"Warte, warte noch ein Weilchen…"
Massenmörder Fritz Haarmann trieb vor hundert Jahren in der Altstadt von Hannover sein Unwesen



Was Fritz Haarmann seinen Opfern angetan hat, kam nach seiner Verhaftung Stück für Stück ans Tageslicht und wurde von den damaligen Medien weidlich ausgeschlachtet.



Von der Presse und Fotografen umlagert waren Fritz Haarmann und Kriminalpolizisten Ortsbegehungen durch die düstere Altstadt von Hannover, damals Mittelpunkt der seit 1866 preußischen Provinz Hannover.



In seiner ärmlichen Behausung fanden die Beamten reichlich Spuren für die vielen Morde, die Haarmann zur Last gelegt wurden und zu seiner Hinrichtung am 15. April 1925 führten.



Die Karikatur von Thomas Theodor Heine im Münchner Satireblatt "Simplicissimus" spielt darauf an, dass Haarmann ein Polizeispitzel war. Der vernehmende Beamte verbittet sich, von dem vor ihm stehenden Mann mit "du" angesprochen zu werden. Auf dem Schreibtisch liegen ein Totenschädel sowie Knochen und eine Blutwurst.



Sauber ausgebreitet liegen auf dem Foto die Knochen der von Haarmann angeblich durch einen Biss in die Kehle ermordeten Menschen.



Seit 2003 verleiht die Deutsch-Israelische Gesellschaft Hannover den Theodor-Lessing-Preis für aufklärerisches Denken und Handeln.



In dem Dokumentarfilm "Puppenjungs" wurden die Verbrechen des Fritz Haarmann einem breiten Fernsehpublikum geschildert. Das Plakat daneben warb 2016 in Hannover für Theaterstück über die Mordtaten des berühmtesten und berüchtigsten Bewohners der Stadt.



Bestattet wurden die Opfer des Massenmörders und was man von ihnen gefunden hat auf dem Friedhof im Stadtteil Stöcken von Hannover unter einem Gedenkstein mit den Namen und der Inschrift "Dem Gedächtnis unserer Lieben vom September 1918 bis Juli 1924. (Fotos/Repros: Caspar, Bundesarchiv)

Vor hundert Jahren trieb der Serienmörder Fritz Haarmann in Hannover sein Unwesen. Der im damaligen Armen-, Elends- und Rotlichtviertel der Stadt an der Leine lebende Werwolf, Vampir, Schlächter, Kannibale und Werwolf genannte Händler mit Altkleidern und Fleischkonserven wurde 1924 wegen Mordes an insgesamt 24 Knaben und jungen Männern im Alter von zehn bis 22 Jahren in einem Aufsehen erregenden Prozess zum Tod verurteilt und am 15. April 1925 in Hannover mit dem Beil enthauptet. Dafür, dass Haarmann Leichenteile seiner ahnungslosen Opfer zu Fleischkonserven gemacht und verkauft hat, gibt es keine Beweise. Wohl aber ist belegt, dass er einen Handel mit deren Kleidungsstücken betrieben hat. Sein Geliebter und Komplice Hans Grans wurde mit der kompletten Garderobe eines der Haarmann-Opfer dingfest gemacht.

Die in seine Wohnung gelockten Jungen und Männer hat Haarmann zerstückelt und in der nahe gelegenen Leine beziehungsweise durch die Haustoilette entsorgt. Seine am Hauptbahnhof in Hannover, bekannt damals als Schwulenstrich, herumlungernde Opfer köderte der homosexuelle Serientäter mit dem Angebot, sie würden bei ihm eine warme Unterkunft und auch etwas zu essen bekommen. Dort soll er sich über sie hergemacht und sie durch Bisse in den Kehlkopf getötet haben. Dass manche Besucher Haarmanns Unterkunft nicht verlassen haben, fiel offenbar niemanden auf, auch nicht wie der als freundlich und gönnerhaft geschilderte Mann an Kleidungsstücke und Fleischkonserven gelangt war, mit denen er schwunghaften Handel betrieb. Jahre später sollen sich manche Leute in Hannover geweigert haben, Wurst zu essen, zu eklig war Vorstellung, sie könnte von Haarmann hergestellt worden sein.

