"Pardon wird nicht gegeben"
Das Pachtgebiet Kiautschou erwies sich für das Deutsche Reich als Fass ohne Boden und fiel zu Beginn des Ersten Weltkriegs an Japan



Bewohner von Tsingtau betrachten auf dem Bild von Richard Knötel respektvoll die in Reih und Glied angetretenen deutschen Kolonialsoldaten.



So sah sich der Kaiser am liebsten, als Schöpfer der deutschen Marine in der Uniform eines Admirals.



Der so genannte Sühneprinz Chun II. musste 1901 in Potsdam bei Kaiser Wilhelm II. um Abbitte für die Ermordung des deutschen Gesandten in Peking, Clemens Freiherr von Ketteler, bitten.



Die Karte aus der Zeit um 1900 zeigt die Lage von Kiautschou und weitere chinesischer Gebiete an der Küste des Gelben Meers.



Eine Zeichnung in einem Buch von Georg Franzius über Kiautschou schildert eine Szene im deutschen Postamt, die Bilder im Hintergrund zeigen, wer auch hier das Sagen hat. (Repros: Caspar)

Kaiser Wilhelm II., der von 1888 bis 1918 regierte und auch König von Preußen war, machte durch sein Säbelrasseln und unvorsichtige Donnerworte immer wieder spektakulär auf sich aufmerksam. In Trinksprüchen wie "Das Pulver trocken, das Schwert geschliffen, das Ziel erkannt und die Schwarzseher verbannt" oder markigen Ansprachen gab er die Richtung seiner auf Konfrontation mit den anderen Großmächten gerichteten Politik an. Berühmt und berüchtigt wurde der Monarch unter anderem durch seine am 27. Juli 1900 in Bremerhaven vor Soldaten gehaltene "Hunnenrede". Deren Wortlaut ist durch das Stenogramm eines Journalisten erhalten, während die Reichsregierung nur eine entschärfte Fassung der Ansprache an das nach China zur Niederschlagung des "Boxeraufstandes" entsandte deutsche Expeditionscorps verbreiten ließ. Die umgangssprachlich "Boxer" genannten chinesischen Rebellen waren Mitglieder des Geheimbundes "Fäuste der Rechtlichkeit und Eintracht". Sie erhoben sich gegen die weißen Kolonialherren im Reich der Mitte und wurden von den damaligen Großmächten mit großer Grausamkeit bekämpft.

Offizieller Anlass für die Entsendung deutscher Soldaten nach China war die heimtückische Ermordung des Gesandten Clemens von Ketteler am 20. Juni 1900 in Peking. An der militärischen Intervention waren Truppen aus dem Deutschen Reich, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Österreich-Ungarn, Russland und den USA beteiligt. Deutschland beanspruchte nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem Tod seines Gesandten bei der Strafaktion eine Führungsrolle. Wilhelm II., der eine gute Gelegenheit sah, der Welt die Größe und Militärkraft seines an die "Sonne" strebenden Reiches zu demonstrieren, gelang es, dass dem ehemaligen deutschen Generalstabschef Feldmarschall Alfred Graf von Waldersee der Oberbefehl über das gemeinsame Expeditionsheer übertragen wurde. Die militärischen Auseinandersetzungen endeten mit der Eroberung von Peking und der Niederlage der Chinesen. Die Kaiserinwitwe Cixi floh mit ihrem Hofstaat aus der Hauptstadt, die von den Eroberern drei Tage lang geplündert wurde.

Barbarische Vergeltung

Da die Europäer für sich in Anspruch nahmen, die Krone der Zivilisation zu sein, wurde dies barbarische, an antike und mittelalterliche Praktiken erinnernde Vergeltung in den Heimatländern je nach politischem Standpunkt mit Entsetzen beziehungsweise mit Genugtuung aufgenommen. Manche Deutsche sahen ganz im Sine ihres Kaisers die Niederschlagung des Boxeraufstandes als gerechte Strafe für die "chinesischen Barbaren" und wünschten sich, dass auch im Reich der Mitte der Schlachtruf "Deutschland Deutschland über alles" voll zur Geltung komme. Als gäbe es keine Schranken mehr, tobten sich einzelne Truppenteile regelrecht aus, es kam zu Mord und Todschlag, zu Plünderungen und Vergewaltigungen. Militärs rechneten für einen getöteten "Boxer" fünfzehn weitere Unbeteiligte hinzu, meist Leute aus den unteren Volksschichten.

