"Ausreise ist möglich"
Am Berliner Reichstagsgebäude und in Prag wird an glückliche Daten der neuesten Geschichte erinnert





Der polnische Sejm hat dem Deutschen Bundestag und damit uns allen ein bemerkenswertes Geschenk gemacht. An einer Ecke des ehemaligen Reichstagsgebäudes steht ein Stück Ziegelmauer mit besonderer Vergangenheit. Die Tafel würdigt den Kampf der in Opposition zum kommunistischen Regime in der damaligen Volksrepublik Polen stehenden Gewerkschaft Solidarnosc für Freiheit und Demokratie und dankt dem polnischen Volk für seinen Beitrag zur deutschen Wiedervereinigung.



Die Bronzetafel an der Fassade des Reichstagsgebäudes stattet dem ungarischen Volk Dank ab und würdigt die Öffnung des Eisernen Vorhangs vor 20 Jahren.





Die kurze Ansprache von Außenminister Genscher am 30. September 1989 an die im Botschaftsgarten wartenden DDR-Bewohner, dass sie in die BRD ausreisen können, wird auf dem Balkon des Palais Lobkowicz durch eine Tafel gewürdigt.



Das Bronzedenkmal im Botschaftsgarten stellt ein Auto der DDR-Marke Trabant auf vier Füßen dar.



Honecker und seine Leute wussten sich wenige Tage vor dem 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober 1989 nicht anders zu helfen, als die Grenze zur CSSR zu sperren, weil sie befürchteten, dass von dort weitere DDR-Bewohner in den Westen fliehen werden. Im DDR-Fernsehen wurde die Maßnahme demoagogisch als gegen Menschenhandel und imperialistische Angriffe gerichtet verkündet. (Foptos/Repro: Caspar)

Die kleine Tafel am Fuß einer Mauer aus Ziegelsteinen gleich beim Reichstagsgebäude klärt auf, dass die dunkelroten Klinkersteine aus der Danziger Werft stammen und an den Anfang vom Ende des kommunistischen Regimes in Osteuropa erinnern. "Das Stück ist ein Teil jener Mauer, über die Lech Walesa am 14. August 1980 kletterte, um den Streik zu organisieren, der zur Gewerkschaft ,Solidarnosc' führte." Solidarnosc habe breite Solidarität im In- und im Ausland, insbesondere auch in Deutschland, erfahren, aus ihr sei eine Volksbewegung entstanden, die sich erfolgreich gegen das 1981 verhängte Kriegsrecht wandte und damit zur Überwindung der Teilung Europas und zum Fall der Mauer auch in Berlin beitrug.

Ein paar Schritte von dem ebenso schlichten wie eindrucksvollen Denkmal entfernt ist in die Wand des Reichstagsgebäudes eine Bronzetafel eingelassen. Der deutsche und ungarische Text würdigt den Anteil des ungarischen und des deutschen Volkes vor 20 Jahren am Kampf für ein vereinigtes Deutschland, für ein unabhängiges Ungarn und ein demokratisches Europa. Die Tafel hebt den 10. September 1989 hervor, als ungarische Soldaten bei Sopron begannen, den Stacheldraht zwischen ihrem Land und Österreich zu zerschneiden. Damit wurde die Öffnung des Eisernen Vorhangs eingeleitet. Die Aktion stieß bei der SED- und DDR-Führung auf äußerste Missbilligung und veranlasste sie zu vergeblichen diplomatischen Vorstößen in Budapest. Die Öffnung wurde von der DDR-Propaganda als "organisierter Menschenhandel" abgetan, und die Proteste in Budapest, wo man sich über einen dreistelligen Millionenkredit aus der Bundesrepublik freute, blieben fruchtlos.

