"Das hat uns hart gemacht"
Reichsführer SS Heinrich Himmler schwor 1943 in Posen seine Leute auf mitleidloses Morden ein



Dem Massenmörder Heinrich Himmler, genannt Leichenheini, war das Schicksal von Millionen Menschen und die Schinderei in den Konzentrationslagern völlig egal. In seinen Schriften und Reden forderte der oberste Bürokrat des Todes seine Leute auf, beim Morden und Quälen äußerste Härte anzuwenden. Mit abrasiertem Bart geriet er im Mai 1945 in britische Gefangenschaft und wurde als ehemaliger Reichsführer SS erkannt. Als er eine Zyankalikapsel zerbiss, trat der Tod schnell ein. Das Gerichtsverfahren in Nürnberg und die Hinrichtung blieben ihm so erspart.



Gefangene mussten die Spurten der Massenerschießungen durch "Enterdung" tilgen. Doch wurde der perfide Plan durch den Vormarsch der Roten Armee nur unvollständig verwirklicht werden.



"Hier wütete Himmlers Mordzentrale" heißt es auf einem Plakat an den Mauerresten der Gestapo- und SS-Zentrale in der Berliner Wilhelm- und Prinz-Albrecht-Straße. Auf dem Gelände informiert heute die Topographie des Terrors über die Verbrechen des Nationalsozialismus.



Die Freiluftausstellung "Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion 1941 - 1945" am Potsdamer Platz zeigte 2016 mit erschreckenden Aussagen und Bildern, dass er ein Krieg mit dem Ziel der Vernichtung war, "ein Krieg, brutaler und barbarischer als je ein Krieg zuvor: Schier unfassbar die Zahl der Menschen, die ihm zum Opfer fielen: mindestens 27 Millionen Sowjetbürger, überwiegend Zivilisten - ermordet von Deutschen, verhungert oder erfroren", wie Kulturstaatsministerin Monika Grütters bei der Eröffnung sagte. (Foto/Repros: Caspar)

Am 4. und 6. Oktober 1943 hielt Reichsführer SS Heinrich Himmler im Rathaus von Posen zwei Geheimreden, die zu den wichtigsten Dokumenten zum deutschen Vernichtungskrieg im Osten und den Massenmord an den Juden gehört. "Leichenheini", wie man insgeheim Himmler nannte, sprach vor höheren SS-Leuten, als die deutsche Kriegsführung im Osten bereits große Rückschläge hinnehmen musste und die Anti-Hitler-Koalition auf dem Vormarsch war. Davon unbeeindruckt lief der Massenmord an den Juden und weiteren "Fremdvölkischen" auf vollen Touren. Doch es regte sich Widerstand. Es gab Aufstände im Warschauer Ghetto, in Treblinka und in Sobibor, außerdem widersetzten sich jüdische Bewohner von Bia?ystok der Auflösung ihres Ghettos. In Dänemark verhalf die Bevölkerung den meisten zur Verhaftung vorgesehenen dänischen Juden zur Flucht. Im Inland verurteilte die katholische Kirche die Ermordung von Alten und Kranken sowie von Juden, Sinti und Roma.

Himmler hatte allen Grund, seine Leute auf den Vernichtungskrieg im Osten einzuschwören und ihnen moralische Bedenken zu nehmen. Von seiner dreistündigen Rede am 4. Oktober 1943 existiert in den SS-Akten eine maschinenschriftliche Endfassung von 115 Seiten (ein Blatt ging verloren), die als Dokument 1919-PS beim Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vorlag. Am 23. Verhandlungstag wurde eine Passage daraus zitiert, die jedoch nicht den Holocaust betraf. Dabei setzte Himmler die Erfahrungen seiner Zuhörer mit Massenerschießungen, Ghettoauflösungen und Vernichtungslagern beziehungsweise ihre Kenntnis über sie voraus. Er rechtfertigte bereits verübte Verbrechen und bereitete seine Zuhörer auf weitere vor. Zur "Ausrottung des jüdischen Volkes" sagte Himmler, sie gehöre zu den Dingen, die man leicht ausspricht. "‚Das jüdische Volk wird ausgerottet', sagt ein jeder Parteigenosse‚ ‚ganz klar, steht in unserem Programm, Ausschaltung der Juden, Ausrottung, machen wir.' […] Von allen, die so reden, hat keiner zugesehen, keiner hat es durchgestanden. Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei - abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen - anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht und ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte. Denn wir wissen, wie schwer wir uns täten, wenn wir heute noch in jeder Stadt - bei den Bombenangriffen, bei den Lasten und bei den Entbehrungen des Krieges - noch die Juden als Geheimsaboteure, Agitatoren und Hetzer hätten. Wir würden wahrscheinlich jetzt in das Stadium des Jahres 1916/17 gekommen sein, wenn die Juden noch im deutschen Volkskörper säßen."

