"Nicht schießen, Brüder!"
Nach der Novemberrevolution 1918 eskalierte die Gewalt bei Straßenkämpfen und politischen Morden / Veranstaltungen und Ausstellungen in Berlin





Nach der am 9. November 1918 verkündeten Abdankung von Kaiser Wilhelm II. ging es in Berlin und im ganzen Deutschen Reich alles andere als friedlich zu. In der Hauptstadt wird bis zum 18. März 2018 an einhundert Orten an Ereignisse und Gestalten der Novemberevolution vor einhundert Jahren erinnert. Einzelheiten werden auf der Internetseite www.100jahrerevolution.berlin aktualisiert.





Wo es möglich ist, erinnern auf dem Straßenboden befestigte Plakate in der Art der bekannten Stolpersteine an Parolen und Stationen des 9. November 1918 und seine Folgen vor dem Berliner Marstall gegenüber dem Hohenzollernschloss, der damals Sitz der Volksmarinedivision war. Im Kampf für ein neues, demokratisches Deutschland fielen hier Soldaten und Matrosen. Zwei Reliefs in der Fassade erinnern an sie.





Wie groß die Zerstörungen im Frühjahr 1919 an Wohnhäusern und auch am Hohenzollernschloss waren, zeigen Postkarten und historische Fotos. Welche Tragödien und Verbrechen sich bei den Beschießungen abspielten, muss man sich bei ihrem Anblick denken. Die zeitgenössische Literatur bietet dafür eine Fülle erschreckender Informationen



Kulturprojekte Berlin verwandelt den Sitz der Gesellschaft, das Palais Podewil, in ein Revolutionszentrum, wo zusammen mit verschiedenen Partnern immer montags unter dem Titel "Die Woche beginnt mit der Revolution" debattiert und diskutiert wird.



In der Novemberevolution saß der Stab der Volksmarinedivision im Marinehaus unweit des Märkischen Museums. Eine Gedenktafel weist darauf hin



Viele Stadtteile waren aber von Kämpfen verschont. Da standen Männer und nach der neuen Verfassung auch Frauen vor Wahllokalen an und machten von ihren neu erkämpften Rechten Gebrauch. (Fotos/Repros: Caspar)

Zwar hatten der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann und der Linkspolitiker Karl Liebknecht am 9. November 1918, vor nunmehr einhundert Jahren, von einem Fenster des Reichstagsgebäudes beziehungsweise vom Balkon des Portal IV des Hohenzollernschlosses die freie deutsche Republik beziehungsweise die freie sozialistische Republik Deutschland ausgerufen. Doch von Frieden, Ruhe und Demokratie war das Deutsche Reich nach dem Abschluss des Waffenstillstands am 11. November im Wald von Compiègne meilenweit entfernt. Reichskanzler Prinz Max von Baden hatte am 9. November in eigener Machvollkommenheit die Abdankung Wilhelms II. als deutscher Kaiser und König von Preußen verkündet, was dieser als Verrat bezeichnete. Im holländischen Exil hoffte er, mit klingendem Spiel an der Spitze seiner Truppen durchs Brandenburger Tor zu reiten und wieder seinen Thron zu besteigen, was ihm aber nicht gelang.

Von vielen Katastrophen, revolutionären Bewegungen und Putschversuchen, einer verhängnisvollen Inflation, den Bestimmungen und Auflagen des Versailler Vertrags und einer schweren Wirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre, aber auch von einem ungekannten Aufschwung in der Kultur und Wissenschaft gezeichnet, ist uns die Periode vom Sturz der Monarchie bis zur Errichtung der Nazidiktatur am 30. Januar 1933 als Weimarer Republik bekannt. Benannt ist sie, weil die Nationalversammlung weit weg vom revolutionären Berlin in der fernen Klassikerstadt tagte, wo sie den Reichspräsidenten Friedrich Ebert wählte und eine neue Verfassung mit vielen demokratischen Rechten beschloss. Wie die Anfänge dieser Republik in Berlin ausgesehen haben, steht im Mittelpunkt des kommenden Gedenkwinters 2018/19. Zahlreiche Museen, Gedenkstätten, Archive und andere Institutionen wollen bis März 2019 an einhundert Orten der Stadt über die Ursachen, den Verlauf und die Folgen der Novemberevolution in Bild und Schrift berichten.

