Rudolf Herrnstadts tiefer Fall
Wie die SED-Führung Rache an einem prominenten Kritiker nahm und sich dieser zu rechtfertigen versuchte





Als 1951 das Foto mit dem Parteichef Walter Ulbricht aufgenommen wurde, war Rudolf Herrnstadt, Chefredakteur des Neuen Deutschlands, noch wohlgelitten. 1953 wegen seiner kritischen Haltung zum Parteifeind angestempelt und aus allen seinen Ämter verjagt, fristete der lungenkranke Journalist als Archivmitarbeiter in der DDR-Provinz kümmerlich sein Leben. Seine Hoffnung, durch vernünftige Argumente Ulbricht und Genossen für einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" zu gewinnen, ging nicht in Erfüllung. (Foto links: Bundesarchiv)



Die von Kaiser Wilhelm II. den Berlinern als Ehrengeschenk gestiftete Siegesallee im Tiergarten war zu ihrer Entstehungszeit wegen ihrer künstlerischen Qualität und der Auswahl der Personen umstritten. Im In- und Ausland war "Wilhelm der Plötzliche" wegen vielfältiger Kritik ausgesetzt.





Was die "Puppenallee" zu bedeuten hat und warum für die "Vogelscheuchen aus Marmor" so viel Geld ausgegeben wird, fragten sich nicht nur Besucher aus der Provinz, wie auf der Karikatur von Thomas Theodor Heine im "Simplicissimus" zu sehen.





Bei gutem Willen wäre es Rudolf Herrnstadt möglich gewesen, hinter die Fassade des Joachimsthalschen Gymnasiums zu schauen und den Schleier über den Schüleraufsätzen zu lüften, doch hat er es bei Polemik belassen. (Foto/Repros: Caspar)

In der Geschichte der DDR kam es vor, dass hohe Funktionäre einen tiefen Fall erlitten und auf unbedeutende Posten in der Provinz abgeschoben wurden. Manchem ging es weitaus schlimme, den es gab für unbotmäßige Leute Todesurteile oder hohe Zuchthausstrafen. Beides blieb dem SED-Funktionär Rudolf Herrnstadt erspart. 1950 zum Kandidaten des Politbüros des Zentralkomitees der SED und 1950 in die Volkskammer der DDR gewählt, vertrat der überzeugte Kommunist und Chefredakteur des SED-Zentralorgans Neues Deutschland gemeinsam mit dem Staatssicherheitsminister Wilhelm Zaisser und anderen Funktionäre Ansichten, die mit denen der sowjetischen Führung und ihres ostdeutschen Handlangers, SED-Chef Walter Ulbricht, kollidierten. Ziel der Abweichler von der Parteilinie war, das Machtvakuum nach dem Tod des sowjetischen Diktators Josef Stalin am 5. März 1953 und das nun beginnende so genannte Tauwetter zu nutzen, um die katastrophalen politischen und materiellen Verhältnisse in der DDR zu verbessern und die Gründe zu beseitigen, die zur massenhaften Flucht von Hunderttausenden in den Westen führten. Herrnstadt ging der Personenkult um Ulbricht, dessen 60. Geburtstag Ende Juni 1953 pompös gefeiert werden sollte aber wegen der gefährlichen Situation beim und nach dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 nicht gefeiert wurde, absolut gegen den Strich. Das erregte den Zorn des SED-Chefs, der sich im Stil seines großen Vorbilds Josef Stalin gern als "neuer Typus des deutschen Arbeiterführers" vergöttern ließ.

Persona non grata

Die im Neuen Deutschland vom Chefredakteur Rudolf Herrnstadt durch Artikel und Meldungen betriebene so genannte Fehlerdiskussion und der mehr oder weniger verklausulierte Aufruf, sich vom Personenkult um bestimmte Personen zu verabschieden, ja auch das ewige Auswendiglernen von Formeln des Marxismus-Leninismus aufzugeben und die Lehren der "Klassiker" durch konkrete Taten zum Wohle des Volkes Wirklichkeit werden zu lassen, brachte 1953 das Fass zum Überlaufen. Nach dem von der Roten Armee und ihren ostdeutschen Handlangern niedergeschlagenen Volksaufstand wurde ein Parteiverfahren gegen Herrnstadt, Zaisser und andere Funktionäre wegen angeblicher staatsfeindlicher Betätigung, Fraktionsbildung und Vorbereitung eines innerparteilichen Putsches gegen die SED-Führung angestrengt. Das Verfahren endete mit dem Ausschluss der Angeschuldigten aus der SED und der damit verbundenen Entlassung aus allen Ämtern.

