"Die Mauer bleibt noch hundert Jahre stehen"
Honeckers Drohung Anfang 1989 brachte viele DDR-Bewohner dazu, die gefährliche Flucht in den Westen zu wagen



Bis zu ihrem Fall am 9. November 1989 wurde die streng bewachte Mauer rund um Berlin und entlang der deutsch-deutschen Grenze ausgebaut, so dass kaum noch ein Durchkommen möglich war.



Nur von West nach Ost waren anfangs Reisen möglich, hier eine Szene an der Oberbaumbrücke in Berlin. Die Lockerung der Reisevorschriften für DDR-Bewohner, die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE, 1973) und andere Entwicklungen hatten für das SED-Regime den Effekt, dass immer mehr DDR-Bewohner nach zeitweiligen oder dauerhaften Ausreisen strebten.



Im Tränenpalast am Berliner S-Bahnhof Friedrichstraße durchliefen täglich in Richtung Westen tausend Personen die Grenzkontrollen. Bestimmte mit Sonderausweisen ausgestattete Diplomaten und Dienstreisende wurden von den Grenzern nur durchgewunken.



Das Plakat in der Ausstellung im Tränenpalast forderte DDR-Grenzsoldaten auf, über den Sinn und das Ziel ihrer Tätigkeit an der Demarkationslinie zwischen Ost und West ernsthaft nachzudenken.



Das als Geheime Verschlusssache deklarierte Schema zeigt den Aufbau der Grenzanlagen, die in der DDR-Propaganda als antifaschistischer Schutzwall ausgegeben wurden. (Foto/Repros: Caspar) Der Januar 1989 begann mit einer spektakulären Aktion, über die nur in den Westmedien berichtet wurde. Schon mehrfach hatten ausreisewillige DDR-Bewohner in der bundesdeutschen Vertretung an der Hessischen Straße in Berlin-Mitte Zuflucht gesucht. Sie wollten die Behörden der Bundesrepublik veranlassen, ihre Ausreise in den Westen zu betreiben. Zwanzig dieser "Botschaftsbesetzer" konnten am 11. Januar 1989 dazu bewegt werden, das Haus zu verlassen, nachdem ihnen Straffreiheit und Überprüfung ihrer Ausreiseanträge zugesichert worden war. Die Staatssicherheit sorgte mit ihren perfiden Methoden, dass das Beispiel keine Schule macht und weitere DDR-Bürger von der Ständigen Vertretung fern blieben. Dass die Botschaftsbesetzungen in der DDR bekannt wurden, ließ sich nicht verhindern, dafür sorgten westliche Medien, für die keine Grenzen bestanden. Offenbar war der Kordon um das Haus nicht eng genug, denn im Laufe des Sommers 1989 kam es zu weiteren Aktionen dieser Art.

Die bundesdeutsche Vertretung war, blamabel für die DDR, die sich gerade auf ihr vierzigjähriges Bestehen vorbereitete, voll von Ausreisewilligen, so dass sie erneut geschlossen werden musste. Über 130 Männer, Frauen und Kinder hielten sich dort auf. In einem Brief, den Bundeskanzler Helmut Kohl am 23. August 1989 erhielt, beschrieben sie ihre verteufelte Lage und stellten fest: "Ergreifende, tränenreiche und ungerechte Schicksale haben uns hier zusammen geführt... Was Menschen in diesem Staat erlebt haben und erleben müssen, ist nahezu unvorstellbar. Frauen dürfen nicht zu ihren Männern, Kinder nicht zu ihren Eltern, Pflegebedürftige erhalten keine verwandtschaftliche Hilfe. Familienbande sollen zerrissen werden, was humanitäre Gründe sind, entscheiden die Behörden der DDR willkürlich. Vielen von uns wurde die Möglichkeit genommen, ihren Beruf auszuüben, andere wurden aufgrund ihres Berufes gegen ihren Willen in der DDR festgehalten." So verschieden die Beweggründe auch sein mögen, fuhren die Briefschreiber fort, sie alle seien fest entschlossen, bis zu einer für sie akzeptablen Lösung auf dem Gelände der Ständigen Vertretung zu bleiben. Kohl schreibt in seinem Erinnerungsbuch über die Jahre von 1982 bis 1990 über diesen Brief, er drücke mehr aus als alle politischen Analysen aus.

