenden. Polemik gegen das Nazireich und auch Anti-Hitler-Karikaturen verschwanden aus den Zeitungen. Stattdessen wurden Filme gezeigt, die die russisch-deutsche Freundschaft feiern sowie solche mit Peter dem Großen, der bei der Gründung des preußischen Königtums geholfen haben soll. Einer von Leonards Mitschülern bedauerte, jetzt werde man sicher nicht mehr Charly Chaplins Satirefilm "Der Große Diktator" zu Gesicht bekommen.

Warnungen vor Hitlers Aggression auszusprechen, vor seinem Landhunger und dem Terror seiner Geheimpolizei gegenüber der Opposition, schon gar nicht die Verfolgung und Ermordung der Juden und anderen Menschen, die nicht in das völkische und rassistische Konzept der Nationalsozialisten passten, war im Reich des Josef Stalin gefährlich und konnte tödlich enden. Wer kritisch die Unbegreiflichkeit des ideologischen Umschwungs fragte, bekam es mit der alles wissenden und alles bestimmenden der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki), der Geheimpolizei und der Justiz zu tun. Sie alle waren bei kritischem Hinterfragen und politischen Delikten alles andere als zimperlich. Auch Wolfgang Leonhard musste erleben und schrieb in seinem Buch, wie gute Freunde und Genossen "verschwanden" und wie sich die Medien auf so genannte Verräter und Abweichler stürzten und zu ihrer Erschießung aufriefen. Die so erzeugte Stimmung der Angst und Resignation war auch dem Jungkommunisten nicht unbekannt und nagte an seinem Glauben an die "Sieghaftigkeit" der Lehre von Marx, Engels, Lenin und Stalin.

Kritik und Selbstkritik

Nach und nach kamen dem Junggenossen Leonhard Zweifel an dem, was er bisher auf der Schule gelernt hatte. Auch er musste wegen einer unvorsichtigen Frage die in der Sowjetunion als reinigend und aufbauend gepriesene Prozedur der Kritik und Selbstkritik. Es ging um "Verfehlungen", die keine waren, und wurde mit Spitzelberichten konfrontiert. In seinem Erinnerungsbuch schrieb er dazu: "Heute, auf diesen ersten Kritik- und Selbstkritik-Abend zurückschauend, fällt es mir nicht mehr schwer, das System zu erkennen. Harmlose, nebensächliche, völlig unpolitische Aussprüche wurden ins Riesenhafte vergrößert und verzerrt, so dass charakterliche Eigenschaften und politische Konzeptionen erkennbar schienen. […] Was würde jedoch sein, wenn sich bei mir weitere kritische Auffassungen aufdrängten, die ich bei mir behielt, und weislich verschwieg? Heute glaube ich, dass damals ein Weg begann, der sieben Jahre später, nach schweren inneren Kämpfen, dazu geführt hat, dass ich mit dem Stalinismus brach und aus der sowjetischen Zone Deutschlands flüchtete." Die peinliche Befragung und die Selbstkritik stellten die Genossen zufrieden. Sie kamen später auf den "Vorfall" nicht mehr zurück, denn sie brauchten sein Talent für Agitation und Propaganda im Krieg gegen das Deutsche Reich. Leonhard aber behielt von nun an seine kritischen Gedanken bei sich.

Nach dem deutschen Überfall am 22. Juni 1941 auf die Sowjetunion wurde der "Schalter" noch einmal umgekippt, und jetzt wurde zum Großen Vaterländischen Krieg des ganzen Volkes gegen den faschistischen Aggressor aufgerufen. Unter riesigen Opfern an Blut und Gut errangen die Rote Armee und die Völker der Sowjetunion gemeinsam mit den anderen Staaten der Anti-Hitler-Koalition den Sieg, der Wolfgang Leonhard den Weg in die deutsche Heimat frei machte. Der Kult um Generalissimus Stalin nahm groteske Formen an, und viele Menschen, auch solche im Westen, sahen in ihm den Führer in eine bessere, friedliche Welt. Als Journalist und Rundfunksprecher für das Nationalkomitee Freies Deutschland tätig, erlebte er hautnah die jähen Wendungen in der Propaganda gegen Hitlerdeutschland und wie die sowjetische Seite versuchte, gefangene Soldaten und Offiziere in ihrem Sinne zu beeinflussen und gegen Nazideutschland in Stellung zu bringen. Manche Personen erlangten in der späteren DDR einflussreiche Posten. Wie Leonhard nach Kriegsende in die viergeteilte Reichshauptstadt kam und an der Seite von Walter Ulbricht und weiteren aus dem Exil heimgekehrter Kommunisten half, dem am Boden liegenden Land wieder Leben einzuhauchen, liest sich, weil aus eigener Anschauung geschrieben, lehrreich und spannend.

