Nachrichten aus der Hölle
Briefe und Fotografien schildern das Schicksal von Menschen, die dem nationalsozialistischen Rassenwahn zum Opfer fielen



Was sich in Auschwitz hinter dem Lagertor mit der Inschrift "Arbeit macht frei" abspielte, wurde nach der Befreiung Ende Januar 1945 durch die Rote Armee in seinen grauenhaften Dimensionen nach und nach bekannt und kann nicht geleugnet werden, auch wenn das manche Ewiggestrige so haben möchten.





Fotos aus dem von Lili Jacob geretteten Album zeigen die Ankunft ungarischer Juden 1944 an der Rampe in Auschwitz, was aus ihnen wurde, hat die SS nicht mehr durch Bilder dokumentiert.



Vom Mai 1943 bis Anfang 1945 stand der KZ-Arzt Josef Mengele an der Rampe von Auschwitz-Birkenau und teilte mit einer Handbewegung die Gefangenen in solche ein, die sofort ermordet wurden, und solche, die Sklavenarbeit verrichten mussten.



Das Buch von Sam Pivnik füllt die nackten Statistiken über die Opfer des Nationalsozialismus mit erschreckenden Fakten. Man muss es lesen, wenn man wissen möchte, was der von den Nationalsozialisten organisierte "Holocaust" wirklich war. (Repros: Caspar)

ZDF History hat im Sender ZDF Info unlängst einen sehr zu Herzen gehenden Film über die Briefe der Lilli Jahn gesendet, die sie als jüdische Zwangsarbeiterin während des Zweiten Weltkriegs an ihre Kinder geschrieben hat. Lilli Jahn stammte aus einer wohlhabenden jüdischen Familie in Köln, studierte Medizin und wurde Ärztin, was damals noch ungewöhnlich war. Sie heiratete ihren nicht-jüdischen Studienkollegen Ernst Jahn und gründete mit ihm eine erfolgreiche Arztpraxis in Immenhausen bei Kassel. Das Paar bekam fünf Kinder und wurde bis zur Errichtung der Nazidiktatur von ihren Freunden und Nachbarn sehr geachtet.

Das änderte sich, als die Rassisten und Demokratiefeinde am 30. Januar 1933 an die Macht kamen und wahr machten, was sie seit Jahren angekündigt hatten, die Vernichtung der Juden und aller Menschen, die sie als Fremdvölkische betrachteten. Die Familie bekam die ganze Wucht der Nürnberger Gesetze von 1935 zu spüren und wurde 1938 beim Novemberpogrom von Leuten in ihrem Ort bedroht. Freunde, Patienten und Nachbarn mieden die vom rassistischen Bannfluch belegte Familie Jahn. Lilli wurde mit Arbeitsverbot belegt, ihr in einer "Mischehe" lebenden Mann Dr. med. Ernst Jahn hat Probleme, die Praxis fortzuführen. Erst im Krieg, als viele Ärzte an der Front sind, ging es damit besser. Die gemeinsamen Kinder wurden als Judenbälger und minderwertige Mischlinge verhöhnt, und sie wussten nicht, warum man sie meidet. Lillis Mann hielt dem zunehmenden Druck durch die örtlichen Nazis nicht stand. Er ließ sich 1942 scheiden und heiratete eine Kollegin, mit der er ein Kind hat. Lilli und ihre Kinder hatten damit den letzten Schutz verloren. Vogelfrei, wie sie waren, kamen ganz bescheiden in Kassel unter.

Angst um die Kinder und Hoffnung auf Heimkehr

Die Nazis in Immenhausen wollten ihren Ort "judenrein" haben und denunzierten das Ärztepaar bei der Gestapo. Lilli Jahn wird in das Arbeitserziehungslager Breitenau eingeliefert. Die Arbeits- und Lebensbedingungen waren in solchen Einrichtungen denen in Konzentrationslagern vergleichbar. Lilli musste Zwangsarbeit leisten, fand aber Zeit und Gelegenheit, ihren Kindern zu schreiben. Zwar war der Aufenthalt dort auf etwa acht Wochen begrenzt, um die Häftlinge nach der "Disziplinierung" wieder regulär in der Produktion einsetzen zu können. Neben den ausländischen Gefangenen waren im ehemaligen Kloster Breitenau, das in ein Gefängnis umgewandelt worden war, auch Deutsche inhaftiert, so regimekritische Arbeiter und so genannte Volksfeinde sowie und Juden. Neben der Funktion als Arbeitserziehungslager war Breitenau auch ein Konzentrationssammellager. Während der Haftzeit wurde entschieden, ob Gefangene auf einen Arbeitsplatz entlassen oder in die Vernichtungslager deportiert werden. Jüdische Gefangene wurden ab Ende 1941 von Breitenau aus nach "Osten" deportiert, womit die Vernichtungslager gemeint waren. Etwa einer von fünf Gefangenen wurde vom Lager Breitenau kamen ins Konzentrationslager.

