Der gute Nazi und der Nerobefehl
Hitlers Lieblingsarchitekt und Rüstungsminister Albert Speer kam beim Nürnberger Kriegsverbrechertribunal mit 20 Jahren Zuchthaus gut weg und startete nach seiner Entlassung 1966 eine zweite Karriere



Als Rüstungsminister hatte Albert Speer eine ungeheure Machtfülle in der Hand, und da will er nichts von Zwangsarbeit unter unmenschlichen Bedingungen gewusst haben?



Bei der Besichtigung von und Debatten über Bauprojekte war Hitlers Lieblingsarchitekt seinem Führer ganz nah, erst als das "Dritte Reich" dem Untergang entgegen taumelte, gab es zwischen beiden eine Entfremdung.



Der Starbildhauer Arno Breker modelliert den Kopf des Stararchitekten Albert Speer.



Das Modell der Großen Halle mit dem Reichsadler udn Hakenkreuz auf der Spitze und weiterer Bauten für die Welthauptstadt Germania in einer Ausstellung der "Berliner Unterwelten" in den Katakomben des Bahnhofs Gesundbrunnen.



Albert Speer schmuggelte mit Hilfe von Freunden aus dem Spandauer Kriegsverbrechergefängnis Tagebuch- und andere Aufzeichnungen, aus denen er nach seiner Haftentlassung viel gelesene Rechtfertigungsbücher machte. Diese ließen ihn zu einem wohlhabenden Mann werden.



Dass der ehemalige Rüstungsminister vor dem Nürnberger Kriegsverbrechertribunal im Unterschied zu den anderen Angeklagten so etwas wie Schuld bekannte, bewahrte ihn vor dem Tod am Galgen. (Foto/Repros: Caspar)

In dem Film "Der Untergang" aus dem Jahr 2004 über die letzten Tage der Reichskanzlei im Frühjahr 1945 gibt es eine Szene, in der Rüstungsminister Albert Speer seinen obersten Befehlshaber Adolf Hitler inständig bittet, seine Anweisung zur systematischen Zerstörung von militärisch und wirtschaftlich wichtigen Objekten zurückzunehmen. Ob dieses Gespräch, in dem Speer bekennt, die Ausführung dieser später Nerobefehl genanten Anordnung sabotiert zu haben, wenige Wochen vor dem Ende des Naziregimes und des Zweiten Weltkriegs in dieser Form stattgefunden hat, ja dass es überhaupt ein solches Gespräch gab, ist nicht bekannt. Speer, der schon bald nach der Errichtung der NS-Diktatur im Jahre 1933 eine steile Karriere als Hitlers Lieblingsarchitekt und Vertrauter startete, bekommt von seinem obersten Befehlshaber eine schroffe Abfuhr, bleibt aber am Leben. Hätten andere Nazifunktionäre und Militärs eine solche Befehlsverweigerung gewagt, wären sie ganz gewiss vor ein Standgericht gestellt und hingerichtet worden. Das hatte es immer wieder gegeben.

Der von Bruno Ganz verkörperte, von einem Bunkerbewohner als "kuchenverschlingende menschliche Ruine" bezeichnete Hitler jedoch verzichtet, Speer tief in die Augen blickend, auf eine Bestrafung und lässt seinen Intimus unwirsch gehen. Die beiden sehen sich nie wieder. Im Bunker der Berliner Reichskanzlei verschanzt, soll Hitler zu Speer gesagt haben, wenn der Krieg verloren geht, werde auch das deutsche Volk verloren sein. "Dieses Schicksal ist unabwendbar. Es ist nicht notwendig, auf die Grundlagen, die das Volk zu seinem primitivsten Weiterleben braucht, Rücksicht zu nehmen. Im Gegenteil, es ist besser, selbst diese Dinge zu zerstören." Das deutsche Volk habe sich dann als das schwächere erwiesen, und dem stärkeren Ostvolk gehöre ausschließlich die Zukunft. Was nach dem Krieg übrig bleibt, seien ohnehin nur die Minderwertigen, denn die Guten seien gefallen.