Gorbatschow greift nicht ein

Ohne sich mit Moskau und Ostberlin in Verbindung zu setzen und um Erlaubnis zu fragen, hatte die ungarische Regierung in der Nacht zum 11. September 1989 die Grenze nach Österreich geöffnet. Nach und nach verließen tausende in Ungarn weilende DDR-Urlauber das Land zu Fuß, im Auto, mit Bussen oder der Bahn und kamen jubelnd und von Freudentränen überströmt in Österreich an, um dann gleich weiter in die Bundesrepublik zu fahren. Vergeblich bat die DDR-Regierung in Moskau um Intervention, doch dort war man nicht bereit, sich in die Angelegenheiten zwischen Ungarn und der DDR einzuschalten. Michail Gorbatschow gab die Losung aus: "Wir unterstützen die DDR, aber nicht auf Kosten unserer Interessen in der BRD und in Europa insgesamt", was nichts anderes hieß als dass sich der sowjetische Partei- und Staatschef mit dem Gedanken anzufreunden begann, die DDR und ihren obersten Repräsentanten, den ewigen Besserwisser Erich Honecker, fallen zu lassen.

Um aus dem Dilemma herauszukommen, schränkte die DDR-Führung die Reisen von DDR-Bürgern nach Ungarn drastisch ein und überprüfte jeden auf politische Zuverlässigkeit, der eine Ferienfahrt dorthin unternehmen will. Angesichts der zu erwartenden Einschränkungen besetzten in Polen und der ?SSR befindliche DDR-Bürger die bundesdeutschen Botschaften in Warschau und Prag und forderten, von dort aus in den Westen gebracht zu werden. Namentlich auf dem Gelände der Prager Botschaft hatten sich tausende Hilfesuchende oft mit kleinen Kindern eingefunden und warteten ungeduldig auf ihre Ausreise in die Bundesrepublik.

Genschers historische Worte

Dieses Begehren löste in Ostberlin hektische Betriebsamkeit aus. Bilder von den unter schlimmen hygienischen Bedingungen im Hof und im Garten der im Palais Lobkowicz untergebrachten Prager Botschaft kampierenden DDR-Bürgern passten nicht zu der befohlenen Jubelstimmung anlässlich des bevorstehenden 40. Gründungstags der DDR am 7. Oktober 1989 und zu der Erfolgsbilanz, die der Staats- und Parteichef Erich Honecker der eigenen Bevölkerung und der Weltöffentlichkeit vorzulegen gedachte. Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher verkündete die lang ersehnte Nachricht, dass alle DDR-Flüchtlinge ausreisen dürfen, die in den deutschen Vertretungen in Prag und Warschau ausharren, am Abend des 30. September 1989 vom Balkon des Palais Lobkowicz. Unbeschreiblicher Jubel brandete ihm entgegen, als er sagte: "Liebe Landsleute, ich bin heute zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass Ihre Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland bevor steht". Die letzten Worte dieser historischen Ankündigung gingen im allgemeinen Jubel unter. Als die Wartenden begriffen hatten, dass die Züge über das Gebiet der DDR fahren soll, schlug die Stimmung um, denn natürlich mussten sie befürchten, aus den Zügen geholt und verhaftet zu werden. Das ist dann nicht geschehen, die DDR-Regierung hätte sonst zusätzliche Probleme bekommen und wäre international vollkommen unglaubwürdig geworden.

Honecker ließ die von bundesdeutschen Beamten begleiteten Botschaftsflüchtlinge in versiegelten Waggons der Deutschen Reichsbahn über DDR-Territorium in die Bundesrepublik fahren. In Reichenbach im Vogtland stiegen Stasi-Leute ein, um den Passagieren die Personalpapiere abzunehmen, was als letzte Gemeinheit empfunden wurde und zu weiterer Verbitterung führte. Mit der Maßnahme wurde die Ausbürgerung der "Verräter" besiegelt, und es wurde auch Vergeltung an ihren Angehörigen genommen. Bevor sich die Züge in Bewegung setzten, öffnete ein junger Mann ein Fenster und warf sein letztes DDR-Geld auf den Bahnhof, andere Leute folgten seinem Beispiel und entledigten sich ihrer Schlüssel, Dokumente und anderer Habseligkeiten.