Aus den Därmen macht er Würste

Man muss die Zeit bedenken, in der Deutschland mitten in der Hochinflation steckte, bei der das Papiergeld rasant an Wert verlor und eine große Verelendung bis in die Mittelschichten hinein stattfand. Dass die Millionen, Milliarden und Billionen nach Möglichkeit in Sachwerten angelegt wurden, war nicht verwunderlich. Das taten andere Leute auch. Bis heute wird in Hannover, und nicht nur dort, mit Bezug auf Haarmanns Verbrechen ein Spottlied gesungen, dessen erste Strophe lautet so: "Warte, warte nur ein Weilchen, / bald kommt Haarmann auch zu dir, / mit dem kleinen Hackebeilchen, / macht er Hackefleisch aus dir. / Aus den Augen macht er Sülze, / aus dem Hintern macht er Speck, / aus den Därmen macht er Würste / und den Rest, den schmeißt er weg."

Bereits 1918 stand Haarmann im Verdacht, etwas mit dem Verschwinden eines Siebzehnjährigen zu tun zu haben. Dessen Eltern vermuteten, er locke junge Leute an, und mehrere von ihnen seien spurlos verschwunden. Allerdings lehnte die um ihr Renommee besorgte Familie eine öffentliche Suche nach dem Sohn ab. Sie befürchtete, es könne seine vermeintliche Homosexualität bekannt werden, die sowohl in der Kaiserzeit als auch der Weimarer Republik unter Strafe stand und als ausgesprochen ehrenrührig stigmatisiert war. Nach Haarmanns Verhaftung wurde behauptet, die von Haarmann als "Puppenjungs" bezeichneten Personen trügen Mitschuld an seinen Verbrechen, denn sie hätten sich nicht mit ihm eingelassen dürfen. Die Grausamkeiten in Hannover und was sich dort am Hauptbahnhof zutrug bewirkten, dass die Strafgesetze verschärft gegen Homosexuelle in der Weimarer Republik und dann noch viel extensiver angewandt wurden.

Suche in Hannover nach Leichenteilen

Als Fritz Haarmanns Verbrechen aufgeflogen waren und durch Haussuchungen und grausige Funde in der Leine deren Umfang bekannt wurde, gab es in der Presse wilde Spekulationen über Komplicen und Mitwisser. Die Bevölkerung wurde aufgerufen, bei der Suche nach Leichenteilen in der nahe Haarmanns Wohnung Rote Reihe 2 in der Altstadt fließenden Leine zu suchen, und man fand massenhaft Skelettteile und verwestes Menschenfleisch. Blutuntersuchungen ergaben mindestens vier verschiedene Blutgruppen. Dass sie nicht von Selbstmördern stammen, zeigte sich bei der Untersuchung durch Gerichtsmediziner. Sie stellten an den Knochen scharfe Schnittstellen und andere Merkmale fest, die auf die Mordtaten deuteten. Haarmann stritt zunächst alle Anschuldigungen ab. Als die Polizei ihn mit von innen beleuchteten Totenschädeln und mit der Ankündigung unter Druck setzte, die Seelen der Verstorbenen würden ihn heimsuchen, legte er ein Teilgeständnis ab. Ärzte bescheinigten dem Massenmörder zwar eine Geisteskrankheit, hielten ihn aber für schuldfähig.

Kopf kam in die Rechtsmedizin

Nach umfangreichen Beweisaufnahmen einschließlich von Ortsbegehungen und langen Vernehmungen verurteilte ihn das Gericht zum Tod. Nach dem Verzehr der Henkersmahlzeit, die ihm gut schmeckte, wurde Haarmann im Hof des Gefängnisses von Hannover mit dem Fallbeil hingerichtet, ohne dass die Öffentlichkeit zuschauen konnte, wie das noch hundert Jahre zuvor üblich war. Sein Kopf wurde einem Hirnforschungsinstitut in München übergeben, wo man feststellte, dass Haarmann früher eine Hirnhautentzündung durchgemacht haben musste, was zu Hirn- und Wesensveränderungen führen kann. Der Kopf wurde im Institut für Rechtsmedizin in Göttingen als Präparat aufbewahrt. Überlegungen, ihn in einer öffentlichen Ausstellung zu zeigen, wurde 2014 verworfen, da die Rechtsmedizin der eigenen Linie treu bleiben wollte, keine voyeuristischen Ambitionen zu unterstützen. Der Kopf wurde daraufhin verbrannt und im März 2014 anonym bestattet.

