"Mein Kampf verbrannt, Hitler nicht gekannt"
Geheime Stimmungsberichte der Nazis offenbaren das Wissen der Deutschen über Pogrome und Holocaust





Das verlassene Haus und der gespaltene Stein - zwei ergreifende Denkmäler für die ermordeten Juden auf dem Berliner Koppenplatz und in der Spandauer Altstadt.



Dass nicht nur SS-Einheiten, sondern auch Sonderkommandos der Wehrmacht an Mordaktionen in den besetzten Ländern teilgenommen haben, wurde nach dem Ende der NS-Diktatur lange verschwiegen, und als die Tatsachen auf den Tisch kamen, hagelte es Proteste.



Viele Deutsche glaubten bis zum bitteren Ende den Sieges- und Horrormeldungen der Goebbels-Propaganda. (Foto/Repros: Caspar)

Während des Zweiten Weltkriegs hörte der britische Geheimdienst Gespräche gefangener Generäle und Offiziere der deutschen Wehrmacht ab. Immer, wenn es politisch wurde, schnitt man mit und erfuhr, was die hohen Herren bewegte. Es war pure Angst vor der Rache der Sieger für unbeschreibliche Massaker in den von Hitlers Truppen besetzten Gebieten. "Wenn die erst die Massengräber finden, bewahre uns Gott", lautete der Tenor der Unterhaltungen. Aus ihnen geht hervor, dass die Ermordung von Kriegsgefangenen und von Juden durch die Terrororganisation SS sowie Wehrmachtseinheiten weithin bekannt war und die Täter sehr wohl wussten, welcher Verbrechen sie sich schuldig gemacht haben.

Aus Berichten, die seit Errichtung der NS-Diktatur im Jahr 1933 der nationalsozialistische Geheimdienst und andere Behörden über die Stimmung unter den Deutschen zur Vorlage bei der obersten Führung anfertigten, zeigen deutlich den hohen Kenntnisstand der Bevölkerung über Pogrome an der jüdischen Bevölkerung, die Existenz von Konzentrationslagern, Tötungsanstalten und Folterkellern sowie im Krieg über Massenerschießungen und so genannte Säuberungsaktionen. Hitlers "Volksgenossen" registrierten den täglichen Terror, denen die durch die Rassegesetze ausgegrenzten jüdischen Mitbürgern ausgesetzt waren, und sahen zumeist gleichmütig zu, wie man sie wie Schwerverbrecher durch die Städte führte und an den Pranger stellte. Rassistisch verseuchte Mitläufer wurden, wie die Informationen beweisen, oft Mitmacher, wenn sie sich persönliche Vorteile versprachen, wenn sie sich an fremdem Eigentum bereichern konnten und die Aussicht bestand, missliebige Konkurrenten aus dem Weg zu räumen.

Selbstverständlich wussten viele Deutsche auch von den Deportationen in Richtung Osten, also außerhalb der Grenzen des Reiches, denn die von der Gestapo zusammengetriebenen Marschkolonnen liefen an den Wohnhäusern derer vorbei, die im Besitz eines "Ariernachweises" waren. Viele von ihnen wurden, wenn sie ausgebombt waren, in Wohnungen der deportierten eingewiesen und fanden offenbar nichts dabei, den Haushalt ihrer ins Gas geschickten Vorgänger zu übernehmen. In den damaligen Zeitungen wurden regelmäßig Annoncen für Möbel, Hausrat und Kunstgegenstände publiziert, die versteigert werden sollten. Manch ein "Volksgenosse" war auf Schnäppchenjagd und fragte nicht, woher die fremden Dinge stammen, mochten es aber geahnt haben.

Angst vor den Siegern

Nach dem Krieg wollte keiner mehr von den Verbrechen wissen. Der Spruch "Mein Kampf verbrannt, Hitler nicht gekannt" machte die Runde. Man konzentrierte sich aufs eigene Überleben, warf Hitlers Hetzschrift fort, beseitigte Führerbilder und beschäftigte sich ansonsten mit der Zukunft. Da nur wenige Kriegsverbrecher und Massenmörder in Nürnberg angeklagt und verurteilt wurden, konnte sich der große, durch Entnazifizierungsverfahren mit "Persilscheinen" ausgestattete Rest der Deutschen mit dem Hinweis, "damit" nichts zu tun gehabt zu haben, entspannt zurücklehnen. Ja es gab und gibt leider auch heute noch immer Leute, die glauben, Auschwitz, das Synonym für all die Gewaltverbrechen der Nazis, habe es nicht gegeben und die Berichte und Fotos vom täglichen Mord seien nur Propaganda der Sieger oder zumindest stark übertrieben. Dabei haben viele "Volksgenossen" nachweislich die Maßnahmen zur Ausgrenzung und Deportation von Juden aktiv unterstützt, weil sie davon unmittelbar profitiert haben oder/und sich Vorteile für ihre Karriere versprachen.

Die Ahnungslosigkeit war vortäuscht, denn die Stimmungsberichte sprechen eine andere Sprache. Eine jetzt abgeschlossene und in einem umfangreichen Buch samt CD-Rom fixierte Dokumentation des deutschen Bundesarchivs beweist dies. Wenn auch viele dieser Spitzenberichte persönliche Meinungen widerspiegeln, so lässt sich doch in der Summe feststellen, dass ein großer Teil der Bevölkerung von den antisemitischen Ausfällen, der systematischen Entrechtung der Juden, ihrer Entlassung aus dem Staatsdienst, der Vernichtung ihrer Geschäfte und der harten Bestrafung für die als "Rassenschande" ins Strafgesetzbuch aufgenommenen Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden gebilligt, wenn nicht sogar offen gefördert haben. Das gilt auch für den Terror gegenüber den Sinti und Roma sowie gegenüber den Homosexuellen und weiteren Menschen, die nicht ins rassistische und völkische Weltbild der Nationalsozialisten passten.