Ehrlich, anständig, treu und kameradschaftlich

Unmissverständlich legte Himmler fest: "Ein Grundsatz muss für den SS-Mann absolut gelten: ehrlich, anständig, treu und kameradschaftlich haben wir zu Angehörigen unseres eigenen Blutes zu sein und sonst zu niemandem. Wie es den Russen geht, wie es den Tschechen geht, ist mir total gleichgültig. Das, was in den Völkern an gutem Blut unserer Art vorhanden ist, werden wir uns holen, indem wir ihnen, wenn notwendig, die Kinder rauben und sie bei uns großziehen. Ob die anderen Völker in Wohlstand leben oder ob sie verrecken vor Hunger, das interessiert mich nur soweit, als wir sie als Sklaven für unsere Kultur brauchen, anders interessiert mich das nicht. Ob bei dem Bau eines Panzergrabens 10.000 russische Weiber an Entkräftung umfallen oder nicht, interessiert mich nur insoweit, als der Panzergraben für Deutschland fertig wird."

In seiner Rede vom 6. Oktober 1943 forderte Himmler, der das Wort "anständig" gern benutzte, seine Zuhörer zum Stillschweigen über das auf, was er zu sagen hat. "Es trat an uns die Frage heran: Wie ist es mit den Frauen und Kindern? - Ich habe mich entschlossen, auch hier eine ganz klare Lösung zu finden. Ich hielt mich nämlich nicht für berechtigt, die Männer auszurotten - sprich also, umzubringen oder umbringen zu lassen - und die Rächer in Gestalt der Kinder für unsere Söhne und Enkel groß werden zu lassen. Es musste der schwere Entschluss gefasst werden, dieses Volk von der Erde verschwinden zu lassen. Für die Organisation, die den Auftrag durchführen musste, war es der schwerste, den wir bisher hatten. […] Die Judenfrage in den von uns besetzten Ländern wird bis Ende dieses Jahres erledigt sein. Es werden nur Restbestände von einzelnen Juden übrig bleiben, die untergeschlüpft sind."

Es hat nicht an Versuchen gefehlt, beide Reden als Fälschungen abzuqualifizieren. Doch steht außer Frage, dass sie gehalten wurden. Propagandaminister Goebbels war Zuhörer der zweiten Himmler-Rede und kommentierte sie am 9. Oktober 1943 in seinem Tagebuch so: "Was die Judenfrage anlangt, so gibt er darüber ein ganz ungeschminktes und freimütiges Bild. Er ist der Überzeugung, dass wir die Judenfrage bis Ende dieses Jahres lösen können. Er tritt für die radikalste und härteste Lösung ein, nämlich dafür, das Judentum mit Kind und Kegel auszurotten. Sicherlich ist das eine wenn auch brutale, so doch konsequente Lösung. Denn wir müssen schon die Verantwortung dafür übernehmen, dass diese Frage zu unserer Zeit ganz gelöst wird. Spätere Geschlechter werden sich sicherlich nicht mehr mit dem Mut und der Besessenheit an dies Problem heranwagen, wie wir das heute noch tun können."

Ausrotten mit Kind und Kegel

Ein anderer Zuhörer war Hitlers Lieblingsarchitekt und Rüstungsminister Albert Speer. Obwohl er stets leugnete, während der NS-Zeit von der Judenvernichtung gewusst zu haben, belegen Dokumente und Aktivitäten das Gegenteil. In einem Schreiben vom 23. Dezember 1971 gesteht der gelegentlich als "guter Nazi" bezeichnete Speer ein: "Es besteht kein Zweifel, ich war zugegen, als Himmler am 6. Oktober 1943 ankündigte, dass alle Juden umgebracht werden würden." Da es dem ehemaligen Rüstungsminister beim Nürnberger Kriegsverbrecherprozess gelang, sich als unpolitischer Technokrat und fehlgeleiteter Idealist zu stilisieren und seine Mitwirkung am Ausbau des KZ-System und der Vertreibung der Berliner Juden aus ihren Wohnungen zu verschleiern vermochte, kam er mit 20 Jahren Zuchthaus davon, die er im Spandauer Kriegsverbrechergefängnis bis 1966 absitzen musste.