Der ehemalige Rüstungsminister und Stararchitekt Albert Speer, der vor dem Nürnberger Kriegsverbrechertribunal Hitler mit diesen abgrundtief zynischen Worten zitiert, war nicht der einzige, der sich dem Nerobefehl verweigerte, aber er war der einzige, der dafür nicht zur Verantwortung gezogen wurde. Hitlers Anordnung, dem Feind nur noch verbrannte Erde zu hinterlassen, beginnt mit der Behauptung, der Kampf um die Existenz des deutschen Volkes zwinge auch innerhalb des Reichsgebietes zur Ausnutzung aller Mittel, "die die Kampfkraft unseres Feindes schwächen und sein weiteres Vordringen behindern. Alle Möglichkeiten, der Schlagkraft des Feindes unmittelbar oder mittelbar den nachhaltigsten Schaden zuzufügen, müssen ausgenutzt werden." Es sei ein Irrtum zu glauben, nicht zerstörte oder nur kurzfristig gelähmte Verkehrs-, Nachrichten-, Industrie- und Versorgungsanlagen bei der Rückgewinnung verlorener Gebiete für eigene Zwecke wieder in Betrieb nehmen zu können. Konkret ordnete Hitler an, alle militärischen Verkehrs-, Nachrichten-, Industrie- und Versorgungsanlagen sowie Sachwerte innerhalb des Reichsgebietes zu zerstören, die sich der Feind zur Fortsetzung seines Kampfes irgendwie sofort oder in absehbarer Zeit nutzbar machen kann.

Eine deutsche Karriere

Der Vernichtungsbefehl vom 19. März 1945 erhielt nach dem Zweiten Weltkrieg den Namen des römischen Kaisers Nero. Der mit großen Gaben ausgestatteten Claudius Drusus Augustus Germanicus, wie Nero offiziell hieß, schwankte zwischen Genie und Wahnsinn und wurde zum Opfer seiner selbst. Der Herrscher dilettierte als Sänger und Schauspieler, Maler und Bildhauer und nahm persönlich an Wagenrennen teil. In der eigenen Familie verbreitete er Angst und Schrecken. Verwandte und Freunde wurden in seinem Auftrag ermordet oder zum Selbstmord getrieben. Bis heute hält sich das Gerücht, der vom Verfolgungswahn befallene Despot habe seine eigene Hauptstadt anzünden lassen, um sie prächtiger als je zuvor wieder aufbauen zu können. Natürlich gab er sich als Brandstifter nicht zu erkennen, hingegen schob er die Schuld den damals in der Illegalität befindlichen Christen in die Schuhe und ließ viele von ihnen hinrichten. Von seinen Gegnern in die Enge getrieben, sah sich der als Gott verehrte Möchtegernkünstler genötigt, sich in der Nähe von Rom selbst zu entleiben.

Doch ist es überhaupt denkbar, dass sich der Führer und Oberbefehlshaber die Befehlsverweigerung seines Lieblingsarchitekten wirklich gefallen ließ, oder ist das nur eine Erfindung, eine Schutzbehauptung, durch die sich Albert Speer vor dem Gericht als "guter Nazi" in Szene setzte? Zweifel an Speers Darstellung, seinem Führer ins Gesicht gesagt zu haben, dass er jenen Befehl unterlaufen hat, sind angebracht, doch steht außer Frage, dass der sich eloquent und zugänglich gebende Speer mit einer Verurteilung zu 20 Jahren Zuchthaus bestens bedient war und nach seiner Entlassung 1966 aus dem Spandauer Kriegsverbrechergefängnis eine neue Karriere startete, die eines erfolgreichen Buchautors und gefragten Gesprächspartners sowohl von sensationsgierigen Journalisten als auch von ernstzunehmenden Historikern, Museumsleuten und Filmemachern. All das machte den in die Freiheit und das liberale Klima der Bundesrepublik Deutschland entlassenen Apologeten seiner selbst zu einem wohlhabenden Mann.

