Beim Selbstmord hielt die DDR einen traurigen Rekord
Da das Problem kein gutes Licht auf das Land warf, wurden die alarmierenden Daten unter Verschluss gehalten <

Wenig schmeichelhaft für die Zustände im ersten Staat der Arbeiter und Bauern auf deutschem Boden, wie sich die DDR bis zu ihrem Ende 1990 nannte, ist seine extrem hohe Selbstmordrate. Darüber zu sprechen, dazu Fragen zu stellen und Schlussfolgerungen für Politik, Wirtschaft und Lebensweise zu ziehen, wurde von den Staatsorganen und dem Ministerium für Staatssicherheit als Verleumdung und Hetze bewertet und strikt unterbunden und geahndet. Gegenüber der als "imperialistisch" verleumdeten Bundesrepublik Deutschland lagen die Selbstmordraten in der DDR etwa eineinhalbmal höher, hat der Leipziger Historiker und Biochemiker Udo Grashoff ermittelt. Auch im weltweiten Vergleich nahm hier die DDR einen Spitzenplatz ein. Zwar teilten die statistischen Jahrbücher der DDR alles Mögliche und

Unmögliche mit, vor allem geschönte Angaben über Wirtschaftskraft der DDR und die Produktionsleistungen ihrer Werktätigen, und die Propaganda pries das wunderbare Leben zwischen Elbe und Oder, Rügen und Thüringer Wald, doch wird man Daten über die Selbtsttötungen man dort vergeblich suchen. Grashoff zufolge enthält die geheim gehaltene Selbsttötungsstatistik der DDR pro Jahr zwischen 3000 und 6000 Fälle, die "mit großer Wahrscheinlichkeit unabhängig vom politischen System" zu verzeichnen waren. Staatliche Repression, politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Widersprüche und Probleme, aber auch persönliche Perspektivlosigkeit brachten Menschen dazu, Hand an sich zu legen.

In einem Anfall von Depression

Das von Grashoff verfasste Buch "In einem Anfall von Depression - Selbsttötungen in der DDR" ist Resultat einer Dissertation und erschien 2006 im Chr. Links Verlag Berlin (ISBN: 978-3-86153-420-4). Der Autor hat mehrere tausend Suizidfälle ausgewertet und legt erstmals eine Analyse des Selbstmordgeschehens für die gesamte Zeit der DDR vor. Anhand bisher unveröffentlichter Materialien analysiert er die unterschiedlichen Formen von Selbsttötungen und arbeitet die Ursachen in privaten und in politischen Bereichen heraus, die zeitweilig zu gehäuften Selbsttötungen führten. Grashoff erteilt Suizidopfern "post mortem" das Wort. Er tut das mit dem Abdruck von Abschiedsbriefen, die er gelesen und analysiert hat. In einem schreibt eine junge Frau: "Ich kann so nicht mehr leben. Ich bin völlig fertig. Der Tod ist der einzige Ausweg. Mir tun nur meine Eltern leid, sie haben es nicht verdient, dass ihre Tochter einen solchen Weg geht. Vielleicht ist es möglich, dass sie von allem nichts erfahren. Vielleicht könnte man ihnen sagen, ich sei mit einem Auto tödlich verunglückt oder so, ich möchte auf keinen Fall, dass sie erfahren, dass ich Selbstmord begangen habe." Der Brief wurde verfasst, nachdem sie einen sowjetischen Soldaten zu Unrecht wegen Vergewaltigung angezeigt hatte.

Die Abschiedsbriefe lassen allerdings Schlüsse auf die Beweggründe nur bedingt zu. Wenige nennen die bedrückenden Verhältnisse in der DDR, um diesen letzten Schritt zu tun. Die Schreiber wollten ihre Angehörigen nicht belasten, wenn sie Klage über menschenunwürdige Zustände und/oder Repression führten. Die einzigen markant nachweisbaren Zusammenhänge zwischen Politik und Selbstmord sind laut Grashoff für die Jahre 1960/61 sowie 1991 festzustellen. Dass Anfang der 1960-er Jahre die Selbstmordrate um fast zehn Prozent anstieg, könnte eine Folge der Zwangskollektivierung oder/und des Mauerbau gewesen sein, schreibt er. Durch die veränderten Verhältnisse im wiedervereinigten Deutschland brachten sich Funktionäre des ehemaligen SED-Regimes um, weil sie für sich keine persönliche und berufliche Perspektive mehr sahen. Die Hauptverantwortlichen an dem Desaster des zweiten deutschen Staates kamen, wenn überhaupt, mit gelinden Gefängnisstrafen davon und starben friedlich im Bet beziehungsweise führen heute ein gutbürgerliches Leben mit Kontakt zu alten Genossen.