Freudentränen und weiße Tücher

Die Eisenbahnstrecke von Prag in die Bundesrepublik wurde auf DDR-Seite von deren Sicherheitskräften abgesperrt, um zu verhindern, dass Menschen auf die Züge aufspringen und mitfahren. Am Dresdner Hauptbahnhof lieferten sich am 4. Oktober 1989 Ausreisewillige und Demonstranten schwere Auseinandersetzungen mit der Stasi und der Volkspolizei. Viele Protestierer versuchten vergeblich, auf die Züge mit den Botschaftsflüchtlingen zu klettern und mit ihnen in den Westen zu gelangen. Wo immer die Reichsbahnzüge mit mehreren tausend Passagieren durch Städte und Dörfer der DDR fuhren, haben Zurückgebliebene ihnen mit weißen Tüchern zugewinkt. Die Spannung unter den Reisenden schlug in unbeschreiblichen Jubel und in Freudentränen um, als sie endlich im Westen angekommen waren.

Die Vorgänge in der Prager Botschaft der Bundesrepublik Deutschland sowie in Ungarn und Polen war für die DDR-Führung ein Schlag ins Gesicht. So etwas hatte es in der vierzigjährigen Geschichte der DDR noch nicht gegeben. Ohnmächtig mussten Honecker und seine aufs Höchste besorgten Leute zusehen, wie Zehntausende das Land auf spektakuläre Weise verließen. Um weitere unliebsame Bilder und Nachrichten von Botschaftsflüchtlingen ein für allemal aus der Welt zu schaffen und das "Loch ?SSR" zu stopfen, suspendierte die DDR-Regierung den visumsfreien Reiseverkehr mit der Tschechoslowakei. Damit wurde den DDR-Bewohnern das letzte Reiseland genommen, in das sie ohne amtliche Genehmigung fahren durften.

Am 2. Oktober 1989 erschien im SED-Zentralorgan NEUES DEUTSCHLAND und anderen DDR-Blättern ein scharfmacherischer Kommentar der staatlichen Nachrichtenagentur ADN. Unter der sperrigen Überschrift "Sich selbst aus unserer Gesellschaft ausgegrenzt" behauptete er, Politiker und Medien in der BRD würden eine stabsmäßig vorbereitete "Heim-ins-Reich"-Psychose führen, "um Menschen in die Irre zu führen und auf einen Weg in ein ungewisses Schicksal zu treiben. Das vorgegaukelte Bild vom Leben im Westen soll vergessen machen, was diese Menschen von der sozialistischen Gesellschaft bekommen haben und was sie nun aufgeben. Sie schaden sich selbst und verraten ihre Heimat." Sie hätten sich selbst von ihren Arbeitsstellen und von den Menschen getrennt, mit denen sie bisher zusammengelebt und gearbeitet haben. Bar jeder Verantwortung hätten Eltern auch gegenüber ihren Kindern gehandelt, "die im sozialistischen deutschen Staat wohlbehütet aufwuchsen und denen alle Bildungs- und Entfaltungsmöglichkeiten offenstanden. […] Sie alle haben durch ihr Verhalten die moralischen Werte mit Füßen getreten und sich selbst aus unserer Gesellschaft ausgegrenzt. Man sollte ihnen deshalb keine Träne nachweinen".

Honeckers Realitätsferne und Zynismus

Den letzten Satz hatte Honecker persönlich in den alle Realitäten auf den Kopf stellenden Text hineingeschrieben. Wie Günter Schabowski, der langjährige ND-Chefredakteur beziehungsweise 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin, später in seinem Buch "Der Absturz" bemerkte, habe der Kommentar nicht nur bei Angehörigen der Flüchtlinge große Empörung ausgelöst. Realitätsferne und Zynismus, die aus den Worten sprachen, hätten den Parteisekretären in den Betrieben und vielen SED-Mitgliedern schwer zu schaffen gemacht. Nach Honeckers Sturz am 18. Oktober 1989 beeilte sich die neue Parteiführung unter Egon Krenz, den Schaden zu beheben, indem sie versicherte, jeder Flüchtling sei einer zu viel und alle Menschen würden gebraucht, um die krisenhafte Situation in den Griff zu bekommen.

30. April 2018

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