"Mein verwundetes Herz"

Aus dem Arbeitserziehungslager entwickelte sich eine umfangreiche, in vorsichtigen Worten und versteckten Andeutungen verfasste Korrespondenz zwischen Lilli und ihren Kindern, die später im Familiennachlass gefunden wurden. Der Gedanke an ihre Kinder hielt Lilli am Leben, die aus dem Arbeitslager geschmuggelten Briefe dokumentieren die Verzweiflung der Mutter über ihre Lage und die Hoffnung, dass sie eines Tages frei kommt und ihre Kinder wieder in die Arme schließen kann. Diese wussten lange Zeit nicht, dass die mehr als 200 Briefe die Nachkriegswirren überlebt hatten. Den wiederentdeckten Briefwechsel verwendete Gerhard Jahns Neffe, der Spiegel-Redakteur Martin Doerry, für eine Biographie seiner Großmutter, die unter dem Titel "Mein verwundetes Herz" ( DVA Stuttgart/München 2002, ISBN 3-421-05634-X) veröffentlicht wurde und zur Grundlage des eingangs erwähnten Films auf ZDF Neo wurde. Lillis Sohn Gerhard Jahn, der spätere Bundesjustizminister von 1969 bis 1974, besaß die Briefe, hat aber nach Aussage seines Enkels Martin Doerry nie darüber gesprochen. Die Ausgrenzung durch die Nazis und die schlimmen Erlebnisse in der Nazi- und Kriegszeit waren in der Familie Jahn wie auch bei zahlreichen anderen Menschen offenbar kein Thema.

In dem Film wird berichtet, dass die Bitte der Gefangenen an ihren geschiedenen Mann, sich bei der Gestapo für sie einzusetzen, keinen Erfolg hatte. Ernst Jahn traute sich wohl nicht, sich für seine jüdische Ex-Frau zu verwenden. Unter den obwaltenden Umständen wäre das auch sinnlos gewesen. Alles Bangen und Hoffen half nichts, Lilli wurde deportiert, ihre Kinder bekamen im Sommer 1944 eine Todesurkunde aus Auschwitz. In dem von Annette von der Heyde gestalteten Film spricht eine der Töchter unter Tränen, was die Kinder damals bei der Todesnachricht empfunden haben. Bilder von der Rampe in Auschwitz-Birkenau

Der Holocaust-Überlebenden Lili Jacob ist zu verdanken, dass ein Fotoalbum erhalten blieb, in dem SS-Leute Bilder aus Auschwitz-Birkenau geklebt hatten. In den Konzentrations- und Vernichtungslagern zu fotografieren, war verboten, es sei, dass die SS-Schergen dafür eine Genehmigung hatten. Am Ende des Krieges wurde alles unternommen, um die Spuren der Massenmorde zu verwischen. Dazu gehörte auch die Vernichtung von Dokumenten, Fotos und anderen Zeugnissen, von denen erwartet wurde, dass man sie eines Tages gegen die Massenmörder verwenden konnte. Die Ende Mai oder Anfang Juni 1944 angelegte Fotosammlung ist Thema eines weiteren Films, den ZDF Neo ebenfalls in seiner Reihe ZDF History ausgestrahlt hat. Er zeigt, wie ungarische Juden im Vernichtungslager ankommen, nicht aber was ihnen danach geschieht.

Das Auschwitz-Album "Umsiedlung der Juden aus Ungarn" enthält 193 auf 56 Kartonseiten geklebte Fotos, die vermutlich von dem SS-Mann Ernst Hofmann oder dessen Vorgesetzten Bernhard Walter aufgenommen wurden. Sie beaufsichtigten eine Gruppe von Häftlingen, die Passfotos und Fingerabdrücke von den eingelieferten Häftlingen machten. Von den sogleich in die Gaskammern geschickten Gefangenen wurden keine Bilder benötigt. Fast alle Aufnahmen stammen von einem einzigen Zugtransport. Auf ihnen konnten etliche Personen namentlich identifiziert werden. Lili Jacob sah auf ihnen sich selbst und einige Familienangehörige. Einige Fotos verschenkte sie an andere Überlebende, die ebenfalls Angehörige auf einem der Fotos erkannt hatten.

Eichmann leitete Juden-Aktion

Bei der von Adolf Eichmann im Zeichen der "Endlösung der Judenfrage" organisierten und mit Eifer vorangetriebenen so genannten Ungarn-Aktion wurde fast jeder zweite der in dem von der deutschen Wehrmacht besetzten und von Hitlers Marionetten regierten Land lebenden Juden bald nach ihrer Ankunft ermordet. Lili Jacob hatte das von ihr gerettete und nach ihr benannte Fotoalbum 1945, am Ende ihrer Haft im Konzentrationslager Dora-Mittelbau, an sich genommen. Erst 1980 wurden die Bilder der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem übergeben. Ganz unbekannt war das Album nicht, denn ab 1946 wurden verschiedene Aufnahmen daraus veröffentlicht. Neben dem Bilderfund, der Lili Jacob gelungen war, gibt es noch ein zweites Album aus Auschwitz, das im Dezember 2006 vom United States Holocaust Memorial Museum aus dem Nachlass eines anonym gebliebenen ehemaligen US-Offiziers stammt. Die 116 Aufnahmen hatte der SS-Obersturmführer Karl Höcker angefertigt, der zur Wachmannschaft gehört hatte. Die meisten Bilder zeigen lachende Angehörige des Lagerpersonals bei Schießübungen und bei Freizeitaktivitäten