Der durch Publikationen nach dem Ende der DDR dokumentierte Willkürtakt, gegen den Herrnstadt bis zu seinem Tod 1966 immer wieder mit Eingaben und Rechtfertigungsschriften auch an die Adresse führender, in seinen Sturz verwickelter sowjetischer Funktionäre anzugehen versuchte, glich einem politischen Todesurteil. Wie der geschasste Stasi-Minister Zaisser war auch der ehemalige ND-Chefredakteur in der DDR eine Persona non grata, eine Unperson. Doch blieb Herrnstadt eine Haftstrafe erspart. Man ließ ihn am Leben, er wurde nicht vernichtet wie andere so genannte Parteifeinde in der Sowjetunion, Ungarn und der Tschechoslowakei. Von Ostberlin in die Provinz auf einen unbedeutenden, schlecht bezahlten Posten abgeschoben und dort Ausgrenzung, Demütigungen und Spitzeleien ausgesetzt, hatte Herrnstadt keine Aussicht, bei den herrschenden Machtverhältnissen irgendwann wieder politischen Einfluss zurückzugewinnen. Wohl auf seine Rehabilitierung hoffend, die tatsächlich erst nach dem Zusammenbruch des SED-Regimes Ende November 1989 erfolgte, also lange nach seinem Tod, versah der strafversetzte Journalist mit ausgeprägten historischen Interessen ein Pamphlet über die Aufsätze der Schüler des Joachimsthalschen Gymnasiums über die Beinstellung der Figuren auf der Berliner Siegesallee mit unsachlichen, ja ätzenden Kommentaren wider Fürstenherrschaft und preußisch-deutschen Militarismus und wilhelminischen Personenkult, ohne diesen auf Stalin und Ulbricht gemünzten Begriff allerdings zu benutzen. Irgendwelche Parallelen zwischen dem Byzantinismus, den Kaiser Wilhelm II. um sich betrieb, und den gegenwärtigen Verhältnissen zog Herrnstadt nicht. Doch könnte man beim Lesen des Buches aus dem Jahr 1960 auf die Idee kommen, dass Herrnstadt bei seiner Kritik nicht nur 60 Jahre zurück liegende Ereignisse im Auge hatte.

Rache im Leben und im Tod

Für den gesundheitlich angeschlagenen Autor war die zwangsweise Umsiedlung in den Chemiebezirk der DDR nicht weit von den Leunawerken mit ihren giftigen Emissionen alles andere als zuträglich, und tatsächlich erreichte der ehemalige SED-Funktionär, der als Archivmitarbeiter mit kümmerlichem Gehalt Mühe hatte, seine Familie zu ernähren, nur 63 Jahre. Wie groß die Wut seiner ehemaligen Genossen war, mag ein bezeichnendes Detail erhellen. Die am 31. August 1966 im SED-Bezirksorgan "Freiheit" veröffentlichte Todesanzeige nannte seinen Namen mit dem Zusatz "Er war ein aufrechter Mensch". Die von der Familie gewünschte Charakterisierung "Er war ein aufrechter Kommunist" wurde dem toten Herrnstadt verweigert!

