Ehrung für einen stillen Helfer
In der Europacity am Berliner Hauptbahnhof erinnert ein neuer Platz an Otto Weidt, der in der Nazizeit Juden vor dem Tod bewahrt hat







Inge Deutschkron, gerade zur Ehrenbürgerin der Stadt Berlin ernannt, war am 17. April 2018 Ehrengast beim Spatenstich für den neuen Otto-Weidt-Platz und legte dabei selber Hand an, assistiert von Stefan Tidow, André Schmitz (verdeckt) und Regula Lüscher.





Als "Inge Richter" war Inge Deutschkron von 1941 bis 1943 bei Otto Weidt beschäftigt. Der Ausweis gibt ein falsches Geburtsdatum an, in Wahrheit kam sie am 22. August 1922 in Finsterwalde zur Welt. Die Zeit bis zur Befreiung vom Faschismus überstand sie mit ihrer Mutter im Untergrund, nachzulesen in ihrem mehrfach aufgelegten Buch "Ich trug den gelben Stern".



"Papa Weidt" (3. von rechts in der 2. Reihe von unten) setzte sich heldenmütig und uneigennützig für seine jüdischen Angestellten ein und half vielen zu überleben. Inge Deutschkron hält vorn das Firmenschild in den Händen.



Im Eingang zum Haus Rosenthaler Straße 39 in Berlin-Mitte liegt eine von unzähligen Schuhsohlen blank geputzte Tafel, die an Otto Weidt erinnert, den todesmutigen Lebensretter in einer lebensfeindlichen Welt.



Das Museum in der Rosenthaler Straße 39 zeigt Bilder, Dokumente, Biographien von untergetauchten Juden und nennt auch Namen derer auf, die ihnen zu überleben halfen.



Mit solchen Ausweispapieren war ein Überleben im KZ-Staat möglich. Viele Juden und andere gefährdete Menschen verdanken "stillen Helfern" ihr Leben.



Hinter dem Schrank in der Bürstenfabrik hielt sich in einem Raum ohne Fenster eine jüdische Familie versteckt. Er ist Teil des Otto Weidt und seinen Schützlingen gewidmeten Museums. (Fotos: Caspar)

Der Berliner Fabrikant von Bürsten und Besen Otto Weidt, ansässig in einem Hinterhof des Hauses Rosenthaler Straße 39 unweit des S-Bahnhofs Hackescher Markt, hat in der Zeit des Nationalsozialismus mehrere von den antijüdischen Rassengesetzen und der Deportation in die Vernichtungslager bedrohten Menschen bei sich beschäftigt und versteckt. Wenn eine Razzia durch die Gestapo drohte und eine bestimmte Klingel ertönte, zogen sich die in ständiger Angst lebenden Männer und Frauen in abgelegene Räume seiner von den Behörden als "kriegswichtig" anerkannten Bürsten- und Besenfabrik zurück, wie in der Ausstellung in der ehemaligen Fabrik zu erfahren ist. Anhand von Briefen, Gedichten, Fotografien und anderen Dokumenten zeichnet das zur Gedenkstätte deutscher Widerstand gehörende Museum das Bild einer von Verfolgung und Deportation bedrohten, doch auch durch Menschlichkeit, Solidarität und Todesmut geprägten Lebenssituation. Zugleich werden die Versuche der jüdischen Angestellten gewürdigt, ihren Verfolgern zu entkommen und unterzutauchen, und es wird gezeigt, warum und mit welcher Raffinesse ihnen der früh erblindete Fabrikant Otto Weidt half zu überleben.

