Insel im braunen Meer
Gedenkwand in der Schönhauser Allee nennt Namen von jüdischen Waisenkindern und Erziehern, die 1942 von den Nazis ermordet wurden



Vom Waisenhaus gegenüber dem Jüdischen Friedhof an der Schönhauser Allee blieb nach Kriegszerstörung, Abriss und Neubau nur diese mit einer Bild-Text-Tafel versehene Mauer erhalten.



In Ziegelsteine sind Namen und das Alter von Zöglingen und ihren Betreuern eingraviert, die 1942 von den Nazis in Riga und Auschwitz ermordet wurden.



Die Bild-Text-Tafel im Eingangsbereich des Hauses Schönhauser Allee 162 nennt die wichtigsten Daten aus der Geschichte des Auerbachschen Waisenhauses.



Das Foto von einer Lesestunde sowie weitere Bilddokumente ruft auf der Tafel an der Ziegelmauer die Zeit in Erinnerung, da das Auerbachsche Waisenhaus so etwas wie eine Insel im braunen Meer war.



Vom Bahnhof Grunewald fuhren im Zweiten Weltkrieg zahlreiche so genannte Osttransporte ab, um Juden in die Konzentrations- und Vernichtungslager zu deportieren. Rund 55 000 Opfer des nationalsozialistischen Rassenwahns starben im Gas oder unter den Kugeln der Erschießungskommandos. (Fotos: Caspar)

Im Jahr 1833 gründete Baruch Auerbach in der Rosenstraße ein Heim für jüdische Kinder, ein Elternhaus für Waisen zu schaffen, wie er sagte. Der Leiter einer 1816 gegründeten jüdischen Knabenschule legte viel Wert auf die musische Erziehung der Zöglinge. 1887 entstand das "Baruch Auerbach´sche Waisen-Erziehungs-Anstalten für jüdische Knaben und Mädchen" in einem Neubau an der Dafür wurde in der Schönhauser Allee 162, gegenüber dem Jüdischen Friedhof, ein Neubau errichtet, der 1897 eingeweiht werden konnte. Die Backsteingebäude im neogotischen Stil wurden nach Plänen der Architekten Johann Hoeniger und Jakob Sedelmeier errichtet. Für die Zöglinge gab es das Knaben- und das Mädchenhaus, die durch die Turnhalle und andere Gemeinschaftsräume miteinander verbunden waren. Den Vorplatz schmückte ein Standbild Kaiser Friedrichs III. In dem Neubau konnten mehr als 80 Waisen aufgenommen werden; ein älteres Haus in der Rosenstraße blieb als Nebenstandort erhalten. 1923 nahm auch die von Hermann Falkenberg neugegründete Liberale Synagoge Nord ihren

Nach der Errichtung der NS-Diktatur konnte das Waisenhaus fortgeführt werden, es war für die Mädchen und Jungen sowie ihrer Betreuer eine "Insel im braunen Meer", wie es der Holocaust-Überlebende Walter Frankenstein, einer der letzten Auerbacher, einmal formulierte. Am 19. Oktober 1942, ein Jahr nach der ersten Deportation von Juden aus Berlin, verließ der 21. "Osttransport" Berlin mit 959 Menschen. Unter ihnen befanden sich fast 60 Kinder zwischen zwei und 16 Jahren aus dem Auerbachschen Waisenhaus und drei ihrer Betreuer. In Riga und Umgebung wurden die meisten Verschleppten von SS-Angehörigen erschossen. Im 23. "Osttransport" vom 29. November 1942 befanden sich 998 Personen, darunter 75 Kinder im Alter von zehn Monaten bis 16 Jahren. Sie und weitere Zöglinge des Auerbach'schen Waisenhauses wurden in den Gaskammern von Auschwitz ermordet.

Namen in roten Ziegelsteinen

Die Gebäude des Waisenhauses wurden 1945 durch Kriegseinwirkungen zerstört und 1950 abgetragen, lediglich blieb ein Rest der alten Ziegelmauer erhalten. Das Grundstück wurde in DDR-Zeiten mit einer Wohnanlage überbaut. Eine Informationstafel erinnert heute an die Geschichte des Grundstücks und die mutwillige Zerstörung eines zwischenzeitlich installierten "Denkzeichens". Bereits am 27. Juni 2000 war auf der Backsteinmauer eingeweiht. Sie bestand aus einer Tafel sowie Schuhen, Bällen und Koffern aus Ton, die auf der Vorgartenmauer des neuen Wohnhauses angebracht und von Teilnehmern eines Kunstleistungskurses der Kurt-Schwitters-Oberschule angefertigt worden waren. Zum besseren Verständnis wurde an der Seite zum Gehweg eine Tafel aus Acrylglas mit folgender Inschrift befestigt: "Hier stand das Baruch Auerbachsche Waisenhaus. Zur Erinnerung an die jüdischen Kinder und Erzieher. Die Knaben und Mädchen wurden am 19. Oktober 1942 mit dem 21. Osttransport aus Berlin deportiert und kehrten nie zurück."