Druck von unten

Schon bald nach der so genannten Machtergreifung Hitlers am 30. Januar 1933 gab es einen Druck von unten, um mit den Juden kurzen Prozess zu machen. "Einfachste und primitivste Lösung wäre die physische Ausrottung - Pogrome", heißt es in einem Ende 1933 verfassten Lagebericht, der auch die Aussiedlung in andere Länder und andere Maßnahmen beschreibt. Aus der schon 1933 geforderten Lösung der Judenfrage wurde 1942 die "Endlösung", also die systematische Vernichtung der europäischen Juden, der Holocaust. Geplant war die Ermordung von mehr als elf Millionen Juden, "geschafft" haben die Nazis am Ende etwa sechs Millionen. Adolf Eichmann, der Organisator des Massenmordes, bedauerte im Nachhinein, dass er die genannte Zahl von elf Millionen nicht erreicht hat.

Nur selten spiegelt sich in den "Meldungen aus dem Reich" Nachdenklichkeit, gelegentlich wird "Unverständnis" mancher Volksgenossen über Terrormaßnahmen registriert, vor allem, wenn sie christlich gebunden waren. Als am 9. November 1939 während des auch verharmlosend Reichskristallnacht bezeichneten Pogroms im ganzen Reich die Synagogen brannten und unzählige jüdische Wohnungen und Geschäfte ausgeraubt und zerstört wurden, registrierten Gestapo und Sicherheitsdienst lediglich eine verbreitete Sorge um die Vernichtung von Immobilien und deren Ausstattung. Dass es gerade in dieser Zeit auch Solidarität und praktische Hilfe für die jüdischen Mitbürger gab und sich ein Teil der Geistlichkeit bei vielen Gelegenheiten für sie einsetzte, wird in den Dokumenten nur angedeutet.

Angst und Einschüchterung

Inwieweit die Sicherheitsbehörden den durch ihre Spitzel registrierten regimekritischen Äußerungen nachgingen und Repressalien an sogenannten Gerüchtemachern ausübten, wäre ein neuer Forschungsgegenstand. Wie überhaupt die Rolle von Angst und Einschüchterung für die Ausformung der Stimmungsbilder für die Naziführung genauer zu untersuchen wäre. Nicht umsonst wurden zum Zwecke der Abschreckung Schauprozesse und Todesurteile an Antifaschisten und anderen "Landesverrätern" publik gemacht, die Hitler nicht mehr folgen wollten oder sich durch ein unachtsames Wort verdächtig gemacht hatten.

Obwohl die Vorgänge in den Konzentrationslagern strenger Geheimhaltung unterlagen, waren sie im Deutschen Reich nicht unbekannt. Manches drang nach außen und war, wie aus den Naziberichten hervorgeht, Gesprächsstoff im engsten Familien- und Freundeskreis. Über "Feindsender", die abzuhören unter Todesstrafe stand, drangen ebenfalls Informationen über den Holocaust und Massenhinrichtungen ins Reich. Deutlich wird aus den Nazi-Dokumenten die Angst vieler Menschen vor dem, was dem schon aufgegeben "Endsieg" folgen wird. Die geheimen Berichte unterstreichen einerseits, dass viele Menschen nur noch widerwillig den Durchhalteparolen der Naziführung folgten, ihnen aber aus Angst vor zu erwartender Strafe durch die Sieger folgten.

Das Buch aus dem Jahr 2004 "Die Juden in den geheimen NS-Stimmungsberichten 1933-1945" behandelt ein lange tabuisiertes Thema. Es beruht auf jahrzehntelangen Recherchen in zahlreichen Archiven des In- und Auslandes über die so genannte Entjudung des Nazireiches und ihre Widerspiegelung in Berichten, die die Gestapo über die Stimmungen und Meinungen der Deutschen anfertigte. Von den Historikern Otto Dov Kulka und Eberhard Jäckel herausgegeben, erschien der 69. Band der Schriftenreihe des Bundesarchivs im Düsseldorfer Droste Verlag. Er hat 894 Seiten und kostet 74,90 Euro. Der Band und die beigefügte CD-ROM mit über 3700 Berichten enthüllen die überraschend gute und weit verbreitete Kenntnis der über die Verfolgung und Ermordung ihrer jüdischen Mitbürger. Die CD-ROM erlaubt eine detaillierte Recherche auch über die von den Behörden scharf beobachteten Versuche innerhalb der jüdischen Bevölkerung, durch stärkeres Aneinanderrücken und intensive Vereins- und Kulturarbeit dem immer stärker werdenden Druck durch die NS-Behörden standzuhalten. Sie zeigen, wie sich im Laufe des Krieges bei vielen Menschen die Meinungen zu den Maßnahmen des Regimes wandelten und zunehmende Angst vor der Rache der Sieger im Wissen um begangene Verbrechen und unentschuldbares Wegsehen aufkam. Für Historiker ist die neue Publikation durch die umfangreiche Bibliographie wichtig und die Querverweise über antijüdische Vorkommnisse und Verbrechen bis in die letzten Winkel des Hitlerreichs hinein.

1. Mai 2017



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