Verfemt, geschunden, umgebracht
Vor dem Berliner Reichstagsgebäude erinnern Tafeln an die von den Nationalsozialisten verfolgten und ermordeten Abgeordneten





Die Gedenkstätte vor dem Reichstagsgebäude, heute Sitz des Deutschen Bundestags, ehrt 96 in der Zeit des Nationalsozialismus ermordete Abgeordnete.



Der Bundesadler an der Stirnseite des Plenarsaals soll die Größe einer Zweizimmerwohnung haben.



Beim Rundgang erfährt man am Modell, wie das Reichstagsgebäude entstanden ist und welche Wandlungen der Bau aus der Kaiserzeit im Laufe der Geschichte durchgemacht hat. (Fotos: Caspar)

Unmittelbar nach der Errichtung der Nazidiktatur am 30. Januar 1933 begann eine erbarmungslose Hatz auf alle, die nicht ins völkische und rassistische Weltbild der neuen Herren in der braunen Uniform passten. Vor allem Kommunisten und Sozialdemokraten waren Ziel der ersten Verhaftungswelle, der alsbald Ausgrenzung und Verfolgung der jüdischen Mitbürger und anderer Menschen folgte. Grundlage für die Terrormaßnahmen bildete das Ermächtigungsgesetz vom 23. März 1933, das dem neuen Reichskanzler und Führer der NSDAP, Adolf Hitler, unumschränkte Vollmachten gab. Während kommunistische Reichstagsabgeordnete von den Nazis daran gehindert wurden, ihr Mandat in dem unter terroristischen Bedingungen am 5. März 1933 neu gewählten Reichstag auszuüben, stimmten am 24. März 1933 einzig die Sozialdemokraten gegen das Ermächtigungsgesetz, das angeblich "zur Behebung der Not von Volk und Reich" bestimmt war, in Wirklichkeit aber die demokratischen Grundrechte der Weimarer Verfassung außer Kraft setzte und den Weg in den "Führerstaat" freimachte. Gewalt und Terror, Rassenhetze und Ausgrenzung waren nun Tür und Tor geöffnet.

Zu den aufgrund von "Sachwarzen Listen" in die Folterkeller der SA und die neu eingerichteten Konzentrationslager geworfenen Personen gehörten auch Abgeordnete des Deutschen Reichstags. Viele kamen bei quälenden Verhören um oder mussten in den Konzentrationslagern beziehungsweise Zuchthäusern ihr Leben lassen. Eine am 22. Februar 1992 von der damaligen Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth eingeweihte Tafel am Berliner Reichstagsgebäude, dem Sitz des Deutschen Bundestages, erinnert an "die in der Zeit der Gewaltherrschaft von 1933 bis 1945 ermordeten, verfolgten und verfemten Mitglieder des Reichstags der Weimarer Republik und ihre mitleidenden und mitverfolgten Familienmitglieder".

Im gleichen Jahr errichtete eine Bürgerinitiative rechts vor den Stufen des Reichstagsgebäude eine Gedenkstätte. Sie besteht aus senkrecht stehenden Eisentafeln, auf deren wie abgebrochen wirkenden Oberkanten die Namen von 96 zwischen 1933 und 1945 ermordeten Reichstagsabgeordneten geschrieben stehen. Vermerkt sind Lebensdaten, Zugehörigkeit zu einer Partei sowie Tag und Ort ihres Todes. Eine in den Boden eingelassene Tafel nennt die Bürgerinitiative "Perspektive Berlin", die das Denkmal bereits vor dem Fall der Mauer angeregt hatte, sowie den Deutschen Gewerkschaftsbund, das Bezirksamt Tiergarten, den Senat von Berlin und zahlreiche Bürgerinnen und Bürger, die das Projekt unterstützt haben.

Die Gedenktafel am Reichstagsgebäude und das von den Studenten der Hochschule für Künste Appelt, Eisenlohr, Müller und Zwirner entworfene Mahn- und Erinnerungsmal haben eine längere Vorgeschichte, denn der Ehrung der von den Nazis verfolgten und ermordeten Parlamentarier, von denen die meisten Kommunisten und Sozialdemokraten waren, wollten sich maßgebliche Politiker in der damaligen Bundesrepublik Deutschland beziehungsweise in West-Berlin nicht uneingeschränkte anschließen. Namen und Parteizugehörigkeit hätten ergeben, dass Kommunisten und Sozialdemokraten in der Zeit der NS-Diktatur einen besonders hohen Blutzoll hatten leisten müssen. Das war zwar bekannt, doch diesen historischen Fakt explizit auf einer Tafel am Reichstagsgebäude oder durch ein Denkmal kundzutun, ging den Kritikern des Projekts denn doch zu weit. Die heute schon wieder vergessene Debatte hatte insofern ihr Gutes, als ein Stück verdrängter Geschichte des deutschen Parlamentarismus verdientermaßen öffentlich gemacht wurde.

Bei Führungen durch das Reichstagsgebäude werden Aufgaben, Zusammensetzung und Arbeitsweise des Deutschen Bundestags bis hin zu Wahlverfahren und Abstimmungsmodalitäten und zur Arbeit der Stenografen, die nicht nur Reden und Anfragen in Windeseile mitschreiben, sondern auch alle Zwischenrufe und weitere bemerkenswerte Aktivitäten notieren müssen. Der Besucherdienst weist darauf hin, dass die Plätze auf der Besuchertribüne begrenzt sind und nicht jeder Wunsch berücksichtigt werden kann, den Abgeordneten und der Regierung in die Augen und über die Schulter zu schauen. Wenn man mit ein wenig Glück dabei sein kann und einen guten Sitzplatz hat, kann den Abgeordneten in ihre Papiere und auf ihre Finger am Handy schauen oder das manchmal gelangweilte Verhalten der Mitglieder der Bundesregierung und der Vertreter des Bundesrates beobachten.

Wie kaum ein anderes Haus in Berlin ist das Reichstagsgebäude ein Symbol deutscher Geschichte wurde. Der Brand Ende Februar 1933 war für die gerade an die Macht gelangten Nationalsozialisten ein willkommener Grund, um massiv und blutig gegen die linke Opposition im Lande vorzugehen und Regimekritiker auszuschalten. Wer hinter dem spektakulären Anschlag konkret stand, ist nicht bekannt. Dass aber Hitler und seine Helfershelfer davon profitierten, steht außer Frage. In der Zeit der Nazidiktatur führte das notdürftig reparierte Haus ein Schattendasein. Sitzungen des nur noch mit Braununiformierten besetzten Parlaments fanden hier nicht mehr statt, sondern in der nahe gelegenen Krolloper. Das stark beschädigte Reichstagsgebäude war, obwohl es politisch keine Funktion mehr hatte, ein wichtiges Ziel der Roten Armee im April, und als die Sowjetfahne über ihm wehte, war das "Dritte Reich" am Ende.

Manche Episode in der wechselvollen Geschichte des Hauses dürfte den Besucher bekannt sein, etwa die Umbaumaßnahmen und die sparsame Nutzung des Hauses in der Zeit des Kalten Kriegs und der deutschen Teilung, anderes aber nicht. Vor Ort ist zu erfahren, dass die unterirdischen Räume während des Zweiten Weltkriegs als Ausweichquartier der bombengeschädigten Charité sowie als Entbindungsstation fungierten. Einige hundert Berlinerinnen und Berliner sollen hier das Licht der Welt erblickt haben, wie übrigens auch in anderen über die Stadt verteilten Bunkern.

28. April 2018



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