Die Legende vom faschistischen Putsch
Warum in der DDR eine angebliche KZ-Aufseherin bei der Hetze gegen den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 willkommen war



Wenige Wochen nach dem Tod des sowjetischen Diktators Josef Stalin wagten ostdeutsche Arbeiter am 17. Juni einen Aufstand gegen das SED-Regime.



Erna Dorn wurde als angebliche Kommandeuse des KZ Ravensbrück missbraucht, um den Volksaufstand des 17. Juni 1953 als faschistischen Putschversuch herabzuwürdigen.



Dem Händeldenkmal in Halle an der Saale haben aufgebrachte Bürger ein Schild mit der Aufschrift "Spitzbart Bauch und Brille - Nicht des Volkes Wille" umgehängt. Die Demonstranten auf dem Hallmarkt wurden unter Einsatz sowjetischer Panzer auseinander getrieben. Zur Erinnerung an das dramatische Geschehen trägt der Hallmarkt seit 2003 den Namenszusatz "Platz des 17. Juni".



Der sowjetische Kommandant erklärte den Ausnahmezustand über Halle und drohte, bei Widerstand von der Schusswaffe Gebrauch zu machen.



Bundeskanzler Konrad Adenauer und andere westdeutsche und amerikanische "Imperialisten" sollen laut DDR-Propaganda am Tag X die Strippen gezogen haben.



Die Bundesrepublik Deutschland widmete 2003 dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 eine silberne Zehn-Euro-Münze, auf der sowjetische Panzerketten zentrale Forderungen der damals streikenden Bevölkerung niederwalzen. (Foto/Repros: Caspar)

Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR, wenige Wochen nach dem Tod des sowjetischen Diktators Josef Stalin, brachte die Ostberliner SED- und Staatsführung ins Wanken. Über eine Million Menschen beteiligten sich an den Protestaktionen, die als Bauarbeiterstreik im Ost-Berliner Bezirk Friedrichshain begannen und binnen Stunden das ganze Land erfassten. Auslöser war eine von der Regierung verfügte Erhöhung der Normen. Die Arbeiter sollten mehr Leistung bringen aber nicht mehr Geld bekommen. Da Walter Ulbricht und die anderen DDR-Machthaber auf die Forderungen der aufgebrachten Arbeiter nach Rücknahme der Normenerhöhung sowie nach freien, geheimen Wahlen nicht eingingen und, ihr Ende bereits vor Augen, nach sowjetischen Truppen riefen, eskalierten die Ereignisse. Der sowjetische Stadtkommandant erklärte den Ausnahmezustand über den Ostteil der Viersektorenstadt und drohte, Zuwiderhandlungen würden "nach den Kriegsgesetzen" behandelt, mit anderen Worten, es würden Standgerichte in Aktion treten und kurzen Prozess machen.

Gewalt gegen Gewalt war das Motto, und es kamen auf beiden Seiten der Barrikaden viele Menschen ums Leben. Zu ihnen gehören auch Angehörige der Roten Armee, die exekutiert wurden, weil sie sich weigerten, auf deutsche Arbeiter zu schießen. Die SED-Führung und die Regierung e behaupteten, die Massendemonstrationen quer durch die DDR für Einigkeit und Recht und Freiheit, für bessere Löhne, eine ausreichende Versorgung sowie den Abzug der sowjetischen Besatzer und die Abschaffung der SED-Herrschaft seien nichts anderes als Resultat der Wühlarbeit von westdeutschen und Westberliner Agenten, namentlich der Hetze des RIAS. Der von sowjetischen Panzern niedergewalzte Aufstand in Ostberlin, im sogenannten Chemiedreieck Halle, Leipzig und Magdeburg sowie in Dresden, Görlitz und anderen Städten wurde von der SED-gelenkten Propaganda kurzerhand als faschistischer Putsch abgetan, durch den alte, durch den Zweiten Weltkrieg überwundene Verhältnisse wiederhergestellt werden sollten. Der DDR-Rundfunk- und spätere Fernsehjournalist Karl-Eduard von Schnitzler behauptete: "Unter Missbrauch des guten Glaubens eines Teils der Berliner Arbeiter und Angestellten, gegen grobe Fehler bei der Normerhöhung mit Arbeitsniederlegung und Demonstrationen antworten zu müssen, wurde von bezahlten Provokateuren, vom gekauften Abschaum der Westberliner Unterwelt ein Anschlag auf die Freiheit, ein Anschlag auf die Existenz, auf die Arbeitsplätze, auf die Familien unserer Werktätigen versucht." Ein 1974 von der Akademie der Wissenschaften der DDR herausgegebenes Buch über die Geschichte der DDR sprach von einem "konterrevolutionären Putschversuch", der durch das entschlossene Eingreifen der Sowjetarmee im Geiste des proletarischen Internationalismus niedergeschlagen wurde. Irregeleitete Werktätige hätten sich bald von den Putschisten abgewandt, weil sie erkannten, dass sie gegen ihre eigenen Interessen gehandelt haben. Wer in der DDR etwas anderes zu sagen wagte, bekam es mit der Stasi und der Justiz zu tun.

