Ungarn öffnet den Eisernen Vorhang
Eine spektakuläre Aktion im Sommer 1989 machte für tausende DDR-Touristen den Weg in den Westen frei



Die Außenminister Alois Mock (links) und Guyla Horn zerschneiden den Granzzaun zwischen Österreich und Ungarn und öffnen damit ein Tor durch den Eisernen Vorhang.



Nachdem der Stacheldraht an der ungarisch-österreichischen Grenze zerschnitten war, konnten zahlreiche Ostdeutsche in die Alpenrepublik fliehen. Die DDR-Führung schäumte vor Wut.



Mit diesem Plakat mit dem Motto "Baue ab und nimm mit!" luden Otto Habsburg, Abgeordneter im Europaparlament, und andere Persönlichkeiten zum Europäischen Picknick am 19. August 1989 nach Sopron ein.



Der Deutsche Bundestag erinnert in deutscher und ungarischer Sprache an die Initiative Ungarns zur Öffnung der Grenze zwischen Osten und Westen. (Foto/Repros: Caspar)

Die Volksrepublik Ungarn, seit Jahren bei den Ostdeutschen als Urlaubsland und Inbegriff des "Gulaschkommunismus" beliebt, befand sich 1989 in einer prekären wirtschaftlichen Lage. Um sie zu überwinden, entschlossen sich einige Reformpolitiker, die Situation durch Angebote an die Bevölkerung zu entspannen. Bereits am 24. Februar 1989 hatte zum Entsetzen der SED-Führung die Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei (USAP) auf ihren in der Verfassung verankerten Führungsanspruch verzichtet. Schon bald folgten die Lockerung des Grenzregimes gegenüber dem benachbarten Österreich sowie generell eine Annäherung an den Westen, von dem sich die Regierung in Budapest unter anderem Wirtschaftshilfe versprach. Dass sich die aktuelle Führung der ungarischen Republik gegenüber Zuwanderern und Flüchtlingen ausgesprochen feindselig verhält und ihren vertraglichen Verpflichtungen für das Land als Mitglied der Europäischen Union nicht nachkommen will, steht auf einem anderen Blatt und war 1989 noch nicht abzusehen.

Diese von der Moskauer Führung mit Gorbatschow an der Spitze als unausweichlich akzeptierte Entwicklung wurde in Ostberlin mit äußerstem Unbehagen beobachtet. Erich Honecker erkannte in den ungarischen Liberalisierungstendenzen eine große Gefahr. Der SED-Partei- und Staatschef sprach intern von spürbarer Erosion der sozialistischen Machtverhältnisse, Errungenschaften und Werte und rief, seine Möglichkeiten verkennend, zur "Verteidigung der sozialistischen Gesellschaftsverhältnisse" auf. Da die Sowjetunion auf ihr bisheriges, in der so genannten Breschnew-Doktrin verankertes Recht verzichtet hatte, sich in die Angelegenheiten der sozialistischen Bruderländer einzumischen, hatte die DDR keine Möglichkeit zur direkten Intervention. Wie hätte sie diese auch durchsetzen können? Alles, was in Ostberlin zum Thema Ungarn sagen konnte, waren Appelle an "politische Vernunft" und Warnungen in Richtung Budapest, auf keinen Fall sozialistische Positionen nicht aufzugeben. Die Wirtschaftskraft der DDR war allerdings zu gering, um den Ungarn lukrative Angebote zur Verbesserung ihrer Lage machen zu können. Als das Land aus der Bundesrepublik Zahlungen erhielt, wütete die SED-Presse und sprach von Käuflichkeit für ein paar Silberlinge.

Bilder jubelnder DDR-Bewohner gingen um die Welt

Unter den Augen von Fernsehteams aus aller Welt begannen ungarische Grenzsoldaten am 2. Mai 1989 damit, die 345 Kilometer langen Grenzanlagen zu Österreich abzubauen. Die medienwirksame Durchtrennung des Stacheldrahts und damit die Öffnung des Eisernen Vorhangs blieben dank Übertragungen im Westfernsehen in der DDR nicht verborgen und zeigten Wirkung. Zahlreiche Bewohner des zweiten deutschen Staates schöpften Hoffnung, einigermaßen gefahrlos und ohne die erniedrigende Prozedur einer Antragstellung auf "ständige Ausreise" in den Westen zu kommen, und machten sich über die ?SSR nach Ungarn auf den Weg, eine andere Art der Reise nach Budapest, an den Plattensee und die Pusta gab es nicht. In einem symbolischen Akt trennten am 27. Juni 1989 der ungarische Außenminister Gyula Horn und sein österreichischer Kollege Alois Mock den Stacheldraht, um zu unterstreichen, dass mit dem Abbau der Grenzanlagen nun wirklich ernst gemacht wird. Bilder jubelnder DDR-Bewohner, die mit dem Auto oder zu Fuß die Grenze passierten, gingen um die Welt. Manche hatten ihre Kinder auf der Schulter und nur das Nötigste in den Händen. Wichtig war für alle, dass sie in Freiheit waren.