Rudolf Herrnstadt griff die sich angeblich auch im Aufsatzthema und den Beschreibungen der Schüler des Joachimsthalschen Gymnasiums in Berlin manifestierende Erziehung in der Kaiserzeit zu "Totschlägergeist, Antihumanismus und Volksfeindschaft" an und verband seine Schmähungen mit Ausfällen an die Adresse des Kaisers, der in allerschlechtestem Parteichinesisch als "klassenbewußter, skrupelloser Vertreter der Interessen von Großkapital und Junkertum" charakterisiert wird. Gleich eingangs beschrieb der Verfasser die Aufsatzgeschichte als einen Vorgang, "den jeder mit gesunden Sinnen ausgestattete Mensch zunächst als unglaubhaft zurückweist. Auch wir, die in den Akten des ehemaligen Brandenburg-Preußischen Hausarchivs auf diesen Vorgang stießen, haben im Anfang unseren Augen nicht getraut. Aber Dokumente sind Dokumente, und an der Authentizität ist kein Zweifel. […] Wer dieser Oberlehrer war, wissen wir nicht. Aber wir wissen, dass ihm das Thema schön und lehrreich erschienen sein muss. Er stellte es nicht nur einmal; die überlieferten Aufsatzhefte stammen teils von Ober- teils von Unterprimanern. Wir wissen auch nicht, wie die Primaner das Thema aufnahmen. Ob sie ihren Lehrer für geistesschwach hielten oder im Gegenteil für einen besonders subtilen Kopf". Die vier Hefte, also die Aufsätze, seien ein einziger Hymnus auf das Hauen und Stechen, Würgen und Treten, Rauben und Morden, mit einem Wort auf die kriegerische Tradition der Preußen, behauptete Herrnstadt, wissend, dass die eher harmlosen Bein-Beschreibungen genau diese Eigenschaft und politische Zielrichtung nicht hatten, sondern harmlose, ja mühsam zusammengeklaubte und wenig originelle Beschreibungen figuraler Details ohne größere Bedeutung.

Kommunistische Heilspropaganda

Wie der Verfasser Vergangenheit und Gegenwart mischte und seine Beschreibungen in kommunistische Heilspropaganda münden ließ, möge eine weitere Kostprobe zeigen. "Heute, 1959, da wir diese Schülerhefte ausgraben, sind seit Wilhelms Geburt genau hundert Jahre vergangen, und schon an die zwanzig Jahre modert er vergessen in Holland, wohin er sich in der Nacht mit dem dicken Nebel vor den ,Leuten' zurückzog. Unmöglich aufzuzählen, was alles sich seither veränderte. Beschränken wir uns auf die Feststellung, dass die Werktätigen der Deutschen Demokratischen damit beschäftigt sind, den Sozialismus aufzubauen, und Mühe haben sich vorzustellen, es hätte einmal Ihn [den Kaiser, H. C.] gegeben." Herrnstadts bekundete den Primanern "tiefes Mitgefühl", als er gönnerhaft schrieb: "Wenn also ihre Bemühungen im folgenden, was unvermeidlich ist, zu Heiterkeit Anlass geben, so richtet sich das Lachen nicht gegen sie, sondern gegen ein System, das von ihnen Lächerlichkeit erzwang".

Bei den im Westen lebenden "Joachimsthalern", also Schülern des Joachimsthalschen Gymnasiums an der Bundesallee im Westberliner Bezirk Wilmersdorf, stießen Herrnstadts Schmähungen auf heftigen Reaktionen, die in der Formulierung gipfelte, man müsse bei der Lektüre schon eine gehörige Portion Widerwillen überwinden. Die Edition von 1960 hatte allerdings auch ihr Gutes, denn nun beschäftigten sich Absolventen der renommierten Schule mit der längst vergessenen Episode ihrer bis ins frühe 17. Jahrhundert zurückreichenden Schulgeschichte und stellten nach sechs Jahrzehnten aus eigenem Erleben dar, wie sie 1901 zu dem Thema kamen und wie sie Wilhelm II. bei der Denkmalweihe auf der Siegesallee erlebten. Dass die Berichte nach so langer Zeit in manchen Details differierten, ist nicht verwunderlich.

Stalin vom Sockel gestürzt

Einzelheiten über den Fall Rudolf Herrnstadt und die Tauwetterpolitik vor dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 hat der Politologe und Soziologe Helmut Müller-Engbergs 1990 publiziert. "Die Beine der Hohenzollern" spielen darin eine untergeordnete Rolle. Rudolf Herrnstadt Tochter, die Historikerin Nadja Stulz-Herrnstadt, veröffentlichte im gleichen Jahr das so genannte Herrnstadt-Dokument mit dem Titel "Zur Angelegenheit Zaisser-Herrnstadt". Die Rechtfertigungsschrift wurde 1956 von Rudolf Herrnstadt nach dem gegen ihn und den ehemaligen Minister für Staatssicherheit Wilhelm Zaisser angestrengten Parteiverfahren verfasst, in einer Zeit also, da der neue Parteichef der sowjetischen Kommunisten, Nikita Chruschtschow, auf dem XX. Parteitag der KPdSU die so genannte Entstalinisierung einläutete und den Diktator einen Diktator nannte und seine Verbrechen, vorsichtig formuliert, beschrieb.