Zuflucht in der Ständigen Vertretung

Viel konnte die Bundesregierung den Zufluchtsuchenden nicht helfen. Die SED-Führung und die DDR-Regierung blieben hart, und nach und nach verließen die DDR-Bewohner die Ständige Vertretung. Ihnen war von den ostdeutschen Behörden Straffreiheit und die zügige Bearbeitung ihres Anliegens zugesichert worden. Kohl beschrieb die Haltung seiner Regierung als unverrückbar und von den jeweiligen Stimmungen nicht beeinflussbar. Ziel sei und bleibe, "allen Deutschen das Recht auf Zuflucht und Unterstützung zu gewähren." Wie es den Leuten ergangen ist, die die Ständige Vertretung wieder verließen und ob sie in den Westen ausreisen durften, ist nicht bekannt. Die Ereignisse der folgenden Wochen und Monate brachte sie auf unerwartete Weise dann doch noch ans Ziel ihrer Wünsche, einige mögen, da am 9. November 1989 die Mauer gefallen war, in der Heimat geblieben sein.

Von den westlichen Medien weltweit verbreitet, führten die Botschaftsbesetzungen zu einer starken Verunsicherung und hektischen Gegenmaßnahmen des Honecker-Regimes. Der Partei- und Staatschef sah sich bemüßigt, immer wieder zu betonen, dass der "antifaschistische Schutzwall" ein unverbrüchlicher Garant des Friedens in Europa ist. Um seinen Untertanen die Illusion zu nehmen, daran könne sich etwas ändern, versicherte er im Januar 1989 bei einer Tagung des Komitees zur Vorbereitung der Thomas-Müntzer-Ehrung in der DDR, die Mauer werde "in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben, wenn die dazu vorhandenen Gründe noch nicht beseitigt sind. Das ist schon erforderlich, um unsere Republik vor Räubern zu schützen. Ganz zu schweigen von denen, die gern bereit sind, Stabilität und Frieden in Europa zu zerstören". Die DDR sei durch die Maßnahmen von 1961 vor Ausplünderung und vor Drogen bewahrt worden, behauptete der damals noch mächtigste Mann im Lande. Insgesamt habe der "antifaschistische Schutzwall" den Frieden gerettet. Honecker lenkte von den eigenen prekären Verhältnissen ab und wies mit dem Finger auf die hochgerüstete Grenze zwischen den USA und Mexiko und dass in Florida Menschen niedergeschossen wurden, als sie gegen die Rassendiskriminierung protestierten.

Mit tschekistischem Können

Bei seinen Reden brüstete sich der SED- und Staatschef damit, dass zahlreiche DDR-Bewohner, die noch nicht im Rentenalter waren, nach Antragstellung bei der Polizei und Überprüfung durch die Staatssicherheit hinsichtlich ihrer, wie es im Jargon hieß, positiven beziehungsweise loyalen Grundeinstellung zu Besuchsreisen in den Westen fahren durften. 1987 wurden etwa 1,3 Millionen dieser Anträge genehmigt, weitere 300 000 jedoch abgelehnt, selbstverständlich ohne Angabe von Gründen, was zu großem Ärger führte. Dass den DDR-Bewohnern ein in der von der eigenen Regierung unterzeichneten Schlussakte von Helsinki (1973) festgeschriebenes Grundrecht verweigert wurde, brachte viele Antragsteller in Rage, ließ sie empört Eingaben schreiben, die nicht oder unzureichend beantwortet wurden, den Absendern aber zusätzliche Repressalien einbrachten. Denn schon allein die Berufung auf "Helsinki" oder später auf "Wien", wo weitere Verhandlungen über humanitäre Fragen geführt wurden, galt als staatsfeindlicher Akt. Die Staatssicherheit registrierte ein "extrem aggressives, höhnisches und arrogantes Auftreten" von Antragstellern und setzte alles daran, so genannte Übersiedlungssuchende, ob einzelne oder in losen Gruppen zusammengeschlossen, mit Hilfe der inoffiziellen Kräfte und mit "tschekistischem Können" zu unterwandern und durch "Verunsicherung, Aufweichung und Zersetzung" unschädlich zu machen.

