Parteichinesisch statt klarer Worte
Im NEUEN DEUTSCHLAND musste man zwischen den Zeilen lesen um zu verstehen, was gemeint ist, doch blieben viele Fragen offen



Bei Aufmärschen und Demonstrationszügen - auf dem Foto geht es an der Staatsbibliothek Unter den Linden in Berlin vorbei - durften das NEUE DEUTSCHLAND und seine Mitarbeiter nicht fehlen.



In der Presselandschaft der DDR nahm das NEUE DEUTSCHLAND (Preis 15 Pfennige) den ersten Platz ein, hingegen waren beliebte Journale wie die Wochenpost und Das Magazin ausgesprochene Bückware, das heißt, man bekam sie nur unterm Ladentisch.



Sich schon am Morgen im ND schlau zu machen, gehörte zum Pflichtprogramm eines jeden Genossen. Mit der obligatorischen Presseschau wurde viel Zeit vergeudet.



Zu den Absurditäten in der ND-Geschichte gehörte der Abdruck von 43 Fotos, die Honecker beim Besuch von Ausstellern auf der Leipziger Messe zeigen. Die Seite stammt aus der Hofberichterstattung vom 15. März 1987.



Jubel, Jubel, Jubel - im ND wurde nichts anderes zugelassen, und Honecker bekam die besten Plätze und dicksten Schlagzeilen.



Günter Schabowski (rechts) kannte das ND gut wie kaum ein anderer. Der ehemalige Chefredakteur ließ am SED-Zentralorgan und seiner eigenen Arbeit kein gutes Haar - allerdings erst zu einer Zeit, als man ohne Gefahr für Leib und Leben über die Gebrechen der DDR frei sprechen konnte. (Foto/Repros: Caspar)

Das Zentralorgan des Zentralkomitees der SED NEUES DEUTSCHLAND fleißig zu lesen und auszuwerten sowie die dort veröffentlichten Beschlüsse und Direktiven der Partei pünktlich in die Tat umzusetzen, war für jede Genossin, jeden Genossen Pflicht, zumindest theoretisch. Das ND hatte als wichtigste Tageszeitung in der DDR täglich außer sonntags. Erstmals erschien das von der Sowjetischen Besatzungsmacht genehmigte Parteiblatt am 23. April 1946 gleich nach der unter sowjetischer Regie erfolgten Vereinigung von KPD und SED. In der DDR war das ND Sprachrohr der SED. Keine noch so lächerliche Verlautbarung, keine noch so absurden Gedankenflüge der "führenden Genossen", keine irgendwie als wichtig erachtete Verlautbarung aus Moskau, die nicht sofort im ND veröffentlicht und von der SED-gelenkten Bezirkspresse nachgedruckt und nachgebetet worden wären.

Vor dem Ende des SED-Regimes hatte das Pflichtblatt für jeden Genossen, für jede Genossin, für Ämter und Organisationen eine Millionenauflage von einer Million Exemplaren und war damit nach dem Organ der Freien Deutschen Jugend JUNGE WELT die DDR-Tageszeitung mit der zweithöchsten Auflage. Nach massenhaften Abbestellungen 1989/90 sank die Auflage des ND rapide. Die linke Tageszeitung NEUES DEUTSCHLAND hat sich in der ostdeutschen Zeitungslandschaft gut gehalten. Viele ihrer Leser sind ehemalige Genossen über 60 Jahre.

Gedruckter Personenkult

Im Unterschied zur den sonstigen Tagespresse verfügte das ND über ein größeres Format und bessere Papier- und Druckqualität, außerdem unterhielt die Redaktion ein Netz von Auslands- und Bezirkskorrespondenten sowie von so genannten Volkskorrespondenten, die kleine Berichte aus ihren Betrieben und Wohngebieten sowie über Wettbewerbs- und andere Erfolge nach dem Motto "Wo ein Genosse ist, da ist die Partei" beisteuerten. Das SED-Zentralorgan war Plattform eines kaum zu überbietenden Personenkults erst um die Parteischefs Walter Ulbricht und dann um Erich Honecker. Der Gipfel war, dass in der Ausgabe vom 16. März 1987 anlässlich der Eröffnung der Leipziger Messe mehr als 40 stets gleich große Fotos mit Erich Honecker im Mittelpunkt veröffentlicht wurden, was bei Blattmachern und Lesern mehr oder minder offen mit Spott quittiert wurde. Angeblich sollte mit dieser von "ganz oben" angeordneten Maßnahme vermieden werden, dass sich Aussteller benachteiligt fühlen, wenn sie nicht im trauten Gespräch mit dem mächtigsten Mann der DDR abgelichtet wird.