Noske stellt Ruhe und Ordnung her

Über die bekannten Stätten Revolution rund um das Hohenzollernschloss und am Brandenburger Tor, auf der Wilhelmstraße und im Zeitungsviertel sowie in großen Industriebetrieben hinaus wird in Bild und Schrift mit vergessenen Orten bekannt gemacht, an denen geschossen und gemordet wurde. Gezeigt wird, dass nicht nur das Schloss, von dem die Kaiserstandarte geholt worden war, durch Beschuss und Vandalismus getroffen wurde, sondern dass auch ganz normale Wohnhäuser durch Artillerietreffer zerstört wurden. Wer sich in die Historie vertieft, wird erfahren, dass nach Verhängung des Standrechts durch den für "Ruhe und Ordnung" zuständigen SPD-Politiker Gustav Noske im März 1919 in der damals noch selbstständigen Stadt Lichtenberg etwa tausend Menschen erschossen wurde, weil man sie fälschlicherweise "spartakistischer Beamtenmorde" bezichtigt hatte. Nach zeitgenössischen Berichten genügte eine Uniform, ein Parteibuch oder eine Patronentasche, manchmal auch eine denunziatorische Bemerkung von Nachbarn oder Beobachtungen von Spitzeln, dass die als Hunde bezeichneten Gefangenen vors Standgericht geschleppt, gefoltert und erschossen wurden. An der Friedhofsmauer an der Möllendorffstraße nahe der Frankfurter Allee starben elf Matrosen, eine Frau und vier Unbekannte. Eine Inschrift an der Ziegelwand erinnert an sie.

Aus Angst vor der "Bolschewisierung" nach russischem Vorbild formierten sich rechtsgerichtete Offiziere und andere Personen zu Mörderbanden mit dem Ziel, die Spartakusbewegung und ihre Führer, allen voran Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, zu liquidieren. Ende 1918 in Berlin und an anderen Orten kam es zu Putschversuchen von Freikorpsleuten und zu Mordanschlägen, denen auf beiden Seiten der Barrikade zahlreiche Menschen zum Opfer fielen. Mitten im Chaos fand vom 30. Dezember 1918 bis 1. Januar 1919 unter dem Motto "Alle Macht den Räten, nieder mit Imperialismus und Militarismus, Verbrüderung mit der russischen Revolution" der Gründungsparteitag der KPD statt.

Politische Morde als neues Phänomen

Durch gezielte Falschmeldungen, wir würden heute Fake News dazu sagen, waren Soldaten und Zivilisten auf die Jagd nach Leuten gegangen, denen man solcher Verbrechen beschuldigte. Im kommenden Gedenkwinter soll auch gezeigt werden, wie sich die ganz auf die Wiederherstellung der alten Verhältnisse erpichte Reaktion mit gezielten Mordaktionen missliebige Politiker wie Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Leo Jogiches, Kurt Eisner, Walther Rathenau und viele andere ausschalteten und damit das Klima im Lande weiter aufheizten. Attentate auf gekrönte Häupter hat es immer gegeben, die Ermordung aus politischen Gründen aber waren ein neues Phänomen.