Den ungarischen Behörden oblag die Erfassung, Kennzeichnung, Entrechtung, Ghettoisierung, Zwangsarbeit, Enteignung und Deportation der Juden im Land. Allein zwischen dem 16. Mai und dem 11. Juli 1944 kamen rund 425.000 Ungarn in Auschwitz an, von ihnen wurden mindestens 300.000 unmittelbar nach dem Verlassen der Eisenbahnzüge noch auf der Rampe mit einfachen Handbewegungen selektiert, also ausgesondert, und durch das Giftgas Zyklon B ermordet. Das waren vor allem Alte, Kranke, Schwache und Kinder, nicht für die Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie als untauglich angesehen wurden. Als die Fotos im Mai 1944 gemacht wurden, kamen innerhalb von drei Tagen 26 844 Menschen auf bestialische Weise ums Leben. Historiker stellen fest, dass etwa eine halbe Million Juden ermordet wurden, die Hälfte der in Ungarn lebenden Juden. Die Menschen vom Säugling bis zum Greis wurden in zahlreichen Zügen der Deutschen Reichsbahn unter unbeschreiblich qualvollen Bedingungen nach Auschwitz gebracht. In der Hochphase der Mordaktion brachten täglich drei oder mehr Güterzüge ungarische Juden in das Vernichtungslager. Jeder Zug transportierte bis zu 4000 Menschen. Unterwegs waren viele von ihnen verhungert oder und an Infektionskrankheiten verstorben, was dem Kalkül der SS und Gestapo entsprach. Wer nicht gleich selektiert wurde, weil er den SS-Leuten für die "Vernichtung durch Arbeit" kräftig genug erschien und über 18 Jahre alt war, musste als Arbeitssklave in der Rüstungsindustrie schuften, und viele von ihnen kamen auch dort ums Leben.

"Glück" hatte Sam Pivnik, ein aus Oberschlesien stammender Jude, dem Schicksalsgenossen bei der Ankunft in Auschwitz zuraunten, er solle sich älter machen und sagen, dass er einen Beruf hat, damit er nicht gleich ins Gas geschickt wird. Sam blieb am Leben und musste "Dienst" an der Rampe tun. In seinem Buch "Der letzte Überlebende. Eine wahre Geschichte" (Theiss Verlag/Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 2017, 280 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-8062-3478-7) schildert Pivnik, wie er den KZ-Arzt und Todesengel Josef Mengele, kenntlich an einer Zahnlücke, sah. Mit leichter Hand teilte er die Ankömmlinge in diejenigen ein, die unverzüglich den Marsch in den Tod antreten mussten, und in solche, denen noch eine kleine Lebensspanne blieb. Besonderes Augenmerk richtete der SS-Hauptsturmführer auf Menschen, die er für seine pseudomedizinischen Forschungen benötigte. Mengele setzte sich nach dem Krieg nach Südamerika ab, wie viele andere Naziverbrecher auch und starb unter dem falschen Namen Wolfgang Gerhard 1979 in Brasilien.

Mehr als neun Leben aufgebraucht

Pivnik musste mit anderen Häftlingen die Habeseligkeiten, die Kleidung und die Koffer der in Auschwitz-Birkenau eingelieferten Juden sortieren. Ihnen hatte man gesagt, sie würden ihre Sachen später zurück bekommen, doch das war eine glatte Lüge, wie auch die Ankündigung, sie würden sich im Duschraum reinigen können, die Menschen beruhigen und in Sicherheit wiegen sollten. "Nach den Selektionen ertappte ich mich in unbeobachteten Momenten manchmal dabei, wie ich den Frauen und Kindern nachsah, die den gleichen Weg gingen wie meine Familie. […] Unter Tränen sammelten wir die kleinen Mäntel, Schuhe, Spielsachen, Pullover und Kleider auf. […] Wir sammelten alles ein und stapelten es ordentlich auf. Ordentlich und sauber, wie es die SS so gern hatte. […] Auf ekelhafte Weise waren die Jobs in Auschwitz Jobs auf Lebenszeit. Und das konnte auch nur ein paar Tage dauern."

Sam Pivnik überlebte wie durch ein Wunder Auschwitz-Birkenau, in dem in den Krematorien tagtäglich viele tausend Leichen verbrannt wurden. In jungen Jahren schnell gealtert und zu einem "Muselmann" verkommen, überstand er auch Mauthausen, Buchenwald und auf den Todesmärschen alle Gefahren und hatte, als er die Hölle der Lager überstanden hatte und in Norddeutschland von den Briten befreit wurde, mit seinen nicht einmal 20 Jahren "mehr als neun Leben aufgebraucht". Erst im Alter hat er über seine traumatischen Erlebnisse geschrieben.

3. Juli 2017



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