Selbstverständlich war das ND Gegenstand bissiger Witze wie diesem: "Hannibal, Lord Nelson und Napoleon besuchen die Nationale Volksarmee. Dabei fragt der General, was sie von den Dingen, die sie gesehen haben, am liebsten hätten. Hannibal meint, die Panzer seien viel besser als seine Elefanten, Lord Nelson glaubt, mit den U-Booten hätte er noch mehr Schlachten gewonnen, und Napoleon stellt fest: Ich hätte gern das NEUE DEUTSCHLAND. Wenn ich es 1815 gehabt hätte, wüsste die Welt bis jetzt nicht, dass ich bei Waterloo verloren habe!" Ein anderer Witz fragte, warum das Blatt 15 Pfennig kostet, wo doch die PRAWDA, das Zentralorgan der sowjetischen Kommunisten, nur 10 Pfennig kostet. Die Antwort lautete, beim ND kämen noch 5 Pfennig Übersetzungskosten hinzu, womit auf die vielen wörtlichen Übernahmen aus der sowjetischen Presse angespielt wurde.

Geistige Kastration und Schönfärberei

Einer der besten Kenner der Medienpolitik in der DDR und langjährige Chefredakteur des Blattes, Günter Schabowski, ging in seinem Buch "Der Absturz" von 1990 mit der Hofberichterstattung im ND und mit seiner eigenen Arbeit kritisch ins Gericht. Er müsse sich vorwerfen, schrieb das ehemalige SED-Politbüromitglied, "dass ich als Journalist zur geistigen Kastration durch Schönfärberei und Kritiklosigkeit beigetragen habe. […] Unser Journalismus bediente die Leser behäbig und wortkarg, wie ein anmaßender Schalterbeamter, wenn es um relevante Fragen und Gegenstände der Politik ging. Das Informationsbedürfnis der Menschen musste sich in vielen Fällen mit wenig sagenden Protokollmeldungen und Kommuniqués zufrieden geben." Die Apologie-Sucht des Systems habe wie der Teufel das Weihwasser Aufdeckung und öffentliche Erörterung von Schwierigkeiten gescheut. Es habe schon Mitte der siebziger Jahre einen Rückfall in alte Gewohnheiten gegeben, fügte Schabowski mit Blick auf kleine Lockerungsübungen zu Beginn der Honecker-Ära ab 1971 hinzu.

Eine spezifische Form der Information war laut Schabowski die Nichtinformation. In Kommentaren wurde eine merkwürdige Art der Polemik praktiziert, das Schattenboxen mit gegnerischen Argumenten, die aber nicht genannt werden durften, angeblich weil man Meinungen des Gegners keine Bühne geben wollte. Allen Ernstes sei ratsuchenden Lesern bedeutet worden, sie mögen zwischen den Zeilen lesen, so Schabowski, dem wir den erlösende Satz am Abend des 9. November 1989 verdanken, dass Ausreisen in den Westen "ab sofort" möglich seien, worauf die Mauer geöffnet wurde. Erich Honecker habe sich gebrüstet, dass es in der DDR keine Zensur gebe. Das habe sogar gestimmt, eine Zensur sei nicht nötig gewesen, weil er als Oberzensor häufig die Meldungen selber fabrizierte oder Informationstabus verhängte. "Das andere besorgten schon die Selbstzensur in den Köpfen und die zentrale ,Anleitung', die sich täglich über die Redaktionen ergoss".