In der DDR vollzog sich Stalins Sturz vom Sockel und die Abkehr von dem ehemals als Halbgott verehrten sowjetischen Massenmörder nur langsam, in Ungarn hingegen bracht im Herbst 1956 ein Aufstand gegen die bisherige Machtclique aus, der aber nach ein paar Tagen blutig von der Roten Armee niedergeschlagen wurde. Mag sein, dass sich Herrnstadt von seiner Rechtfertigungsschrift erhoffte, die gegen ihn erhobenen Anschuldigungen entkräften zu können und seine Rehabilitation zu betreiben. Wie sich zeigte, nutzten alle Interventionen und auch seine Mahnung nichts, auf alte Fehler neue, auf alte Verbrechen neue zu setzen, und unter allen Umständen der historischen Wahrheit zu ihrem Recht zu verhelfen. Das Urteil über Herrnstadt und andere "Abweichler" blieb bis zum Ende der SED-Herrschaft bestehen.

Nachdem Herrnstadt am 31. August 1953 gegenüber dem SED-Zentralkomitee und seiner Zentralen Parteikontrollkommission (ZPKK) Selbstkritik geübt und sich reumütig gezeigt hatte, fasste er 1956 Mut und schrieb an die gleiche Adresse: "In dieser Zeit des ersten Höhepunktes der Verleumdungskampagne hatte ich die Erklärung abzufassen, die nunmehr der ZPKK zuzustellen war. […] Ich habe an dieser Erklärung Wochen gesessen. Vor Augen stand mir, dass niemand in der Partei bleiben kann, der nicht die Beschlüsse der Partei vollinhaltlich billigt, dass ich also so oder anders zur vollinhaltlichen Billigung des gegen mich gefassten Beschlusses kommen musste. Vor Augen stand mir vor allem der Satz: ‚Du kannst doch nicht klüger sein wollen als das ganze ZK.' Ich versuchte also alles zuzugeben, was ich mir irgendwie als Fehler begreiflich machen konnte, und vor allem, nicht Phrasen zu schreiben, sondern der Partei und mir selbst den Prozess zu erklären, wie ich zu meiner Schuld und zur Einsicht in meine Schuld gekommen sei. […] Dabei muss ich an die unwahren Selbstbezichtigungen geglaubt haben."

Erhoffte Vergebung blieb aus

Er frage sich heute, 1956, ob er sich für die Erklärung von 1953 zu schämen habe. Es gelingt mir nicht. Wenn ich mich dafür schämen soll, dass ich um keinen Preis gegen die Partei recht haben wollte - wie müssen sich diejenigen schämen, die Menschen in solche Lagen und Zustände, wie die hier geschilderten, bringen! Heute wird oft gesagt, Geständnisse dürften nicht als ausreichendes Material für eine Verurteilung angesehen werden, weil sie durch körperliche Zwangsmaßnahmen erzwungen sein könnten. Es bedarf gegenüber einem Kommunisten, für den der Begriff Parteidisziplin keine Phrase ist, keiner körperlichen Zwangsmaßnahmen. Er wird der Partei, wenn es hart auf hart geht, immer recht geben." Die erhoffte "Vergebung" blieb aus, Ulbricht mag Herrnstadts Rechtfertigung wie eine Provokation vorgekommen sein. Also blieb er in der nach widerlichen Abgasen riechenden Provinz im durfte im Archiv arbeiten.

Unklar ist, warum Herrnstadt in seiner Schmähschrift den Namen des Gymnasialprofessors Otto Schroeder nicht nannte, der seinen Schülern das sonderbare Aufsatzthema gegeben hatte. Angeblich kannte er ihn nicht, vielleicht wollte er ihn aber auch nicht wissen. Eine Nachfrage bei alten "Joachimsthalern", die auch in der DDR lebten, hätte unschwer enthüllt, wer der "unbekannte" Oberlehrer war. Wenn Herrnstadt wusste, um wen es sich handelt, den Namen aber nicht nannte, so liegt der Verdacht nahe, dass beim Nachprüfen der Geschichte herausgekommen wäre, dass Schroeder dem Klischee eines kaiser- und obrigkeitsgläubigen Schuldiktators eben nicht entsprach. Das aber hätte seine Argumentation durcheinander gebracht. Im Übrigen muss Herrnstadt gewusst haben, welche imposante Geschichte das 1607 gegründete Joachimsthalsche Gymnasium hat und dass das 1912 von Berlin-Wilmersdorf in die uckermärkische Stadt Templin umgesiedelte Institut im April 1945 von sowjetischen Truppen besetzt und ausgeplündert sowie in der frühen DDR-Zeit liquidiert wurde, weil es mit den Bildungszielen des kommunistischen Arbeiter-und-Bauern-Staates nicht übereinstimmte.