Fritz Haarmann war einer berüchtigtsten Serienmörder Deutschland, wenn man von den Massenmördern der Nazidiktatur absieht, die ihre Verbrechen als für Volk und Staat nützlich rechtfertigten. Die Verbrechen des "Werwolfs von Hannover" wurden in zahlreichen Publikationen beschrieben und 1995 in "Der Totmacher" mit Götz George in der Hauptrolle verfilmt. Aufmerksamkeit erregte 1925 der Bericht von Theodor Lessing als Beobachter über den Prozess gegen Haarmann. In seinem Buch machte der in Hannover lebende Philosoph und Schriftsteller die dubiose Rolle der Polizei vor Ort, für die Haarmann als Spitzel tätig war, öffentlich, worauf er vom Prozess ausgeschlossen wurde. Nach der Errichtung der NS-Diktatur konnte Lessing in die Tschechoslowakei fliehen und wurde in Marienbad durch Schüsse der nationalsozialistischen Attentäter Rudolf Max Eckert, Rudolf Zischka und Karl Hönl in seinem Arbeitszimmer lebensgefährlich verletzt. Lessing erlag am Tag darauf im Alter von 61 Jahren seinen Verletzungen und wurde auf dem Jüdischen Friedhof in Marienbad bestattet.

Merkwürdigster Rechtsfall unserer Tage

Der bei der deutschen Rechten und den Nazis verhasste Schriftsteller gilt als das erste Todesopfer des NS-Regimes auf tschechischem Boden. Die Attentäter entkamen nach Deutschland und erhielten neue Identitäten. Eckert kehrte 1941 nach Marienbad zurück, wurde dort erkannt und 1946 zu 18 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. 1959 wurde er in die Bundesrepublik abgeschoben. Zischka lebte bis zu seinem Tod 1978 unbehelligt in der DDR. Im Vorwort zu seinem Buch "Haarmann - Die Geschichte eines Werwolfs " von 1925 schrieb Theodor Lessing: "Nur mit Widerwillen, ja oft mit Ekel bin ich, ganz andersartige Lebensarbeit unterbrechend, der Chronist dieses Stückes ,Kulturgeschichte' geworden. Aber erstens wurde ich da hineingedrängt durch ein Gericht, das die Wahrheit zu verschleiern drohte und mithin das ewig gültige Recht zu Gunsten des bloß zeitlich geltenden Rechts zu beugen unternahm. Weil aber die Wahrheit bedroht war, so wurde es fast zur Pflicht, folgerichtig durchzugreifen und den gesamten Rechtsfall klar und sachlich vor die Nachwelt zu bringen. Dazu aber kam ein zweites: In Stadt und Schauplatz gewurzelt, war ich der einzige, der Ort, Zeit, Personen und Zusammenhänge völlig übersehen konnte. Und so wurde es auch von dieser Seite her zur Pflicht gegen die künftigen Geschlechter, den merkwürdigsten Rechtsfall unserer Tage aufzubewahren. Es geschah so, dass dem einfachen Leser alle Vorgänge bildhaft lebendig werden, dass andererseits aber auch für die Wissenschaft: Psychologie, Psychiatrie, Strafrecht und Rechtsethik, das Studium dieses Kriminalfalles wertvoll bleibt. Darüber hinaus aber sehe man in dieser Schrift ein Stück Zeitkritik und Charakterkunde; denn in dieser Hinsicht kann dies Buch gelten als ein sinnfälliges Beispiel zu den Lehren, die ich in ,Untergang der Erde am Geist' und ,Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen' über Philosophie der Kultur und in der ;Symbolik der menschlichen Gestalt' zur Psychologie niedergelegt habe. Hannover, im Januar 1925. Theodor Lessing, Dr. med. und phil. Prof. der Psychologie."

Der Film "Puppenjungs" von Nils Loof durchleuchtet den vielschichtigen Fall des Massenmörders Fritz Haarmann. In den "Hauptrollen": ein stadtbekannter Polizeispitzel, der seinen Opfern die Kehle durchbeißt, was aber nicht bewiesen ist, und sein skrupelloser Geliebter Hans Grans, der Kleidung der Opfer trägt, ferner der genau beobachtende Philosoph und Schriftsteller Theodor Lessing, der gegen die Windmühlen der Justiz kämpft, sowie eine ehemalige Residenzstadt zwischen Elend und wirtschaftlichem Aufschwung, deren Bürger wegschauen und das Offensichtliche nicht wahrhaben wollen. Facit des Fernsehdramas: Ob Nachbarn oder Familie, Polizisten und Mediziner - jeder von ihnen hat sich in irgendeiner Art und Weise schuldig gemacht, so wie es auch Theodor Lessing in seinem Prozessbericht sagt.

26. Dezember 2018

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