"Parteichinesisch" nannte man das hölzerne, unverständliche, sich in ellenlangen Sätzen mit vielen Genitiven ausdrückende Kauderwelsch, dessen sich Politiker, Propagandisten, Ideologen bei ihren Reden und die Parteipresse in der DDR bedienten. Immerzu und über Gebühr die Klassiker des Marxismus-Leninismus als oberste Instanzen und Richtschnur zitierend und interpretierend, versuchten Funktionäre, Historiker, Gesellschaftswissenschaftler, Journalisten und andere, dem Volk die Welt zu erklären und sie von der Sieghaftigkeit des Sozialismus zu überzeugen, was angesichts seiner klar zutage liegenden Gebrechen eine große Herausforderung war.

Unbeholfenes Wortgeklingel

Da die Visionen nicht mit den Realitäten übereinstimmten, kam es zu sprachlichen Verrenkungen und unbeholfenem Wortgeklingel. Mit heute lachhaft klingenden Verheißungen waren das NEUE DEUTSCHLAND und die anderen von der SED gelenkten Medien sowie Parteitagsreden, Parteibeschlüsse, Politbroschüren randvoll gefüllt. Die Verwendung angelernter Vokabeln und von unverständlichen Wort- und Satzungetümen, spöttisch "Sparche" genannt, und das unkritische Nachbeten von Politparolen und Klassiker-Zitaten schützte vor eigenem Denken, führte aber die "Parteichinesen" in eine ideologische und gedankliche Zwickmühle, wenn von "unseren Menschen" die Umsetzung dieser Parolen gefordert wurde. Der Ausweg waren Hinweise auf künftige Siege, doch diese wurden nicht akzeptiert, denn man wollte heute leben und nicht erst morgen im Überfluss prassen. Der Spruch "Wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben" wurde in "Wie wir heute leben, werden wir morgen arbeiten" umgedeutet.

Klartext über die angespannte wirtschaftliche und innenpolitische Lage im Lande zu reden, war als gefährlich und destruktiv nicht erwünscht. Kritische Berichte über die ernste Lage der Wirtschaft und der Stimmung in der DDR hat die angeblich nicht vorhandene, aber überall in den Köpfen präsente Zensur unterdrückt. Allenfalls waren Hinweise an offensichtlichen bürokratischen Auswüchsen, herzloser Behandlung von Bittstellern, unübersehbarer Vergeudung von Material und Volksvermögen und ähnlichen Problemen in aller Vorsicht erlaubt. Alles sollte vermieden werden, dem imperialistischen Klassenfeind, also der verhassten Bundesrepublik Deutschland, Handhaben zu geben, gegen den Arbeiter-und-Bauern-Staat zu polemisieren und zu hetzen. Das gelang aber nicht, denn aus vielen sorgfältig formulierten Informationen ließen sich "zwischen den Zeilen" kritische Aspekte filtrieren, die via Westradio und Fernsehen wieder in die DDR gelangten. Hellsichtige Denker und Ökonomen, von denen es manche in der DDR gab, brachten Hardliner und Ignoranten gegen sich auf, wenn sie forderten, die Theorie mit der Realität in Übereinstimmung zu bringen und sich einer klaren Sprache zu bedienen.

In diesem Sinne schlug der bekannte Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaftler Jürgen Kuczynski 1974 dem für ideologische Fragen zuständigen ZK-Sekretär Kurt Hager, genannt Tapeten-Kutte, als 12. Feuerbachthese vor: "Nachdem das Proletariat in den letzten 57 Jahren die Welt verändert hat, ist es höchste Zeit, dass die Gesellschaftswissenschaftler lernen, sie zu interpretieren". Selbstverständlich hatte der Vorschlag des in der DDR und speziell von Honecker verehrten Gelehrten in Anlehnung an die 11. Feuerbachthese von Karl Marx "Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt darauf an, sie zu verändern" keine praktischen Folgen, weder für Kuczynski noch für die Gesellschaftswissenschaften und die von ihnen mit "parteilichen" Argumenten und sprachlichen Verrenkungen belieferte Politik.

LITERATURTIPP: Burghard Ciesla und Dirk Külow: Zwischen den Zeilen. Geschichte der Zeitung "Neues Deutschland". Verlag Das Neue Berlin 2009, 256 S., zahlr. Abb., 25,80 Euro (ISBN 978-3-360-01920-2)

27. September 2017

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