Verhängnisvolle Folgen der Vertreibung

Viele Selbstmorde gab es bei und nach der unter chaotischen Umständen erfolgten Vertreibung von DDR-Bewohnern, die in der Nähe zur innerdeutschen Grenze lebten und arbeiteten. Im Rahmen der "Aktion Ungeziefer" mussten sie im Sommer 1952 binnen weniger Stunden Haus, Hof und Arbeitsstelle verlassen und wurden im Inneren der DDR neu angesiedelt. Betroffen waren über 2400 Familien mit etwa 8400 Angehörigen. Volkspolizei und Staatssicherheit brachen den Widerstand der im Grenzgebiet wohnenden Menschen. Die meisten nahmen das schreiende Unrecht und die Diffamierungen nicht hin, sondern flohen in den Westen, manche brachten sich in ihrer Verzweiflung um. Die ostdeutschen Behörden verteufelten die Widerspenstigen im Stil der Nazi-Propaganda als verräterisches Gesindel, Ungeziefer, Volksschädlinge und ehemalige Nazis.

Anhand von Polizeiberichten aus dem Bezirk Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) kann das bei der Zwangskollektivierung im Frühjahr 1960 erzeugte suizidale Klima minutiös nachgewiesen werden. Das stimmt mit den in bundesdeutschen Publikationen veröffentlichten Berichten über Verzweiflungstaten von Bauern überein, die dem massiven Druck durch SED-Agitatoren nicht mehr standhalten konnten und wollten. "Die Gesamtzahl der Selbsttötungen war jedoch, in Relation zur Suizidrate, recht gering. Wahrscheinlicher ist ein suizidogener Effekt durch den Mauerbau, da sich bei einer regionalen Analyse gezeigt hat, dass der Zuwachs der Suizidrate in den mauernahen Bezirken Potsdam, Frankfurt/Oder und Ost-Berlin am stärksten war. Erstaunlicherweise wirkten sich andere gravierende Ereignisse wie z. B. der Volksaufstand am 17. Juni 1953 nicht statistisch aus, obgleich bekannt ist, dass sich nach der Niederschlagung des Aufstands verhaftete Demonstranten in Einzelfällen (Berlin, Bitterfeld, Niesky) in der Untersuchungshaft das Leben nahmen", stellt Grashoff fest.

Grashoff hat die Suizidhäufigkeit in drei Sektoren hinterfragt, und zwar in der Nationalen Volksarmee, in Haftanstalten und in Schulen. Zwischen 1960 und 1972 sank die Suizidrate in den Haftanstalten um fast zwei Drittel. Lag sie um 1960 mit etwa 100 noch sehr hoch, so unterschied sich die unter Inhaftierten in der Ära Honecker ab 1971 kaum noch von der durchschnittlichen Suizidhäufigkeit in der DDR. Ein ähnliches Ergebnis liefern auch die Statistiken der Nationalen Volksarmee. Grashoff führt das auf "Homogenisierungstendenzen" innerhalb der DDR-Gesellschaft zurück. 1977 erging die amtliche Anordnung, dass den fünf medizinischen Instituten, die bisher die geheimen Zahlen für Forschungszwecke verwenden durften, diese verweigert werden, was zu vielfältigen Spekulationen über das Ausmaß der Selbsttötungen und die Motive der betreffenden Personen führte, sich das Leben zu nehmen.

"Ihr sollt an unseren Tränen ersaufen"

Spektakuläre Selbstmorde wie die öffentliche Selbstverbrennung des Zeitzer Pfarrers Oskar Brüsewitz im August 1976 und nach ihm des im sächsischen Falkenstein amtierenden Pfarrers Rolf Günter im September 1978 brachten aus unterschiedlichen Motiven das Regime und die evangelische Kirche in Bedrängnis. Nach dem politisch motivierten Selbstmord von Brüsewitz entfachte die SED eine Welle des Hasses gegen den Geistlichen, der schlicht für verrückt erklärt wurde. Der Geistliche hatte eine Tafel mit der Aufschrift "Die Kirche in der DDR klagt den Kommunismus an! Wegen Unterdrückung in Schulen an Kindern und Jugendlichen" neben sich zu stehen, als er auf diese spektakuläre Weise aus dem Leben schied. Das SED-Regime bemühte sich, dieses öffentliche, im Westen breit diskutierte Fanal als Wahnsinnstat herunterzuspielen, und leugnete jeden politischen Hintergrund. Das Ministerium für Staatssicherheit wertete beobachtete die Vorgänge genau und kam zu dem Schluss, dass die weiter angestiegene Zahl von Suizidversuchen und -absichten als "Ausdruck der Ausweglosigkeit, Labilität, Resignation sowie nicht bewältigter persönlicher, beruflicher und gesellschaftlicher Konflikte unter einem Teil des operativ interessierenden Personenkreises zu werten" ist.