Angebliche Kommandeuse von Ravensbrück

Eine Art Kronzeugin für die Behauptung, der 17. Juni 1953 sei ein faschistischer Putsch gewesen, war eine gewisse Erna Dorn. Sie war an jenem Tag mit anderen Gefangenen von aufgebrachten Demonstranten aus der Strafvollzugsanstalt an der Kleinen Steinstraße in Halle an der Saale befreit worden, wurde aber schon einen Tag später wieder verhaftet und zurück ins Gefängnis gebracht. Das Bezirksgericht Halle hatte die Frau am 21. Mai 1953 wegen Naziverbrechen zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. Von sich behauptete sie, Aufseherin im Frauen-KZ Ravensbrück gewesen sein. Daraus machte die örtliche Presse "Erna Dorn alias Rabestein, die Kommandeuse von Ravensbrück, genannt das Rabenaas." Fortan geisterte Dorn als Aufseherin des KZ Ravensbrück, gar als Kommandeuse durch die DDR-Medien als lebendiger Beweis dafür, dass der als Angriff au die sozialistische Ordnung in der DDR bezeichnete Aufstand ein Werk von Nazis, Imperialisten und Spionen ist. Erna Dorn wurde bereits fünf Tage nach dem Sturm auf das Gefängnis in Halle als "Rädelsführerin des faschistischen Putsches" zum Tod verurteilt.

Vieles, sehr vieles an der Biographie der Erna Dorn stimmt nicht. Was gegen sie vorgebracht wurde, entstammt ihren eigenen Erzählungen. Dass sie in Ravensbrück tätig war, steht bis heute nicht fest. Nach eigenen Angeblich begann ihre berufliche Laufbahn als Sekretärin im Polizeipräsidium von Königsberg (heute Kaliningrad), doch will sie 1940 Gefangene in verschiedenen Konzentrationslagern gewesen sein. Nach einer weiteren Version wurde sie 1941 auf eigenen Wunsch als Aufseherin nach Ravensbrück versetzt. Ein gefälschter Entlassungsschein vom 12. Mai 1945 aus dem KZ Hertine (Rtyne nad Bilinou in Tschechien), einem Außenlager von Flossenbürg, wies sie als Erna Brüser, geborene Scheffler, aus. Nach Kriegsende in Halle lebend, beantragte sie ihre Anerkennung als Verfolgte des Naziregimes, was ihr und den vielen wirklichen Opfern des Faschismus eine gewisse Vorzugbehandlung und bessere Versorgung mit Lebensmitteln, Arbeit und Wohnraum verschaffte. Im Dezember 1945 heiratete sie den Spanienkämpfer und Offizier der Volkspolizei Max Gewald und war ab März 1946 Hausfrau. 1945 Mitglied der KPD und 1946 der SED, wurde sie 1949 aus der Staatspartei wegen kleinerer krimineller Delikte ausgeschlossen. Bald darauf wurde Erna Dorn aus eben diesem Grund erst zu elf Monaten und später zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt. Nach der vorzeitigen Haftentlassung durch eine allgemeine Amnestie Ende 1951 wurde sie wegen der vermeintlichen Tätigkeit als Aufseherin im KZ Ravensbrück festgenommen. Ihr Name Erna Dorn bezieht sich auf die angebliche Heirat mit einem SS-Unterscharführer in Ravensbrück namens Erich Dorn. Trotz intensiver Bemühungen vor allem der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN), die zwischen wirklichen und vermeintlichen Naziopfern unterscheiden musste, konnten Beweise für eine Nazivergangenheit von Erna Dorn nicht gefunden werden. Trotz mangelnder Beweise sowie dem Zweifel der Stasi-Vernehmer wurde Dorn am 21. Mai 1953 wegen "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. Das war knapp einen Monat vor dem Volksaufstand, der auch in Halle an der Saale von der Sowjetarmee und der Volkspolizei niedergewalzt wurde.