Am 17. April 2018 fand der erste Spatenstich auf dem zukünftigen Otto-Weidt-Platz in der Europacity unweit des Berliner Hauptbahnhofs statt. Zu sehen ist an der Heidestraße außer halbfertigen Hochhäusern und viel Sand noch nicht viel. Doch schon in zwei Jahren soll es auf dem 10 000 Quadratmeter großen Platz grünen und blühen, es wird sprudelndes Wasser und jede Menge Sitzplätze geben. Dass mitten im Quartier Heidestraße ein Platz nach Otto Weidt benannt wird, ist wesentliches Verdienst der fast 97-jährigen Inge Deutschkron und einer von ihr angeregten Bürgerinitiative. Die Überlebende des Holocaust und Zeitzeugin, die am gleichen Tag zur Ehrenbürgerin der Stadt Berlin ernannt wurde, würdigte in ihrem Grußwort den Mut und die Uneigennützigkeit von Otto Weidt in Deutschlands schlimmster Zeit. Gemeinsam mit dem Staatssekretär Stefan Tidow von der Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz, der Senatsbaudirektorin Regula Lüscher sowie dem früheren Kulturstaatssekretär André Schmitz schwang die alte Dame den Spaten, sichtlich von der großartigen Ehrung ihres Retters Otto Weidt berührt.

Ich trug den gelben Stern

In dem von André Schmitz verlesenen Grußwort beschrieb Inge Deutschkron das stille Heldentum von Otto Weidt und weiterer Nothelfer, die viele Jahrzehnte unbeachtet waren. Als junge Frau hatte sie von 1941 bis 1943 bei "Papa Weidt" gearbeitet. Er stattete sie mit gefälschten Dokumenten aus und macht sie zu seiner Kontoristin und Expedientin, obwohl kaum noch etwas zu expedieren war. Das alles beschrieb sie in ihrem Buch "Ich trug den gelben Stern" und bei unzähligen Vorträgen in Schulen und 2013 auch im Deutschen Bundestag anlässlich des Holocaust-Gedenktags. Die Gäste der Zeremonie bei schönstem Vorfrühlingswetter erfuhren, wie Otto Weidt, den Blindenstock fest in der Hand und die gelbe Binde am Arm, zur Gestapo ging und die Geheimpolizisten so lange "bearbeitet" hat, bis sie ihre Opfer wieder herausgaben.

Weidt hatte den Vorteil, dass sein Betrieb als kriegswichtig anerkannt war, schließlich wurden Bürsten und Besen auch mitten im Kampfgeschehen und bei Aufräumarbeiten nach Luftangriffen benötigt. Als wäre es gestern gewesen, erinnerte Inge Deutschkron, dass ihr Chef zur Gestapo immer mit einem Lebensmittelpaket ging und mit seinen Schützlingen zurück kam. Ähnliches ist auch von Oskar Schindler überliefert, der ebenfalls durch Bestechungen aller Art zahlreiche seiner jüdischen Arbeiter und Angestellten vor dem Tod im Gas bewahrte. Wenn Weidt gegenüber der Gestapo auf seine "faulen Juden" schimpfte, berichtete Inge Deutschkron weiter, dann nahmen diese das hin, denn sie wussten, dass das nur aus Alibigründen geschah.

Leben in ständiger Angst

In der Gedenkstätte Rosenthaler Straße 39 sind Biographien, Briefe, Gedichte, Fotografien sowie Aussagen von Zeitzeugen und andere Dokumente zu sehen, die die Gratwanderung des Otto Weidt zwischen Leben und Tod und die Dankbarkeit derer belegen, die dank seines Einsatzes überlebt haben. Der blinde Fabrikant war ein entschiedener Nazigegner. Er ermunterte Vertraute, sich untergetauchter Juden anzunehmen, und versteckte welche in seiner weitläufigen Werkstatt. Am Ende der Ausstellung kann man in einen fensterlosen Raum blicken, in dem sich die Familie Horn versteckte, von einem großen Schrank vor der Tür geschützt. Die Ausstellung "Blindes Vertrauen" zeichnet ein erschütterndes Bild der ständig von Entdeckung, Deportation und Tod bedrohten Juden. Sie würdigt Otto Weidt als einen jener stillen, unbesungenen Helden, die dem blutbesudelten Naziregime Humanität und Mitleiden entgegensetzten, und sie zeigt in Räumen neben der ehemaligen Bürstenfabrik an weiteren Beispielen, dass es überall couragierte Menschen gab, die ihre eigene Existenz aufs Spiel setzten, um anderes Leben zu retten.