Als Selbstmord im Gefängnis wurde der Tod des Bürgerrechtlers Matthias Domaschk am 12. April in Gera ausgegeben. In den Blick der Stasi geraten, wurde er am 10. April 1981 auf dem Weg mit einem Freund nach zu einer Geburtstagsfeier nach Ostberlin unter dem Vorwurf verhaftet, sie hätten den eben beginnenden X. Parteitag der SED stören wollen. In der Stasi-Untersuchungshaftanstalt in Gera schrieb der junge Mann nach stundenlangen Verhören und psychisch unter Druck eine handschriftliche Verpflichtung zur inoffiziellen Mitarbeit für das MfS. Dann aber soll er sich im Gefängnis erhängt haben, so die offizieller Version der Stasi, die aber von seinen Freunden bis heute nicht geglaubt wurde. Zur Trauerfeier in Jena kamen etwa 150 junge Leute. Eine junge Frau rief dabei "Ihr sollt an unseren Tränen ersaufen." Jahrelang später war der ungeklärte Tod des Matthias Domaschk in Jena, und nicht nur dort, ein Thema, sein Grab wurde zu einer von der Stasi überwachten und immer wieder gestörten Stätte stillen Gedenkens. "Domaschk war kein singulärer Fall, wenn er auch mehr Öffentlichkeit als andere Opfer bekam. In den Wahnsinn und in den Suizid wurde 1981 auch Thomas Heinemann aus dem Umfeld von Schorlemmer getrieben, als das MfS ihn wegen abgeschriebener Texte von Fuchs verhörte. (Siehe Ehrhart Neubert: Geschichte der Opposition in der DDR, hrsg. von der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1997, S. 283 und 433).

Angesichts der hohen Gesamtsuizidrate geht Grashoff der Frage nach, wie sich diese Daten, die der SED-Führung bekannt waren, auf deren Politik ausgewirkt hat. "Zu verzeichnen ist auf der einen Seite eine Vogel-Strauß-Politik, wie sie auch in anderen Politikfeldern praktiziert wurde. So führte der Anstieg der Suizidrate nach dem Mauerbau zur Geheimhaltung der Suizidstatistiken, die von der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik in Berlin jährlich, in Auswertung der Befunde von Leichenschauärzten, Gerichtsmedizinern und kriminalpolizeilichen Untersuchungen, mit nahezu preußischer Gründlichkeit erstellt wurden. Die Begründung für die Sekretierung der Daten war, dass man der Berichterstattung westlicher Medien über Suizide von DDR-Bürgern aus Verzweiflung über den Mauerbau den Boden entziehen wollte. Bemerkenswert ist, dass die SED diese Maßnahme nicht schon 1962, sondern erst 1963 verhängte, als klar wurde, dass die Suizidrate der DDR tatsächlich angestiegen war."

Bloß keine grundsätzliche Kritik

Gegen Ende der 1960-er Jahre wurde das Tabu etwas gelockert. Vor allem Psychiater und Psychologen, die sich als Teil der internationalen Bewegung zur Verhinderung von Suiziden engagierten, hätten versucht, ein DDR-weites Programm zur Suizidprävention einzuleiten, das mit Unterstützung des DDR-Gesundheitsministeriums ansatzweise realisiert wurde. Selbst SED- und Staatschef Walter Ulbricht habe sich zeitweilig für die Problematik interessiert. So habe es Anfang der 1970-er Jahre für die medizinische Suizidforschung der DDR eine Art Blütezeit gegeben. Es fanden Tagungen und Kongresse statt, in Fachzeitschriften konnte über Ursachen und Motive suizidalen Verhaltens publiziert werden. Sogar die Gegenwartsliteratur nahm sich des Themas an. So fand Günter Görlichs Roman "Eine Anzeige in der Zeitung" Eingang in die Vorbereitungsmaterialien des VIII. Pädagogischen Kongresses (1978). Görlich geht darin den Gründen nach, die einen Lehrer in den Selbstmord treiben. Die alles in allem positive Haltung der SED und der Volksbildungsministerin Margot Honecker zu diesem Buch, aber auch die Veröffentlichung weiterer Romane und Erzählungen mit diesem Thema zeigen, dass die Politik das Thema ernst nahm. Allerdings ließ sie die oft in ihnen mehr oder weniger direkt vorgetragene Kritik an den von ihr verantworteten politischen Verhältnissen nicht zu.

Das Thema Suizid in der DDR verdient es, dass es weiter vertiefend untersucht wird. So muss nachgefragt werden, was hinter den geheimen Statistiken konkret steht, was Krankheiten, Beziehungsprobleme, beengte Wohnverhältnisse, Unzufriedenheit am Arbeitsplatz, die Unmöglichkeit des Reisens in den deutschen Westen und in westliche Länder und weiter offene Fragen Menschen jeden Alters dazu brachten, sich das Leben zu nehmen und welche Antworten SED und Regierung dazu hatten.

6. September 2017

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