Rinnsteinkunst als Gütesiegel
Was Wilhelm II. anno 1901 in den Dreck zog, nimmt heute Ehrenplätze in großen Museen ein



Gut altdeutsch, gefällig und schon gar nicht umstürzlerisch sollte die Kunst sein, für die sich Wilhelm II. und seinesgleichen einsetzten.



"Diese moderne Kunst ist entsetzlich", sagte die Landesfürstin im Satireblatt "Simplicissimus" einem ehrerbietig dastehenden Künstler, und fügt hinzu: "Und dabei hat mein Mann so oft gesagt, w i e sie malen sollen!"



Der oberste Kunstwart des Deutschen Reiches, Wilhelm II., ist mit hochgezwirbeltem Bart auf einem Reservistenkrug abgebildet.



Reste der Berliner Siegesallee fanden mit weiteren von Straßen und Plätzen entfernten Skulpturen Asyl in der Spandauer Zitadelle.



Auf jeden Torso passen wahlweise Herrscher-, Feldherren- und andere Köpfe, dem andauernd Denkmäler enthüllenden Kaiser dürfte solcher Spott nicht gefallen haben. (Fotos/Repros: Caspar)

Als nach der Inauguration des neuen US-Präsidenten am 20. Januar 2017 in Washington und anderen amerikanischen Städten hunderttausende Frauen mit roten und rosa Strickmützen zum Protest gegen Donald Trump zusammen kamen, wurden Plakate mit der Aufschrift "I AM A NASTY WOMAN" (Ich bin eine böse, gemeine, fiese, scheußliche, ekelhafte Frau) in Anspielung auf eine Frechheit hochgehalten, die sich der damalige Präsidentschaftskandidat gegenüber seiner Rivalin Hillary Clinton erlaubt hatte. "Nasty Woman" avancierte binnen kurzer Zeit dank Trump zu einer Art Ehrentitel und wird so schnell nicht aus dem amerikanischen Protestvokabular verschwinden, so wie auch jene auffällig gefärbten Mützen wohl noch eine Weile bei Demonstrationen zu sehen sein werden. In Frankreich waren es während und nach der Revolution von 1789 rote Freiheitsmützen, die erzürnte und mit Mistgabeln und Spießen bewaffnete Menschen auf dem Kopf trugen, wenn sie sich vor den Palästen ihrer Unterdrücker und Ausbeuter versammelten. Bereits in der Antike waren diese Kopfbedeckungen als "phrygische Mützen" bekannt, gut zu erkennen an dem Zipfel, der in die Stirn fällt.

Wandel der Begriffe

Wenn man sich ein wenig in der Geschichte umschaut, dann findet man weitere Beispiele für die Umwandlung ehrabschneidender Wörter in Ehrentitel. Erinnert sei an die Hugenotten, die ihren Namen von "herumirrenden Hugos" angeleitetet haben sollen, und an die Sansculotten aus der Französischen Revolution von 1789, die keine seidenen Beinkleider wie Adlige und vornehme Bürgersleute trugen, sondern röhrenartige Arbeitshosen und daher mit der Behauptung verspottet wurden, sie würden ganz ohne ("sans") Hosen herumlaufen. Der verächtlich auf Freiheitskämpfer gemünzte niederländische Begriff Geusen wird vom französischen Wort "gueux" für Bettler abgeleitet. Diese Menschen nahmen der abschätzigen Einstufung die Spitze, indem sie sie stolz und mit ganzem Herzen auf sich wie einen Adelstitel bezogen. So könnte man bei längerem Suchen auf weitere Begriffe stoßen, die ursprünglich beleidigend und zweideutig gemeint waren, dann aber eine Umwandlung ins Positive erfuhren.

Ein solches Beispiel ist aus der neueren deutschen Geschichte bekannt. Kaiser Wilhelm II., 1888 auf den Thron gelangt und 1918 zur Abdankung genötigt, hielt sich für einen großen Kunstkenner. Kein bedeutendes Bauwerk, kein Denkmal von Rang, das nicht von ihm genehmigt und manchmal auch korrigiert und "verschönt" worden wäre. Mit wachsendem Ärger beobachtete der von sich selbst überzeugte und vorwiegend von Hofschranzen und kriecherischen Jasagern umschwärmte Monarch, dass sich außerhalb des von ihm vorgegebenen Rahmens neue Kunstformen entwickeln, die sein Auge und seinen Geschmack beleidigen. Zum Abschluss der Arbeiten an der Berliner Siegesallee, einer Ansammlung marmorner Fürstenfiguren und ihrer Paladine, die die Geschichte Brandenburg und Preußens geprägt haben, hielt der auch Denkmalwilly (wegen der vielen Denkmäler, die er einweihte) und Reisekaiser (wegen seiner ausgeprägten Reiselust) genannte Herrscher eine Brandrede gegen die Moderne, in der auch das böse Wort Rinnsteinkunst fiel.