DDR-Verteidigungsminister Heinz Kessler, einer der Hardliner aus der Honecker-Riege, konnte die SED- und Staatsspitze zunächst dahingehend beruhigen, dass es sich beim Zerschneiden des Drahts nur um eine "grenzkosmetische Maßnahme" handle und die ungarische Regierung DDR-Flüchtlingen weiterhin den Weg in den Western versperren würde. Grundlage dafür und für die Auslieferung von so genannten Republikflüchtlingen war ein geheimes Regierungsabkommen von 1969, und in der Tat wurden in den Jahren danach hunderte DDR-Bewohner nach Ostberlin abgeschoben und dort wegen versuchter Republikflucht zu hohen Haftstrafen verurteilt. Indem sich Ungarn im Frühjahr 1989 zur Genfer Flüchtlingskonvention bekannte, nahm das Land offiziell von der Auslieferung von Flüchtlingen Abstand, doch es kam weiterhin vor, dass sich DDR-Bürger statt im Westen plötzlich im Gewahrsam der Staatssicherheit wiederfanden.

Zuflucht in Botschaften in Budapest und Prag

Aus Furcht, zurück in die Heimat ausgewiesen oder dorthin verschleppt zu werden, flüchteten hunderte Familien oft mit kleinen Kindern sowie einzelne Personen in die Botschaften der Bundesrepublik in Budapest und Prag sowie trotz eines Kordons von Sicherheitskräften in die Ständige Vertretung der Bundesrepublik an der Hannoverschen Straße in Ostberlin. Das schuf zusätzlichen Zündstoff und führte zur zeitweiligen Schließung dieser Anlaufstellen. Politikern in der Bundesrepublik blieb nichts anderes übrig als, von den Ereignissen erschreckt, die "Brüder und Schwestern" im Osten aufzurufen, im Lande zu bleiben und sich in Geduld zu üben. In der Bundesrepublik entwickelte sich eine peinliche Diskussion darüber, ob und wie viele Ostdeutsche aufgenommen werden könnten und sollten.

An jenem 19. August 1989 wurde nahe Sopron ein Grenztor für drei Stunden geöffnet. Mehr als 600 DDR-Urlauber, die durch Mund-zu-Mund-Propaganda und durch Flugblätter auf das Ereignis aufmerksam gemacht worden waren, nutzten die Gelegenheit zur Flucht nach Österreich. Besonnen reagierten die ungarischen Grenzer, trotz eines noch bestehenden Schießbefehls griffen sie nicht ein. In den folgenden Tagen versuchten tausende in der Nähe wartende DDR-Bewohner ebenfalls den Grenzübertritt, doch jetzt wurde ihnen die Flucht von den Grenzern verwehrt.

Wie die Wiener KRONEN-ZEITUNG am 20. September 1989 berichtete, hatten Vertreter des Malterserordens die in der Nähe auf eine günstige Gelegenheit zum Grenzübertritt wartenden DDR-Urlauber informiert, dass das jetzt möglich sei. "Viele der DDR-Bürger ließen ihre Wagen einige Kilometer vom Grenzzaun entfernt stehen und kämpften sich dann durch das hohe Gras weiter durch. Um 15 Uhr, als das Tor an der Ödenburger Straße geöffnet werden sollte, kamen Männer und Frauen mit ihren Kindern auf dem Arm gelaufen und stießen das noch nicht völlig geöffnete Tor auf. Die fünf ungarischen Zöllner, die zur Passkontrolle eingeteilt waren, konnten die Massenflucht nicht verhindern. Bis in die Abendstunden riss der Strom der Flüchtlinge nicht ab. Insgesamt zählten die österreichischen Behörden mehr als 500 Menschen, die innerhalb von nur drei Stunden entkommen waren. Die Gendarmerie organisierte eiligst mehrere Busse, mit denen die Flüchtlinge noch in den Abendstunden des Samstags zur Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Wien-Landstraße gefahren wurden. Die Leute sollen nach kurzem Aufenthalt in der Bundeshauptstadt in das Auffanglager Gießen bei Frankfurt überstellt werden."

Paneuropäisches Picknick

Die Öffnung der Grenze an jenem 19. August 1989 ging als "Paneuropäisches Picknick" in die Geschichte ein. Geladen hatte Otto von Habsburg, ein Enkel des letzten österreichisch-ungarischen Kaisers Karl I., und die österreichische Pan-Europa-Union sowie ungarische Oppositionelle in den Wald von Sopron, dem ehemaligen Ödenburg. Jährlich am 19. August, dem Tag des Paneuropäischen Picknicks, finden Gedenkfeiern bei Sopron statt. Dabei wird die Bedeutung dieser Initiative für das Schicksal der kommunistischen Regimes in Osteuropa und speziell der DDR gewürdigt. Deren Führer waren außer sich vor Zorn, doch war ihr Arm zu kurz, um die ungarische Regierung zur Schließung der Grenze zu veranlassen. Erich Honecker behauptete, seine Untertanen seien mit Geschenken und Deutscher Mark, also Westmark, zu der spektakulären Aktion gelockt worden.