Die Antragsteller gaben sich durch kleine Zeichen wie weiße Fähnchen an der Autoantenne oder Anstecker an der Kleidung untereinander zu erkennen. Wenn das die "Organe" sahen, also die Staatsicherheit, schlugen sie unbarmherzig zu und unterbanden jegliches "feindlich-negative Verhalten". Beunruhigend waren für Partei und Regierung die Informationen, Bilder und Geschenke, die "Westreisende" zurück brachten. Vergleiche zwischen den Lebensverhältnissen in der Bundesrepublik und Westberlin und denen daheim fielen in der Regel zu Ungunsten der DDR aus und lösten massive "Medienbearbeitung" aus. Die DDR-Bürger sollten sich vom äußeren Erscheinungsbild im Westen nicht "blenden" lassen, das wahre Menschenparadies sei und bleibe der Arbeiter-und-Bauern-Staat, lautete der Tenor in den von der SED kontrollierten Zeitungen und im Fernsehen.

Nicht jeder bekam die begehrte Genehmigung

Vor allem der berüchtigte Fernsehkommentator Karl-Eduard von Schnitzler beteiligte sich mit seinem "Schwarzen Kanal" an der Kampagne. Er verwendete nicht nur Bilder von den Licht- und noch mehr von den Schattenseiten der bundesdeutschen Gegenwart, sondern kramte uralte Argumente aus der Mottenkiste des Klassenkampfes hervor. Das aber kam im Publikum nicht gut an, weil es den Westen anders erlebt hatte und den aggressiven Ton als unpassend empfand. Man merkte, um mit Wilhelm Busch zu sprechen, die Absicht und war verstimmt. Sicher ließen sich viele Besucher von der glänzenden Fassade im Westen beeindrucken, und manche mögen verkannt haben, dass der "Wohlstand für alle", um ein geflügeltes Wort von Ludwig Erhard, des Vaters des westdeutschen Wirtschaftswunders, zu benutzen, hart erarbeitet und immer wieder durch Wirtschaftskrisen bedroht war. Dass es heftige politische und kulturelle Auseinandersetzungen im deutschen Westen, dass es dort den "deutschen Herbst" mit terroristischen Mordanschlägen und den Studentenprotest gegen den "Mief von tausend Jahren" gab, mögen die wenigsten Reisenden aus der DDR wahrgenommen haben. Dort wurde, wenn überhaupt, nur einseitig als Ausdruck des antiimperialistischen Klassenkampfes in einem von Alt- und Neonazis sowie Imperialisten und Militaristen beherrschten deutschen Separatstaat berichtet, der angeblich nur darauf wartet, Teil des sozialistischen Arbeiter-und-Bauern-Staats zu werden.

Da nicht wenige Untertanen des SED-Regimes ihre Reisen nutzten, um im Westen zu bleiben, wurden die Lockerungen mit einem geheim gehaltenen Politbürobeschluss vom 23. Februar 1988 wieder eingeschränkt. Gemeinsame Westreisen von Ehepaaren, Eltern mit ihren Kindern sowie Personen, die in Lebensgemeinschaften leben, sollten nicht mehr genehmigt werden, außerdem wurden die so genannten verwandtschaftlichen Voraussetzungen für einen erfolgreichen Antrag strenger gehandhabt. Schließlich sollten Westreisen für Hoch- und Fachschulkader und andere Spezialisten nur nach "gründlicher Überprüfung" genehmigt werden. Staats- und Parteifunktionären sowie Stasileuten und Militärpersonen und anderen Geheimnisträgern waren solche Fahrten ohnehin untersagt. Diese Einschränkungen blieben im Wesentlichen bis zum Ende der DDR in Kraft, doch gab es hier und da doch Genehmigungen. Nach welchem System sie gewährt wurden, ließ sich für die Betroffenen nicht erkennen. So konnten Eltern unter Zurücklassung ihrer Kinder gemeinsam zu Verwandtenbesuchen, Familienfeiern und Beerdigungen und zu anderen Anlässen aufbrechen, weil man in aller Regel gewiss sein konnte, dass sie zurückkehren.

6. Januar 2017

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