Nachdem sich 1943 durch die Schlacht von Stalingrad das deutsche "Kriegsglück" gewendet hatte und die Wehrmacht nur noch auf dem Rückzug war, wurde in der SS-Führung überlegt, wie man im Osten die Spuren des Massenmords an Zivilisten und Soldaten tilgen kann. Im Rahmen der Sonderaktion 1005, auch Aktion 1005 oder Enterdungsaktion genannt, wurden die Massengräber vorwiegend in der Ukraine und in Polen mit den Leichen der ermordeten Juden sowie von Kriegsgefangenen geöffnet. An geheimen Orten mussten Gefangene die Leichen unter den Augen der SS sowie der Ordnungspolizei verbrennen. Himmler befahl im Mai 1943 die "Abäscherung" der gesamten Ostfront. Darunter wurde die Zerkleinerung der menschlichen Asche mit dem Ziel verstanden, dass niemand mehr erkennen kann, wie viele Körper verbrannt worden waren. Chef der Enterdungsaktion war SS-Standartenführer Paul Blobel. Er wurde 1948 im Einsatzgruppenprozess zum Tod verurteilt und 1951 hingerichtet. Zum Massenmord an den Juden fiel ihm nichts anderes ein als diese Erklärung: "Ich muss sagen, das unsere Männer, die daran teilgenommen haben, mehr mit den Nerven runter waren als diejenigen, die dort erschossen wurden." Blobel behauptete, das von ihm geleitete Sonderkommando 4a habe nicht, wie von der Anklage vorgetragen, 60.000, sondern maximal "nur" 10.000 bis 15.000 Menschen erschossen. Die Hinrichtung von Agenten, Partisanen, Saboteuren, von der Spionage und Sabotage verdächtigen Elementen und solcher Personen, die das deutsche Heer schädigten, sei von der Haager Konvention gedeckt gewesen. Vor seiner Hinrichtung sagte der frühere SS-Standartenführer und Kommandeur des Massakers von Babi Jar bei Kiew im Jahr 1941 mit fast 34 000 Toten sowie weiterer Massenerschießungen: "Nun haben mich Disziplin und Treue an den Galgen gebracht."

"Alle bekommen Orden, nur Pappi nicht"

Überliefert ist, dass Heinrich Himmler mindestens einer Massenerschießung beigewohnt und sich angewidert abgewandt hat. Seine damals noch kleine Tochter nahm er bisweilen zur Besichtigung von Konzentrationslagern mit. Das manchmal "kleine SS-Prinzessin" genannte Mädchen notierte 1941 nach einem Besuch des KZ Dachau in ihrem Tagebuch: "Heute haben wir das Konzentrationslager in Dachau besucht. Wir schauten uns so viel an, wie wir konnten. Wir sahen die Gartenarbeiten. Wir sahen die Birnbäume. […] Wir sahen all die Bilder, die Häftlinge gemalt haben. Wunderbar." Gudrun Burwitz, geborene Himmler, sah in ihrem Vater keinen Massenmörder und Sadisten, sondern mühte sich um seine Reinwaschung, verkehrte in Alt- und Neonazikreisen, half verurteilten Nazi-Tätern und war in der Wiking-Jugend (WJ) aktiv. Die 1952 gegründet neonazistische Kinder- und Jugendorganisation wurde erst 1994 verboten. Ein großes Anliegen war für Himmlers unbelehrbare Tochter die "Stille Hilfe für Kriegsgefangene und Internierte". Der Verein mit diesem Namen war jahrzehntelang als "gemeinnützig" anerkannt, und er hat selbst grausamste NS-Täter zu Opfern stilisiert, die Unterstützung benötigen. Sie war schon als Kind stolz, Tochter eines berühmten Mannes zu sein. Deshalb ärgerte sich, dass man ihn nicht angemessen ausgezeichnet hat. In ihrem Tagebuch, das auf Umwegen der Öffentlichkeit zugänglich geworden war, schrieb sie: "Alle bekommen Orden und Auszeichnungen, nur Pappi nicht. Und der müsste am Ersten eine bekommen."

3. Oktober 2017

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