Geständnisse stimmen vorn und hinten nicht

Alles was die Gefangene über sich und ihre Zeit in dem Konzentrationslager erzählte, stimmte vorn und hinten nicht. Von Verhör zu Verhör gab sie über sich unterschiedliche Dienstbezeichnungen an. Ihre Beschreibungen des KZ Ravensbrück waren ungenau und fehlerhaft. In den Namenslisten der heutigen Gedenkstätte finden sich weder eine Erna Kaminsky, wie sie sich zeitweilig nannte, noch Erna Dorn. Auch jener Erich Dorn, mit dem Erna verheiratet gewesen sein will, ist nicht aufzufinden. Glaubwürdige Zeuginnen aus Ravensbrück konnten mit ihr nichts anfangen, Beschreibungen der angeblichen Bewacherin wiesen grobe Fehler auf. Dessen ungeachtet wurde sie vom Bezirksgericht Halle zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt.

In der Haft erzählte sie von ihre angeblichen Agenten- und Spionagetätigkeit für den Westen und ihrer NS-Vergangenheit. Diese Prahlereien wurden von Spitzeln der Staatssicherheit gemeldet, die in ihren Gefängnissen zahlreiche Zelleninformanten, den so genannten ZI, einsetzte. Dorn gab an, Hundeführerin in Ravensbrück gewesen zu sein, die Tiere hätten mehrere Menschen zerfleischt. Angeblich soll ihr Mann ein Lagerkommandant namens Max Baer gewesen sein. Doch unter den Naziverbrechern kommt nur Richard Baer vor, der zeitweilig Kommandant des Vernichtungslagers Auschwitz. In den folgenden Verhören bekräftigte Dorn ihre Geschichten und nannte als Hintermann und amerikanischen Geheimdienstoffizier Max Gewald, der sich von ihr hat scheiden lassen und ihr untersagt hatte, seinen Nachnamen zu verwenden.

Rote Hilde verlangte exemplarische Todesurteile

Am 20. Juni 1953 veröffentlichte das Hallenser SED-Organ "Freiheit" einen Artikel, der Erna Dorn als SS-Kommandeuse und Anführerin des Aufstands bezeichnet. Darüber, warum sich Erna Dorn schlimmster Verbrechen bezichtigte, lässt sich nur spekulieren. Dass sie von ihrer Arbeit in Ravensbrück fabulierte, könnte mit den rabiaten Untersuchungsmethoden des Ministeriums für Staatssicherheit zusammenhängen. Dessen Ziel war es, "Geständnisse" von den Gefangenen zu erpressen. Die neue Justizministerin Hilde Benjamin, genannt rote Hilde oder rotes Fallbeil, verlangte exemplarische Todesurteile, die den faschistischen Hintergrund des Aufstandes beweisen sollten. Die Vernehmer wussten also schon im Vorhinein, was Erna Dorn aussagen soll. Die Sprache der Vernehmungsprotokolle ist reiner Parteijargon und unterscheidet sich von früheren Aufzeichnungen in der ungelenken Sprache der Gefangenen. Auf die Frage, was sie am 17. Juni 1953 auf dem Hallmarkt in Halle öffentlich gerufen habe, sagte sie laut Protokoll unter anderem: "Ich brachte in meiner Rede zum Ausdruck, dass ich die Revolution begrüße und vor allen Dingen für meine Befreiung aus der Untersuchungshaftanstalt mich bedanke. Weiterhin sagte ich, dass ich in Erfahrung gebracht hatte, dass die Regierung gestürzt ist, dass nun endlich der Tag der Befreiung gekommen ist. An die wörtliche Rede kann ich mich nicht mehr erinnern; ich brachte aber sinngemäß zum Ausdruck, es lebe die Freiheit, es lebe die Revolution, nieder mit der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik." In einem dubiosen Brief an ihren in der Bundesrepublik lebenden Vater Arthur Kaminsky soll Erna Dorn geschrieben habe, die Fahne der NSDAP werde nun wieder über Deutschland wehen. Sie, Erna Dorn, werde endlich wieder bei der Gestapo arbeiten können, weshalb sie bitte, ihr ihren Gestapoausweis zu schicken. Das war starker Toback und so plump, dass der Brief in der DDR als Beweis für den faschistischen Charakter des 17. Juni in den Stasiakten verschwand.

