Geschlossene Grenzen
Gedenkstätte Deutscher Widerstand erinnert an Flüchtlingskonferenz 1938 in Évian und ihre mageren Ergebnisse



Die Gedenkstätte Deutscher Widerstand an der Stauffenbergstraße im Berliner Bezirk Tiergarten würdigt den Mut der Opposition gegen Hitler und die Opfer, die Männer und Frauen im Kampf für ein besseres Deutschland bringen mussten.





Die Ausstellung "Geschlossene Grenzen" dokumentiert in Bild und Schrift die Bedingungen, die vor 80 Jahren zur Flüchtlingskonferenz von Évian führten, und ihre leider recht dürftigen Ergebnisse.



Im Naziblatt "Der Stürmer" machte sich der Zeichner Fips über Juden lustig, die vor verschlossenen Türen stehen und nicht das Deutsche Reich verlassen können.



Die Irrfahrt des Auswandererschiffs St. Louis mit 930 deutschen Juden verlief im Frühsommer 1939 unter dramatischen Umständen von Hamburg nach Kuba und zurück nach Antwerpen. Um dem NS-Regime zu entkommen, wollten sie nach Kuba auswandern, doch wurde ihnen dort sowie in den USA und Kanada die Landung erlaubt. Schließlich wurden sie in Antwerpen von Bord gelassen und auf Belgien, die Niederlande, Frankreich und Großbritannien verteilt. Für seine menschliche Haltung und der Hilfe für die Flüchtlinge wurde Kapitän Gustav Schröder 1993 in der Gedenkstätte Yad Vashem als "Gerechter unter den Völkern" geehrt.



Die Figurengruppe am Berliner Bahnhof Friedrichstraße erinnert an jüdische Kinder, die Ende 1938 unter Zurücklassung ihrer Eltern nach England ausreisen durften. Die meisten sahen ihre Angehörigen nie wieder. (Fotos/Repros: Caspar)

Anlässlich des 80. Jahrestages der Konferenz von Évian am Genfer See dokumentieren das Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin und die Gedenkstätte Deutscher Widerstand bis zum 5. Oktober 2018 die Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik von 32 Staaten am Vorabend des Zweiten Weltkriegs. Die Konferenz fand auf Empfehlung des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt statt, der sehr wohl wusste, was mit den Juden im "Großdeutschen Reich" passiert. Seit der Errichtung der NS-Diktatur war ihnen durch Gesetze und Verordnungen systematisch das Leben schwer, ja unmöglich gemacht worden, und viele Juden hatten bereits das Deutsche Reich verlassen. Sie waren mit Berufsverboten und einer bösartigen Hetze ausgesetzt, und es war abzusehen, dass das Regime ihnen auch Freiheit und Leben nehmen wollte.

Angst vor deutschen Sanktionen

Die Sonderausstellung "Geschlossene Grenzen" im Bendlerblock an der Berliner Stauffenbergstraße findet im Lichte aktueller Debatten über die Flüchtlingskrise seit 2015 statt. Sie zeigt, was zögerliche, fremdenfeindliche Politik und das Anbiedern an eine menschenverachtenden Diktatur ein Jahr vor Beginn des Zweiten Weltkriegs angerichtet haben und welche Folgen diese Haltung für unzählige im Deutschen Reich und dem ihm "angeschlossenen" Österreich unter perfider Drangsalierung und Ausgrenzung leidenden Juden hatte. Die im noblen Hotel Royal mit Blick auf den Genfer See versammelten Delegationen hatten vom 6. bis 15. Juli 1938 vergeblich versucht, eine Lösung für den von Nazideutschland verursachten Massenexodus europäischer Juden zu finden. Die Angst vor Sanktionen durch das NS-Regime sowie profaschistische und antijüdische Tendenzen zuhause waren trotz vollmundiger Bekundungen von Solidarität und Mitleid stärker als Widerstand gegen die Hitlerdiktatur sowie Solidarität für die stigmatisierten und ihrer Lebensgrundlagen beraubten deutschen und österreichischen Juden. Die Sowjetunion, der Todfeind von Nazideutschland, war auf der Konferenz nicht vertreten. Diktator Stalin verfolgte selber Juden in seinem Land und inszenierte Prozesse gegen sie nach dem Motto "Kein Mensch, kein Problem". Unter den Konferenzteilnehmern waren auch einige deutsche Juden, die der Sicherheitsdienst der SS zu diesem Zweck ausgewählt hatte und diesem rechenschaftspflichtig war. So wusste die Naziführung jederzeit, wie der Stand der Verhandlungen ist und was sie erbracht hatten.

Die Konferenz wurde zum Symbol für das Scheitern einer gemeinsamen, von demokratischen Ländern getragenen Flüchtlingspolitik. Gegenüber den auf Hilfe und Zuflucht hoffenden Juden fand man in Évian und den jeweiligen Hauptstädten fadenscheinige Begründungen für Passivität wie "Wir sind total überfordert", "Das Boot ist voll", "Wir haben zu viele Arbeitslose", "Wir brauchen Landarbeiter und keine Händler und Akademiker" oder "Unser Klima eignen sich nicht für Europäer". Derweil warteten tausende Juden im so genannten Großdeutschen Reich vor den Ämtern in der Hoffnung auf die begehrten Aus- und Einreisepapiere. Bald schon waren auch für sie die Grenzen dicht, und es begannen nach Kriegbeginn die ersten Transporte in die Vernichtungslager.