Zwar haben ihm hochrangige Politiker wie Helmut Schmidt und Helmut Kohl keinen Orden verliehen, ihn aber mit freundlichen Briefen und Blumengebinden bedacht, wie am 31. Mai 2017 der Historiker Magnus Brechtken vom Münchner Institut für Zeitgeschichte und Autor des neuen Buches "Albert Speer: Eine deutsche Karriere" (Siedler Verlag München, ISBN: 9783827500403) in einem Gespräch mit der Kulturzeit von 3sat betonte. Der renommierte Zeithistoriker schildert darin, wie es Speer gelang, die Legende von sich als unpolitischen Technokraten zu verbreiten und wie Millionen Deutsche dieses falsche Bild aufnahmen, um sich selbst zu entlasten. Auf der Basis jahrelanger Recherchen und vieler bislang unbekannter Quellen schildert der Verfasser zugleich, dass unzählige Leute Speers Märchen übernahmen und wie selbst einflussreiche Intellektuelle wie der Publizist Joachim Fest und sein Verleger Wolf Jobst Siedler an dieser Legendenbildung strickten.

Manche mochten sich entlastet fühlen

Die von dem ehemaligen Architekten und Rüstungsminister in seinen die grausigen Tatsachen beschönigenden und verdrehenden Büchern verbreitete und von Historikern und Journalisten mehr oder weniger kritisch kolportierte Legende, er habe am Kriegsende in die Bunkeranlagen unter der Neuen Reichskanzlei Giftgas einleiten und damit Hitler und einige seiner Getreuen töten wollen, wird von Historikern bezweifelt und als Versuch angesehen, sich als Gegner seines Herrn in letzter Minute, gar als Widerstandskämpfer zu stilisieren. Als einziger, der in Nürnberg kleinlaut ein Stück Mitschuld an der Katastrophe bekannte, kam Speer mit 20 Jahren Haft im Spandauer Kriegsverbrechergefängnis glimpflich davon und wurde am 30. September 1966 von dort entlassen. Wäre in Nürnberg Speers Rolle vor allem bei der brutalen Ausbeutung von Kriegsgefangenen und Sklavenarbeitern in den ihm unterstehenden Rüstungsfabriken untersucht worden und hätten die Richter auch genauer nachgefragt, was Speer und seine Leute taten, um "judenfrei" gemachte Wohnungen in Berlin an Ausgebombte abzugeben, und welche Rolle die Deportationen von Juden in die Vernichtungslager bei den gigantomanischen Planungen von Hitler und Speer für die "Welthaupstadt Germania" und der Lösung der Wohnungsfrage spielten, wäre ihm der Strang gewiss gewesen. Lediglich die sowjetische Vertretung im Gericht forderte für alle Angeklagten also auch für Speer die Todesstrafe, doch waren andere Richter für ein milderes Urteil.

Dass Albert Speer in Nürnberg Schuld auf sich nahm im Unterschied zu seinen halsstarrigen, unbelehrbaren Mitangeklagten, aber zugleich dem Gericht weiszumachen vermochte, den Umfang der Kriegsverbrechen und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht gekannt zu haben, machte in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit durchaus Eindruck. Manche Deutsche waren nur ungern bereit, sich mit den Geschehnissen zwischen 1933 und 1945 und der eigenen Schuld zu befassen, sie schauten lieber nach vorn. Unter Hinweis auf Speer und seinesgleichen konnte man sagen "Wenn der und die nichts wussten, wie hätten wir kleine Lichter etwas wissen können?". Hilfreich bei solchen Ausreden waren Publizisten wie Joachim Fest, die in ihren Büchern fleißig die Legende vom "guten Nazi", fehlgeleiteten Idealisten und unpolitischen Technokraten Albert Speer verbreiteten und zu belegen versuchten, er habe nichts gewusst. Er wies von sich auf andere, etwa auf Fritz Sauckel, der als Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz die Rekrutierung von Millionen Zwangsarbeitern zuständig war und im Verein mit Speer und anderen Naziverbrechern den Krieg zu verlängern half.