Das im September 1901 beschlossene "Boxerprotokoll" nötigte unter anderem die chinesische Regierung, für den Mord an Ketteler beim deutschen Kaiser um Entschuldigung zu bitten, eine Sühnegesandtschaft nach Berlin zu entsenden und ein Denkmal an der Stelle des tödlichen Anschlags zu errichten. China wurde verpflichtet, Reparationen in Höhe von 1,4 Milliarden Goldmark sowie Entschädigungen an betroffene Ausländer zu zahlen. Im September 1901 wurde durch Prinz Chun II. in Potsdam der zeremonielle "Sühneakt" vollzogen. Dem Bruder des chinesischen Kaisers blieb erspart, im Grottensaal des Neuen Palais vor dem deutschen Kaiser niederzuknien. In der deutschen Presse wurde das demutsvolle Erscheinen des Prinzen vor Wilhelm II. mit Genugtuung registriert, doch gab es auch Kritiker, die das Verfahren als besonders demütigend und übertrieben ablehnten und neues Ungemach mit den Chinesen voraussagten.

Von der Hunnenrede des deutschen Kaisers gibt es verschiedene Versionen. Eine Fassung lautet: "Kommt ihr vor den Feind, so wird derselbe geschlagen! Pardon wird nicht gegeben, Gefangene nicht gemacht. Wer Euch in die Hände fällt, sei in Eurer Hand. Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch in der Überlieferung gewaltig erscheinen lässt, so möge der Name Deutschland in China in einer solchen Weise bekannt werden, dass niemals wieder ein Chinese es wagt, einen Deutschen auch nur scheel anzusehen!" Unverhohlen forderte der Kaiser seine Soldaten auf, Chinesen zu töten, wo immer sie vor deutsche Gewehre kommen. Die ganz auf erbarmungslose Eliminierung des Gegners abzielende und von den deutschen Kommandeuren als Befehl verstandene Hunnenrede war eine Provokation, denn 1899, also ein Jahr zuvor, hatte eine internationale Friedenskonferenz in Den Haag auf Anregung des russischen Zaren Nikolaus II. zur friedlichen Regelung internationaler Streitfälle aufgerufen. Die Haager Landkriegsordnung von 1899, die 1907 noch einmal modifiziert und ergänzt wurde, legte unter anderem den Schutz der Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten, die Unversehrtheit neutraler Staaten, den Verzicht auf Gas- sowie Dum-Dum-Geschosse, den humanen Umgang mit Kriegsgefangenen, die Respektierung von Bauwerken und Kulturdenkmälern und andere Prinzipien fest. Leider wurden die seinerzeit von der internationalen Friedensbewegung begrüßten Regeln bereits im Ersten Weltkrieg und den anderen Kriegen des 20. und des 21. Jahrhunderts über den Haufen geworfen, und auch die Genfer Konvention von 1949 zur Behandlung von Kriegsgefangenen und Verwundeten sowie über die Behandlung von Zivilpersonen in Kriegszeiten wurde im Bedarfsfall außer Kraft gesetzt.

Kaiserliches Steckenpferd

Des Kaisers Steckenpferd war die Flotte. In seinen Augen lag die Zukunft der Deutschen "auf dem Wasser". Auseinandersetzungen mit den anderen See- und Kolonialmächten waren unausweichlich, zumal sich das Deutsche Reich verspätet, aber umso intensiver einen beachtlichen Kolonialbesitz aneignete und auch vor Völkermord in Afrika und Asien nicht zurück schreckte. Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg legte der Versailler Friedensvertrag fest, dass das Deutsche Reich, das durch die Novemberevolution von 1918 eine Republik geworden war, seinen Kolonialbesitz verliert. Bis in die Zeit des Nationalsozialismus hinein gab es Bestrebungen von Kolonialvereinen, vor allem die Gebiete in Afrika wieder zurückzubekommen und neue zu erwerben.