Ausreisepapiere gegen viel Geld

Für Nazideutschland war die Erteilung von Ausreisegenehmigungen ein lohendes Geschäft, denn die betroffenen Menschen mussten hohe Gebühren zahlen und auch auf ihre Vermögenswerte sowie ihre Betriebe und Immobilien verzichten. Von der so genannten Arisierung profitierten mit dem Naziregime liierte Unternehmer, und auch Kunsthändler, die jüdischen Sammlungen zugunsten der Staatskasse versteigerten, machten ihren Schnitt. Bis heute erheben Nachkommen jener Besitzer Ansprüche auf Gemälde, Möbel und andere Objekte, die ihren unter Druck gesetzten Familien regelrecht gestohlen wurden.

Die Niederlande, Belgien und Frankreich und Australien nahmen im Ergebnis der Konferenz von Évian statt 15 000 nur 4000 Juden auf, nach England konnten 10 000 jüdische Kinder ausreisen, allerdings ohne ihre Eltern. Auch andere Länder ließen Juden herein. Die Ausstellung nennt Beispiele, wo das gelungen ist, aber auch, dass die meisten der 930 jüdischen Flüchtlinge auf dem Dampfer St. Louis erst von den kubanischen Behörden abgewiesen wurden und auch in den Vereinigten Staaten und Kanada nicht landen durften. Viele kamen schließlich in Westeuropa unter, doch als verschiedene Staaten von der deutschen Wehrmacht überfallen worden waren, verloren auch sie, wenn sie nicht untertauchen konnten, ihre Freiheit und Leben. Präsident Roosevelts Aufruf für ein Handelsembargo gegen das Deutsche Reich und sein Wunsch, 20 000 jüdische Kinder aus Deutschland in den USA aufzunehmen, scheiterten aus Angst vor der eigenen Courage im amerikanischen Kongress. Manche Länder halfen den verfolgten Juden. Dass es sogar Botschaftsbeamte wagten, Verfolgten gefälschte Pässe zu verschaffen, mit denen sie in die Freiheit kamen, wird in der Ausstellung und im Buch dazu an bemerkenswerten Beispielen gezeigt. Auf der anderen Seite gab es Länder, die ihre Einwanderungsgesetze noch während der Tagung von Évian verschärften und sich damit die Gunst Nazideutschlands erwarben. Gans anders war die Haltung von Mexiko, das ab 1937 pro Jahr 5000 Einwanderer aus Deutschland aufnahm, darunter Anna Segners, Egon Erwin Kisch und Hanns Eisler. Hervorzuheben ist, dass das Land Mexiko Flüchtlinge des Spanischen Bürgerkriegs großzügig aufnahm, wie es im Buch zur Ausstelung heißt.

Mit der Sonderausstellung in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, wenige Schritte von den ehemaligen Arbeitsräumen des Hitler-Attentäters Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seiner Mitstreiter entfernt, wird ein trauriges Beispiel für den respektlosen, inhumanen Umgang der internationalen Staatengemeinschaft mit Flucht und Migration in den Fokus gerückt. Sie ist ausgesprochen aktuell, weil es nach der Flüchtlingskrise von 2015 ähnliche Tendenzen der Verweigerung und Abschottung gegenüber Menschen gibt, die übers Mittelmeer vor Krieg und Gewalt vor allem in Afrika fliehen und dabei zu Tausenden ertrinken.

Nazipresse jubelt

Der Ausgang der Konferenz war eine politische und moralische Katastrophe dar. Damals gab es noch keine Staatengemeinschaft wie die Vereinten Nationen, die sich auf Maßnahmen hätten einigen können. Die von Propagandaminister Joseph Goebbels beherrschte Presse im "Dritten Reich" jubelte angesichts der mageren Ergebnisse der Konferenz und machte sich über die auf Auswanderung hoffenden Juden lustig. Die Nazis hatten bis Ende 1937 fast ein Drittel der in ihrem Herrschaftsbereich lebenden Juden vertrieben und nach der Annexion Österreichs im März 1938 durch ihre verschärfte antijüdische Politik eine Massenflucht österreichischer Juden ausgelöst. Das Naziblatt "Völkischer Beobachter" kritisierte mit Blick auf die USA, Frankreich und England "Töne moralischer Entrüstung über die Liquidierung des Judenproblems in Deutschland" und zeigte sich zufrieden, dass Vertreter anderer Staaten "den Mut fanden, einer nach dem anderen ihre Abneigung gegen neue jüdische Einwanderer auszusprechen."

Als Konferenzbeobachterin sah Golda Meïr, Leiterin der Politischen Abteilung im Vorstand des zionistischen Gewerkschaftsbundes, das eigentliche Versagen in der Unfähigkeit der Delegierten und ihrer Regierungen, die Größe und Dringlichkeit des Problems zu erfassen. Die spätere Ministerpräsidentin von Israel schrieb voll Empörung: "Dazusitzen, in diesem wunderbaren Saal, zuzuhören, wie die Vertreter von 32 Staaten nacheinander aufstanden und erklärten, wie furchtbar gern sie eine größere Zahl Flüchtlinge aufnehmen würden und wie schrecklich leid es ihnen tue, dass sie das leider nicht tun könnten, war eine erschütternde Erfahrung. […] Ich hatte Lust, aufzustehen und sie alle anzuschreien: Wisst ihr denn nicht, dass diese verdammten ‚Zahlen' menschliche Wesen sind, Menschen, die den Rest ihres Lebens in Konzentrationslagern oder auf der Flucht rund um den Erdball verbringen müssen wie Aussätzige, wenn ihr sie nicht aufnehmt?" Gegenüber der Presse erklärte sie unter dem Eindruck der Konferenz: "Es gibt nur eines, was ich vor meinem Tod zu erleben hoffe, nämlich dass mein Volk nicht mehr auf Mitleidsbekundungen von wem auch immer angewiesen ist."

13. August 20181

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