Mitte August 1989 entschloss sich die Bundesregierung, aufgerüttelt durch Fernsehberichte über die unhaltbaren Zustände im Bereich ihrer Botschaften sowie durch Klagen von Fluchtwilligen über, wie sie sagten, Passivität der Diplomaten, zu einer Kurskorrektur. Nach und nach erhielten in Budapest wartende DDR-Bewohner bundesdeutsche Pässe. Doch da diese keinen ungarischen Stempel trugen, der zur Einreise berechtigte, konnten die Inhaber der Ausweise auch nicht in das Land verlassen und nach Österreich beziehungsweise die Bundesrepublik fahren. Die Lage der Wartenden war verzweifelt und spitzte sich in den folgenden Wochen dramatisch zu.

Ungarn blieb nicht auf halbem Wege stehen. Nach dem erfolgreichen Probelauf bei Sopron öffnete sie am 11. September 1989 die Grenze zu Österreich komplett und ließ die DDR-Bürger fluten, so eine Beschreibung von damals. Zuvor hatte Außenminister Horn bei einem geheimen Treffen auf Schloss Gymnich bei Bonn Bundeskanzler Kohl und Außenminister Genscher angekündigt, den in Ungarn befindlichen DDR-Bürgern aus humanitären Gründen die Ausreise in ein Land ihrer Wahl zu gestatten. Kohl verpflichtete seine engsten Mitarbeiter zu striktem Stillschweigen, es musste alles getan werden, "um das äußerst gespannte Verhältnis zwischen Budapest und Ost-Berlin nicht weiter zu verschärfen. Wenn ich damals gewusst hätte, was die Ost-Berliner Führung alles unternahm, um die Regierenden in Budapest dazu zu bewegen die Flüchtlinge in die DDR zurückzuschicken, hätte ich unserem Geheimtreffen kaum eine Chance gegeben." Die ungarische Seite hielt mit Klagen über innere Schwierigkeiten nicht hinterm Berg. Unklar war, wie die Sowjets auf eine Öffnung der Grenze reagieren würden. Immerhin standen 200 000 sowjetische Soldaten in Ungarn, so Kohl in seinem Rückblick. Mit Befriedigung nahm er die Ankündigung von Ministerpräsident Miklós Németh zur Kenntnis, für Ungarn käme eine Abschiebung der Flüchtlinge zurück in die DDR nicht in Frage, die Grenzen würden geöffnet und das werde auch so bleiben, "wenn uns keine militärische oder politische Kraft von außen zu einem anderen Verhalten zwingt".

Finanzhilfe aus Bonn

In diesem Moment sei ihm, Kohl, deutlicher denn je geworden, wie wichtig und richtig es war, dass wir all die Jahre an der einen deutschen Staatsbürgerschaft festgehalten hatten und auch nicht den Forderungen aus Ost-Berlin und der Opposition und weiter Teile der Grünen, die sich mit der Teilung unseres Landes längst arrangiert hatten, gefolgt waren, eine eigene Staatsbürgerschaft anzuerkennen. Der Gedanke, dass all diese Deutschen, die in Ungarn und anderswo ihre Ausreise in die Freiheit herbei sehnten, als Ausländer einen Antrag auf politisches Asyl hätten stellen müssen, war laut Kohl absurd und unerträglich.

Der Dank aus Bonn für das ungarische Entgegenkommen folgte auf den Fuß in Gestalt eines Kredits in Höhe von 500 Millionen DM und weiteren Hilfszusagen. Zwar betonte Ministerpräsident Németh, Ungarn verkaufe keine Menschen, aber die Unterstützung war für das wirtschaftlich angeschlagene Land von großer Bedeutung. Wichtig war für den Bundeskanzler, was Gorbatschow zu der ungarischen Zusage sagen würde, seine Grenzen für DDR-Flüchtlinge öffnen zu wollen. Der sowjetische Partei- und Staatschef, telefonisch von Kohl informiert, habe zunächst geschwiegen und dann gesagt: "Die Ungarn sind gute Leute". Für ihn, Kohl, sei klar gewesen, dass der Segen aus Moskau für das SED-Regime der unweigerliche Anfang vom Ende seiner Existenz war. Zwar versuchten Abgesandte der DDR in Ungarn, fluchtwillige Personen mit dem Versprechen der Straffreiheit zur Umkehr zu bewegen, wobei sie Zwangsmaßnahmen gegen Angehörige in der Heimat durchblicken ließen, doch hielt sich der Erfolg dieser Lockangebote in Grenzen.

12. September 2017

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