Die von mehr als 60 Partnern der Kulturprojekte Berlin ausgerichteten etwa 250 Veranstaltungen wollen zeigen, was hinter Parolen wie "Brüder nicht schießen", "Nieder mit dem Krieg", "Mischt euch ein" und "Solidarisiert euch" steckte und wer gegen wen mit Hetzparolen und Lügengeschichten vorging. "Wir wollen zeigen, was vor hundert Jahren durch den Systemwechsel gewonnen wurde, so die 40-Stunden-Woche und der Achtstundentag und das allgemeine und freie Wahlrecht auch für Frauen. Leider blieben viele Errungenschaften dann doch nur auf dem Papier stehen. Mit unseren Aktionen wollen wir vermitteln, dass Freiheit und demokratische Mitbestimmung damals wie heute immer wieder erkämpft und bewahrt werden müssen", sagte Moritz von Dülmen bei der Vorstellung des ehrgeizigen Vorhabens. Er leitet die Kulturprojekte Berlin, unter deren Dach das Mammutprogramm 2018/19 vorbereitet wurde und verwirklicht wird. Über die ganze Stadt verteilt, erinnert die Aktion an das Gedenkjahr "Zerstörte Vielfalt", das 2013 an die Errichtung der NS-Diktatur 80 Jahre zuvor und ihre verheerenden Folgen erinnerte. Beteiligt sind auch diesmal Museen, Geschichtsvereine, Forschungsinstitutionen, Gedenk- und Bildungsstätten, Galerien, Theater und weitere Institutionen. Hinzu kommen zahlreiche Privatpersonen als Forscher und Sponsoren.

Hier Gewalt und Tod, dort Tanzvergnügen

Zu den markanten Orte von Ausstellungen und Gedenkveranstaltungen gehört unter anderem der Friedhof der Märzgefallenen, auf dem nicht nur die Toten der Märzrevolution von 1848 bestattet wurden, sondern auch die Opfer der Novemberevolution von 1918 und der folgenden Auseinandersetzungen. Im Rathaus Neukölln wird gezeigt, wie der Arbeiter-und-Soldatenrat friedlich die Macht übernahm. Dass drei Neuköllnerinnen in die Nationalversammlung gewählt wurden, hat man bei der Vorstellung des Programms als große Besonderheit hervor gehoben. Im Museum für Fotografie, einem ehemaligen Offizierskasino aus der Kaiserzeit unweit des Bahnhofs Zoologischer Garten, werden zahlreiche meist unbekannte Aufnahmen von den damaligen Kämpfen solchen aus dem Berliner Alltag mit langen Schlangen vor Suppenküchen und vor Einkaufläden gegenüber gestellt. Es wird auch gezeigt, dass Gewalt und Schießereien zeitgleich mit Tanzvergnügen und Kabarett einhergingen. An markanten Orten wie dem Alexanderplatz und dem Potsdamer Platz wird ein zum Begegnungsort umgestalteter Möbelwagen aus der Zeit der Novemberevolution aufgestellt als Hinweis darauf, dass solche Straßensperren überall in der Stadt standen, um die feindlichen Lager zu trennen und zur Deeskalation der aufgeheizten Lage beizutragen.

Im Bröhan-Museum wird an George Grosz erinnert, der satirische Bilder über die Vorgänge und Akteure von damals geschaffen hat. Die Berlinische Galerie zeigt Gemälde, Grafiken, Skulpturen und Architekturmodelle der damaligen Avantgarde, genannt Novembergruppe 1918-1935, und im Märkischen Museum wird Weise geschildert, welche Folgen die Novemberrevolution auf das Leben in Berlin und dem ganzen Land bis heute hat. Schließlich sei das Käthe-Kollwitz-Museum erwähnt, die den ermordeten Karl Liebknecht auf dem Totenbett zeichnete und dessen damals sechzehnjährigen Sohn Robert ermunterte, eine künstlerische Ausbildung zu machen. Zum Maler ausgebildet, musste Robert Liebknecht nach dem Machtantritt der Nazis emigrieren und starb 1994 in Paris. .

25. Oktober 2018

Zurück zur Themenübersicht "Berlin, Potsdam, Land Brandenburg"