Blick in kaiserliche Schul- und Kulturpolitik

Sein Pamphlet liefert dafür und für die Ausrottung jeder Erinnerung an das Joachimsthalsche Gymnasium und seine humanistischen Traditionen nachträgliche Schützenhilfe. Über die Beweggründe darüber, warum sich Herrnstadt mit den vergilbten Schüleraufsätzen aus der Kaiserzeit beschäftigte und über sie ein Buch verfasste und warum er sich nicht ein anderes, wirklich brisantes Thema aussuchte, das seine Kreise nicht nur zum Lachen gebracht, sondern in wirkliches Erstaunen versetzt hätte, wurden mancherlei Vermutungen angestellt. Wichtig war es aber schon, dass Herrnstadt mit seinem Buch, dem später weitere zum gleichen Thema folgten, interessante Einsichten in die während der Kaiserzeit praktizierte Schul- und Kulturpolitik vermittelte. Ohne ihn wären die vergilbten Aufsatzhefte wohl nie ans Tageslicht gekommen. Zitieren wir Wolfgang Weinert in der Westberliner Zeitung "Die Welt" (Nr. 41, 1961). Danach hätten wissenschaftliche Mitarbeiter der Merseburger Außenstelle und des Zentralarchivs in Potsdam, die inzwischen der Zone [d. i. DDR, H. C.] den Rücken gekehrt haben, zu berichten gewusst, "dass der ihnen gegenüber zumeist verschlossene Kollege Herrnstadt immer wieder davon sprach, auf der ,Basis' eines Erfolgs als politischer Autor wieder in den ,Überbau' der Partei zu gelangen. In diesem Punkt dachte der mit bestechender Intelligenz ausgerüstete Herrnstadt ganz simpel: die Partei hatte ihn ausgebootet und zur Bewährung nach Merseburg geschickt. Bewährte er sich dort, würde ihn die Partei wieder an Bord lassen. Und ein Erfolgsbuch ist eine solche Bewährung, meint er."

Es bleibt dahingestellt, ob sich Rudolf Herrnstadt mit seinem Machwerk tatsächlich der Parteiführung empfehlen konnte oder ob er sich mit seiner misslichen Lage abgefunden hat. Aber sicher ist wohl, dass es eine Weile dauerte, bis die alles bestimmende SED-Führung dem Verlag Rütten & Loening grünes Licht gab, mit einem Kommentar über die vom Kaiser mit Randbemerkungen "veredelten" Schüleraufsätze eine neue Taschenbuchreihe über historische Themen zu eröffnen. Nach dem Buch "Die Beine der Hohenzollern" waren 1960 eine Publikation über die Internationale Rote Hilfe angekündigt, ferner über die erste kommunistische Regierung im indischen Teilstaat Kerala, über das Münchner Abkommen von 1938 und seine Folgen sowie über Afrika im Zweiten Weltkrieg und schließlich über die internationalen Beziehungen zwischen 1917 und 1957.

Literaturtipp: Irina Liebmann: Wäre es schön? Es wäre schön! Mein Vater Rudolf Herrnstadt. Berlin Verlag, Berlin 2008, 415 Seiten (ISBN 9783827005892) Rudolf Herrnstadt in der Redaktion des Neuen Deutschland, sein Pamphlet von 1960 über die Schüleraufsätze trug ihm hüben und drüben keinen Beifall ein. Aber es machte mit dem wörtlichen Abdruck der mühsam formulierten Meinungen über die "Beine der Hohenzollern" einer Kuriosität der kaiserlichen Kultur- und Schulpolitik bekannt.

28. Oktober 2018

Zurück zur Themenübersicht "Geschichte, Zeitgeschichte, Ausstellungen"