Als Funktionär im Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Deutschlands, nach der Zwangsvereinigung mit der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands im April 1946 als Agitator, Propagandist und Verfasser von Politbroschüren tätig, beschreibt der nach und dach desillusionierte Verfasser im Schlusskapitel "Mein Bruch mit dem Stalinismus" unter der Zwischenzeile ",Pajoks' und Privilegien" seine politischen Bauchschmerzen wegen der Vergünstigungen, die Funktionäre, also auch er, genießen. Die Bevorzugung bestimmter für Staat und Partei wichtiger Leute kannten Leonhard und seine Freunde schon aus ihrer Zeit in Moskau, und sie haben sich aber wohl nicht viel dabei gedacht, denn die Dinge waren wie sie sind. Doch dann kam er durch eine zufällige Unterhaltung zum Nachdenken. Im Oktober 1945, als der Hunger im besetzten Deutschland groß war, fragte ein aus Westdeutschland nach Berlin angereister KPD-Genosse den in der Agitpropabteilung arbeitenden Leonhard nach dem Speisesaal im Zentralkomitee. Der Mann besaß einen Talon der Klasse 3, also eine Essenmarke für "nicht so wichtige Mitarbeiter". Es entspann sich ein Gespräch darüber, dass im Zentralkomitee der KPD die Mitarbeiter in unterschiedliche Klassen geteilt sind und auf unterschiedliche Weise in den Genuss von Lebensmittelpakete, der so genannten Pajoks, kamen.

Sorgenfreies Leben der obersten Funktionärskaste

Nach einem Befehl der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland erhielten ausgewählte Bevölkerungskreise in der Sowjetischen Besatzungszone Pajoks. Je nach Stellung und Bedeutung des Empfängers bestand diese Marschverpflegung mal aus großen, mal aus kleinen Hilfspaketen. Sie enthielten Kartoffeln, Fleisch, Zucker, Mehl, Butter und andere Nahrungsmittel, aber auch Spirituosen, Zigaretten und andere begehrte Dinge, von denen die Masse der Bevölkerung nur träumen konnte. Unterstützungen dieser Art bekamen Partei- und Staatsfunktionäre, aber auch Schauspieler, Professoren, Ingenieure und allgemein "Spezialisten", die für die Sowjetische Besatzungszone, ab 1949 für die DDR wichtig waren und die dort unbedingt gehalten werden sollten. Neben Gaben für Küche und Esstisch hatten die Pajoks noch einen anderen Sinn. Leonhard berichtet von einem sächsischen Parteifunktionär, der sich gegen die Demontagen in seinem Betrieb verwahrt hatte. Die Russen hätten seinen Widerstand mit dem Hinweis gebrochen, er habe Pajoks und Sondervergünstigungen bekommen. "In den anderthalb Jahren war allerhand zusammengekommen. Da erst begriff der Genosse, was Pajoks bedeuten. Am nächsten Tag rechtfertigte er auch die zweite Demontage vor den Arbeitern. Aber er ist nicht mehr der alte. Er ist ein gebrochener Mensch."

Die bevorzugte Behandlung und Versorgung der eigenen Leute durch eine Partei, die sich als Partei der Arbeiter und Bauern verstand und dies jeden Tag auf penetrante Weise bekräftigte, beschränkte sich nicht auf Essenmarken, Kartoffeln, Butter und Schnaps, auf Textilien und Schuhe, sondern schloss auch das komfortable Leben in unterstörten oder ganz neuen Wohnungen sowie in Erholungsheimen in idyllischer Lage ein. Die Beschreibungen des sorgenfreien Lebens, das die oberste Funktionärskaste in beschlagnahmten Villen des von der Roten Armee streng bewachten Pankower Stadtteils Niederschönhausen, gehören zu den eindrucksvollen, bis heute immer noch lehrreichen Passagen in Wolfgang Leonhards Buch "Die Revolution entlässt ihre Kinder". Dass es in der DDR verboten war, ist selbstverständlich, doch wusste sich der eine oder andere Bewohner, es sich zu beschaffen und die von dort ausgehenden Botschaften im Reich des Walter Ulbricht und Erich Honecker zu verbreiten.

31. Juli 2017

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