Erna Dorn oder wie auch immer sie hieß war die einzige Frau, die in der DDR im Zusammenhang mit dem 17. Juni 1953 hingerichtet wurde. Es handelte sich bei ihr offenbar um eine geistig verwirrte Frau, um ein Opfer der politischen Justiz in der DDR. Am 28. September wurde sie in das Dresdner Gefängnis am Münchner Platz verbracht, wo sie am 1. Oktober 1953 in der Zentralen Hinrichtungsstätte der DDR mit der "Fallschwertmaschine", besser bekannt als Guillotine, enthauptet wurde. Ihr Gnadengesuch und das ihres Pflichtverteidigers wurde vom DDR-Präsident Wilhelm Pieck abgelehnt. Im Bestattungsschein wurde als Todesursache angebliche Bronchopneumonie 431 sowie akute Herz- und Kreislaufschwäche genannt. Den Leichnam hat man in Dresden-Tolkewitz eingeäschert.

Opfer der politischen Justiz in der DDR

Das seinerzeit politisch motivierte Todesurteil über Erna Dorn war eines von vielen der DDR-Justiz. Es wurde am 22. März 1994 posthum für rechtswidrig erklärt und vom Landgericht Halle aufgehoben. 1954 erschien Stephan Hermlins Novelle mit dem furchtbare Gräuel assoziierenden Titel "Die Kommandeuse"( In: Neue Deutsche Literatur 2 (1954), S. 19-28), in der der Fall ganz im Sinne der DDR-Propaganda geschildert wird. In seinem 2005 erschienenen Roman "Sommergewitter" schildert Erich Loest, der die Ereignisse um den 17. Juni 1953 im Raum Bitterfeld, Wolfen und Halle aus der Sicht der Streikenden und arbeitete dabei auch Erna Dorn als Figur ein. Nach dem Aufstand vom 17. Juni 1953 war Loest wegen angeblicher "konterrevolutionärer Gruppenbildung" im Zusammenhang mit Diskussionen über die Entstalinisierung verhaftet und am 14. November 1957 zu siebeneinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt worden, die er in Halle und im Zuchthaus Bautzen II verbüßte. Mit diesem Roman "Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene" von 1977 schrieb Erich Loest gegen das lügnerisch geschönte Bild an, das die SED und die von ihr kontrollierten Medien von der DDR malte. Während die Zensur die Verbreitung des Romans unterband, erzielte es im Westen hohe Auflagen, wurde Schullesestoff, und es wurde übersetzt und verfilmt. Ausführlich ist Fall der Erna Dorn in dem Buch von Hans-Peter Löhn "Spitzbart, Bauch und Brille - sind nicht des Volkes Wille. Der Volksaufstand am 17. Juni 1953 in Halle an der Saale" dargestellt (Edition Temmen, Bremen 2003, 212 Seiten, ISBN 3-86108-373-6). Die SED habe "diese dubiose Frau und ihren undurchsichtigen Lebenslauf" benutzt, "um den Volksaufstand als ,faschistischen Putschversuch' zu verunglimpfen. Erna Dorn war eher ein Opfer des 17. Juni, denn die zufällige Befreiung aus der Haft kostete sie letztendlich das Leben", fasst Löhn seine Darstellung zusammen, mit der manche Legenden auf das zurückgeführt werden, was sie sind - Legenden.

7. Januar 2018

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