Bis heute wird Wilhelm II. mit dem Satz "Wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne" in Verbindung gebracht. Dieser zum geflügelten Wort gewordene Ausspruch stammt allerdings nicht vom Kaiser, sondern von seinem Reichskanzler Bernhard von Bülow. Er erklärte am 6. Dezember 1897 im Reichstag mit Blick auf die Besitzergreifung des chinesischen Gebiets Kiautschou durch deutsche Truppen, Deutschland sei gern bereit, in Ostasien den Interessen anderer Großmächte Rechnung zu tragen in der sicheren Voraussicht, dass unsere eigenen Interessen gleichfalls die ihnen gebührende Würdigung finden. Allerdings verlange das Reich, wie die anderen Mächte einen Platz an der Sonne zu bekommen, also etwas von dem Kuchen zu nehmen, den Kolonialländer wie Frankreich, Russland, Belgien, Niederlande, Spanien und Portugal unter sich aufgeteilt haben. Der Kaiser war fest entschlossen, einmal eingenommenes oder erobertes Gebiet nicht mehr aufzugeben. In einem Geleitwort zu einem Buch von Georg Franzius über das Pachtgebiet Kiautschou erklärte Wilhelm II. kategorisch: "Wo ein deutscher Mann in treuer Pflichterfüllung für sein Vaterland fallend begraben liegt, und wo der deutsche Aar seine Fänge in ein Land geschlagen hat, das Land ist deutsch und wir deutsch bleiben!"

Nach der Reichseinigung von 1871 mühte sich das neue deutsche Kaiserreich um den Erwerb von Kolonien zuerst in Afrika und dann in Asien und in der Südsee. Unter Wilhelm II. gelang es dem Deutschen Reich 1898, das 515 Quadratkilometer große Pachtgebiet Kiautschou mit der Hauptstadt Tsingtau und einigen vorgelagerten Inseln an der chinesischen Ostküste für 99 Jahre als Hafen und Handelsplatz pachten. Der Pachtvertrag wurde der chinesischen Regierung als "strenge Sühne" für die Ermordung von zwei katholischen Missionaren abgetrotzt, war aber auch ein Art Dank für die deutsche Hilfe beim Abschluss eines Friedenvertrags nach dem chinesisch-japanischen Krieg im Jahr 1894. Der Vertrag sah unter anderem die Absetzung und Bestrafung des der Ruchlosigkeit beschuldigten Gouverneurs von Chantung und weitere Beamter, ferner Entschädigungszahlungen an die katholische Mission sowie die Errichtung von Kirchen und Wohnhäusern als Sühne für die Mordtaten vor. Die Regierung in Peking verpflichtete sich, keine Hoheitsrechte im nunmehr deutschen Pachtgebiet auszuüben und den Bau einer Eisenbahnlinie zu gestatten, die Kiautschou mit dem Eisenbahnnetz im Reich der Mitte bis nach Europa verbindet. Eine solche Bahnfahrt nach Berlin soll 13 Wochen gedauert haben!

Großes Verlustgeschäft

In Kiautschou wurde deutsches Recht eingeführt, die Hauptstadt Tsingtau bestand aus einem mit Wohn- und Verwaltungsbauten sowie Kasernen, Schulen, Missionsstationen und Fabriken im wilhelminischen Stil bestehenden deutschen Stadtteil sowie chinesischen Vierteln. Zu Beginn der Pachtzeit lebten etwa 83 000 Menschen in Kiautschou. Tsingtau schwoll von 15 600 Einwohnern im Jahr 1902 auf mehr als 55 00 im Jahr 1913 an. Insgesamt wurden 1914 200 000 Bewohner in dem Pachtgebiet gezählt. Mit Beginn des Ersten Weltkriegs (1914-1918) endete auch die deutsche Kolonialgeschichte im Reich der Mitte. Mit Waffengewalt gelang es den Japanern, den erbitterten Widerstand der eingeschlossenen Deutschen zu brechen. Während viele Überlebende in japanische Kriegsgefangenschaft gingen, besetzten Truppen des Tennos das ehemalige deutsche Pachtgebiet, das erst 1922 an China zurück gegeben wurde.

Von der finanziellen und wirtschaftlichen Seite aus gesehen war der deutsche Stützpunkt Kiautschou ein Verlustgeschäft. Die Erwartungen des Kaisers und der Reichsregierung, von dem Stützpunkt am Gelben Meer aus würde sich ein riesiger chinesischer Markt für deutsche Waren eröffnen, erwies sich als Fehlschlag, denn das Pachtgebiet kostete mehr als es einbrachte, es war ein Fass ohne Boden. In den ersten zehn Jahren beliefen sich die Zuschüsse des Deutschen Reichs auf hundert Millionen Mark, doch nur ein Zehntel dieser damals gewaltigen Summe floss nach Berlin zurück.

(Über die in Berlin speziell für Kiautschou geprägten Münzen siehe Eintrag auf dieser Internetseite Rubrik Münzen und Medaillen vom 26. Februar 2017)

6. März 2017



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