Als am 18. Dezember 1901 die letzte Denkmalgruppe enthüllt wurde, war der Kaiser des Lobes voll. Endlich war er am Ziel, jetzt konnte die Welt sehen, welch großer Mäzen und Kunstkenner die Deutschen regiert. Hatte er doch der Stadt Berlin ein "Ehrengeschenk" spendiert, das als Puppenallee schnell populär wurde, aber wegen seiner Einförmigkeit und Serienmäßigkeit der stocksteif aufgereihten Marmorstatuen sogleich Kritiker auf den Plan rief. Der Kaiser, von der hohen Qualität der heute nur in Resten in der Spandauer Zitadelle aufgestellten Siegesallee überzeugt, nahm die Gelegenheit wahr, es all den undankbaren, unsensibelen und ignoranten Banausen und Kritikastern einmal richtig zu zeigen, all den Möchtegernkünstlern, die in seinen Augen unfähig waren, die Größe des kaiserlichen Gabe zu verstehen.

Kaiserlicher Zorn

Bei einem Festbankett für die Schöpfer der Siegesallee im Berliner Schloss hielt Wilhelm II. eine Ansprache, in der er gegen "so genannte moderne Richtungen und Strömungen" wetterte. Nachdem der erste Kunstwart des Deutschen Reiches den neben ihm sitzenden Hofbildhauer Reinhold Begas als künstlerischen Leiter des Projekts über den grünen Klee gelobt hatte und der Siegesallee die Qualität der Schöpfungen eines Phidias und Michelangelo bescheinigt hatte, legte der zornige Kaiser als unumstößliches Gesetz fest: "Eine Kunst, die sich über die von mir bezeichneten Gesetze und Schranken hinwegsetzt, ist keine Kunst mehr, ist Fabrikat, ist Gewerbe, und das darf die Kunst nie werden. […] Wenn nun die Kunst, wie es jetzt vielfach geschieht, weiter nichts tut, als das Elend noch scheußlicher hinzustellen als es schon ist, dann versündigt sie sich damit am deutschen Volke. Die Pflege der Ideale ist zugleich die größte Kulturarbeit, und wenn wir hierin den anderen Völkern ein Muster sein und bleiben wollen, so muss das ganze Volk daran mitarbeiten, und so soll die Kultur ihre Arbeit voll erfüllen, dann muss sie bis in die untersten Schichten des Volkes hindurchgedrungen sein. Das kann sie nur, wenn die Kunst die Hand dazu bietet, wenn sie erhebt, statt dass sie in den Rinnstein niedersteigt!"

Viele ins Visier genommene Literaten und bildende Künstler standen in einem, wie der Monarch meinte, krassen Gegensatz zu dem, was er unter ästhetisch, schön, christlich, erbaulich, vornehm, nützlich, patriotisch, kurzum als echt deutsch ansah. Wilhelm II. entfesselte einen Feldzug gegen französische und andere Impressionisten und ließ in der Berliner Nationalgalerie deren Bilder abhängen. Die Gescholtenen nahmen es gelassen. Der diskriminierende Begriff Rinnsteinkunst avancierte zu einer Art Gütesiegel und Ehrentitel. Die Rinnsteinkünstler sollten Recht behalten, denn sie haben Bestand, während die vom Kaiser bevorzugten Staatskünstler in der Regel vergessen sind.

In der Zeit des Nationalsozialismus gingen Hitler, Goebbels und ihre willigen Helfer massiv und mit demagogischen Parolen gegen so genannte Entartete vor, stellten nicht in ihr rassistisches und völkisches Weltbild passende Maler, Bildhauer, Literaten, Musiker und Künstler an den Pranger, verfolgten sie, trieben sie ins Exil oder in die innere Emigration und löschen auch deren Leben aus. Wenn heute jemand sagt, das sei ein Werk eines/einer Entarteten, weiß man sofort Bescheid.

25. Januar 2017



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