Um die Ecke herum, parallel zur Straße erläuterte eine kleinere Tafel, die sich Ende 2011 noch in allerdings schlechtem Zustand befand: "Schülerinnen und Schüler der Kurt Schwitters Oberschule im Auftrag des Bezirksamtes Berlin Prenzlauer Berg. Keine vier Wochen nach der Installation war die Hälfte der wie verstreut auf der Mauer befestigten "symbolischen Spielsachen" aus der Verankerung gerissen und verschwunden. Die Schülerinnen und Schüler der Kurt-Schwitters-Oberschule nahmen diese Gewalt und die Beschädigung des Erinnerns und Gedenkens nicht hin und fertigten neue Tonfiguren. Diese aber kamen in das Prenzlauer Berg Museum in der Prenzlauer Allee 227/228 und können dort mit weiteren Zeitzeugnissen besichtigt werden.

Auf Anregung von Walter Frankenstein ließ der Berliner Senat am 5. September 2011 eine Gedenktafel an der Fassade anbringen. Am 26. Juni 2014 wurde im Hof der Erinnerungsort "Ich war hier" der Künstlerin Susanne Ahner der Öffentlichkeit übergeben. In die rotbraunen Ziegelsteine sind die bislang bekannten Namen und das Alter der ermordeten Kinder sowie ihrer Betreuerinnen und Betreuer eingraviert. Die Künstlerin Susanne Ahner gewann einen vom Land Berlin ausgelobten Wettbewerb zur Erinnerung an das Waisenhaus und seine Zöglinge: "Hier habe ich gelebt" nennt die Bildhauerin ihr Werk. Bisher wurden 140 Namen und das jeweilige Alter der Kinder, Jugendlichen und deportierten Betreuer mit einer Sandstrahlpistole in die Ziegel graviert. "Ich habe mir vorgestellt, dass sich die jungen Menschen dort noch einmal verewigt haben, um zu sagen: ,Ich war hier!'", sagte die Künstlerin. Sie hofft, dass die Gedenkmauer die Erinnerung an eine menschenverachtende Zeit in Deutschland wach hält. Viele Steine sind noch unbeschriftet. Wenn man vor der Gedenkwand steht, ist zu befürchten, dass noch weitere Namen eingetragen werden müssen.

Viel Glück und Hilfe von Freunden

Der damals 90-jährige Walter Frankenstein berichtete bei der Einweihung, dass er 1936 als Jugendlicher ins Berliner Waisenhaus gekommen ist, da die Nazis Juden verboten, nichtjüdische Schulen zu besuchen. 1942 verliebt er sich in die Erzieherin Leonie Rosner und heiratet sie. Er musste Zwangsarbeit leisten, Luftschutzkeller ausbauen, aber auch Bauarbeiten im Büro von Adolf Eichmann in der Kurfürstenstraße ausführen. Walter Frankenstein tauchte 1943 in den Berliner Untergrund ab und überlebte den Holocaust wie andere Juden als "U-Boot". 1945 wanderte er nach Palästina und war dort im Bauwesen tätig, ging 1956 nach Stockholm und kam in den 1980-ern wieder nach Berlin, wo ihm zu seinem 90. Geburtstag das Bundesverdienstkreuz überreicht wurde. Das Kriegsende hatten Walter und Leonie Frankenstein in einem Bunker der Berliner U-Bahn erlebt. Meine Frau durfte sich als angebliche "Arierin" mit unseren beiden Söhnen dort aufhalten. Mich hat sie unter einem Strohsack im oberen Bett versteckt. Am 27. April 1945 haben uns dort die Russen befreit.

Auf die Frage, wie sich die Familie mehr als zwei Jahre unter ständiger Lebensgefahr im Untergrund durchschlagen konnte, woher sie die Kraft nahmen, die unglaublich extreme Zeit zu überstehen, sagte Frankenstein: "Ich spreche da gerne von vier Säulen, die uns die Zeit in der Illegalität überstehen ließen: Wir waren frech, wir hatten keine Angst, wir hatten auch sehr, sehr viel Glück und nicht zuletzt besaßen wir gute Freunde." Diesen stillen Helden, ihrem Mut und ihrer Mitmenschlichkeit wird in der Gedenkstätte neben der Blindenwerkstatt von Otto Weidt in der Rosenthaler Straße ein ergreifendes Denkmal gesetzt.

Siehe auf dieser Internetseite/Geschichte die Einträge vom 16. März 2017 über das Jüdische Waisenhaus in Berlin-Pankow sowie vom 22. Mai 2017 über die Jüdische Bauschule, an der Walter Frankenstein eine Ausbildung zur Vorbereitung auf die Auswanderung nach Palästina erhalten hat.

28. Mai 2017



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