Dass Speer nichts von den Massenmorden an den Juden gewusst habe, ist wie die Geschichte vom Giftgasanschlag auf Hitlers Bunker eine langlebige Legende. Am 4. und 6. Oktober 1943 hielt Reichsführer SS Heinrich Himmler im Rathaus von Posen zwei Geheimreden, die zu den wichtigsten Dokumenten für den deutschen Vernichtungskrieg im Osten und den Massenmord an den Juden gehören. Der insgeheim Leichenheini genannte Himmler sprach zu hohen Sicherheitsoffizieren und Regierungsvertretern in einer Zeit, als die deutsche Kriegsführung bereits große Rückschläge hinnehmen musste und die Anti-Hitler-Koalition auf dem Vormarsch war. Gerade fanden Aufstände im Warschauer Ghetto, in Treblinka und in Sobibor statt, außerdem widersetzten sich jüdische Bewohner von Bialystok der Auflösung ihres Ghettos. In Dänemark verhalf die Bevölkerung vielen zur Deportation in die Vernichtungslager bestimmten dänischen Juden zur Flucht, und im Inland verurteilte die Kirche die Ermordung von Kranken sowie von Juden, Sinti und Roma.

Himmlers Aufruf zum Massenmord Von der dreistündigen Rede am 4. Oktober 1943 existiert in den SS-Akten eine maschinenschriftliche Endfassung von 115 Seiten (ein Blatt ging verloren), die als Dokument 1919-PS beim Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vorlag. Himmler rechtfertigte die Verbrechen der SS und bereitete seine Zuhörer auf weitere vor. Die "Ausrottung des jüdischen Volkes" gehöre zu den Dingen, die man leicht ausspricht, sagte er. "‚Das jüdische Volk wird ausgerottet', sagt ein jeder Parteigenosse‚ ‚ganz klar, steht in unserem Programm, Ausschaltung der Juden, Ausrottung, machen wir.' […] Von allen, die so reden, hat keiner zugesehen, keiner hat es durchgestanden. Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei - abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen - anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht und ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte."

Am 6. Oktober 1943 forderte Himmler, der das Wort "anständig" gern benutzte, seine Zuhörer zum Stillschweigen über das auf, was er zu sagen hat. "Es trat an uns die Frage heran: Wie ist es mit den Frauen und Kindern? - Ich habe mich entschlossen, auch hier eine ganz klare Lösung zu finden. Ich hielt mich nämlich nicht für berechtigt, die Männer auszurotten - sprich also, umzubringen oder umbringen zu lassen - und die Rächer in Gestalt der Kinder für unsere Söhne und Enkel groß werden zu lassen. Es musste der schwere Entschluss gefasst werden, dieses Volk von der Erde verschwinden zu lassen. Für die Organisation, die den Auftrag durchführen musste, war es der schwerste, den wir bisher hatten." Himmler kündigte an, die "Judenfrage" in den besetzten Ländern bis Ende 1943 erledigen zu wollen.

Leugnen hilft nichts

Es hat nicht an Versuchen gefehlt, beide Reden und weitere Äußerungen dieser Art als Fälschungen abzuqualifizieren. Doch steht außer Frage, dass sie gehalten wurden. Propagandaminister Goebbels war Zuhörer der zweiten Himmler-Rede und kommentierte sie am 9. Oktober 1943 in seinem Tagebuch so: "Was die Judenfrage anlangt, so gibt er darüber ein ganz ungeschminktes und freimütiges Bild. Er ist der Überzeugung, dass wir die Judenfrage bis Ende dieses Jahres lösen können. Er tritt für die radikalste und härteste Lösung ein, nämlich dafür, das Judentum mit Kind und Kegel auszurotten. Sicherlich ist das eine wenn auch brutale, so doch konsequente Lösung. Denn wir müssen schon die Verantwortung dafür übernehmen, dass diese Frage zu unserer Zeit ganz gelöst wird. Spätere Geschlechter werden sich sicherlich nicht mehr mit dem Mut und der Besessenheit an dies Problem heranwagen, wie wir das heute noch tun können." Ein anderer Zuhörer war Rüstungsminister Albert Speer. Obwohl er stets leugnete, während der NS-Zeit von der Judenvernichtung gewusst zu haben, belegen Dokumente und Aktivitäten das Gegenteil. In einem Schreiben vom 23. Dezember 1971 räumte er ein: "Es besteht kein Zweifel, ich war zugegen, als Himmler am 6. Oktober 1943 ankündigte, dass alle Juden umgebracht werden würden."

1. Juni 2017

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