Dass es in einem totalen Überwachungsstaat mitten in Berlin möglich war, Juden quasi unter den Augen der Gestapo zu verstecken, verwundert, lässt sich aber wohl nur dadurch erklären, dass es Lücken im Geflecht von Überwachung und Spitzeltum gab und sich Menschen listenreich dem Regime entgegen stellten. Otto Weidt wird zu Recht mit Oskar Schindler, dem Helden des Films von Steven Spielberg "Schindlers Liste" verglichen, der auf ähnlich riskante Weise gefährdeten Menschen half, wobei auch er die Habgier von Sicherheitsbeamten ausnutzte. Ohne dass ihm nach der Befreiung eine öffentliche Ehrung zuteil wurde, starb Otto Weidt 1947. Mitarbeiter seiner Bürstenfabrik bestätigen mit eidesstattlichen Erklärungen und warmherzigen Briefen, die in der Ausstellung gezeigt werden, ihm ihr Leben zu verdanken. Der israelische Staat ernannte Otto Weidt 1971 auf Initiative von Inge Deutschkron posthum zum "Gerechten der Völker".

Wahrheit, lückenlose Wahrheit

In ihrer Rede am 27. Januar 2013 vor dem Deutschen Bundestag beschrieb Inge Deutschkron, wie sie die "Fabrikaktion" Anfang 1943 erlebt hat, als schlagartig Juden von ihrer Arbeitsstelle abgeholt und in die Gaskammern geschickt wurden. "Man ergriff sie, wo und wie man sie fand: in ihren Wohnungen, auf der Straße, im Morgenrock, im Arbeitskittel. Ahnungslos folgten sie den Anweisungen, genau wie die Deportierten vor ihnen, von deren Schicksal sie nichts wussten. Zurück blieb die kleine Zahl derer, die ein Versteck gefunden hatten und in die Illegalität gingen wie meine Mutter und ich. Auch ich sah sie vom Fenster aus, sehe sie noch heute, in ihrem Erschrecken wie erstarrt, von Polizisten in die Wagen gestoßen. ,Schnell, schnell, schnell', trieb man sie an. Diese letzte Deportation aus Berlin dauerte mehrere Tage. Dann waren sie alle weg - meine Familie, meine Freunde, die blinden jüdischen Bürstenzieher von Otto Weidt, die jüdischen Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg, ihre Orden noch am Revers ihres Mantels. Wir hatten keinen Schrei gehört, sahen kein Aufbegehren; blickten ihnen nach, wie sie gehorsam ihren letzten Weg antraten. Des Nachts sah ich sie wieder vor mir, hörte nicht auf, an sie zu denken: wo waren sie jetzt? Was tat man ihnen an? Ich begann mich schuldig zu fühlen. Mit welchem Recht, so fragte ich mich, verstecke ich mich, drückte ich mich vor einem Schicksal, das auch das Meine hätte sein müssen? Dieses Gefühl von Schuld verfolgte mich, es ließ mich nie wieder los."

Inge Deutschkron betrachtete es als ihre Pflicht, alles Erlebte aufschreiben. "Die Wahrheit, die lückenlose Wahrheit, präzise und emotionslos, so wie ich es mit eigenen Augen gesehen hatte. Es ging mir dabei nicht darum, dass die Schuldigen und jene, die dazu geschwiegen hatten, versuchen sollten, einen Weg der Sühne dem jüdischen Volk gegenüber zu finden. Nein, nein, das wäre sinnlos gewesen. Das deutsche Volk jener ersten Nachkriegsjahre wurde beschützt von seinem ersten Kanzler, der im Parlament in einer Regierungserklärung behauptet hatte, die Mehrheit der Deutschen wären Gegner der Verbrechen an den Juden gewesen. Viele von ihnen hätten sogar den Juden geholfen, ihren Mördern zu entkommen. Ach, wäre das doch die Wahrheit gewesen!"

Die Ausstellung ist Montag bis Sonntag von 10 bis 20 Uhr geöffnet, der Eintritt ist frei. Informationen im Internet unter www.museum-blindenwerkstatt.de, Anmeldungen für Führungen unter 030/285 99 407. Öffentliche Führungen finden sonntags um 15 Uhr ohne Voranmeldung statt.

17. April 2018

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