Stalin und die unerschrockene Pianistin
Der britische Film über den langen Tod des sowjetischen Diktators beginnt mit Mozart und endet mit Erschießung des Massenmörders Beria



Stalin war gerade tot, da begannen die Diadochenkämpfe um seine Nachfolge. Der Film "The Death of Stalin. Hier regiert der Wahnsinn" schildert, was sich vor und nach dem 5. März 1953 in Kunzewo, Moskau und der Sowjetunion ereignete.



In der Sowjetischen Besatzungszone und der 1949 gegründeten DDR wurde Stalin als Übervater, als der wahre und einzige Befreier der Deutschen vom Hitlerfaschismus und einer der Klassiker des Marxismus-Leninismus kultisch und hymnisch verehrt.



Während der angeblich unterbliche Stalin im Moskauer Haus der Gewerkschaften feierlich aufgebahrt ist, denken seine Genossen nach, wie sie ihr Leben und ihre Posten in die neue Zeit hinüber retten können.



Die Entlarvung seiner bluttriefenden Diktatur durch Nikita Chrutschschow 1956 auf dem XX. Parteitag der KPdSU wurde von der SED-Führung achselzuckend zur Kenntnis genommen. Sie behauptete bis zum Ende der DDR 1989/90, dort habe es Stalinismus nie und nimmer gegeben.





Stalin entfaltete einen unbeschreiblichen Kult um seine Person. Nachdem er 1949 einen ersten Schlaganfall erlitten hatte und schlecht sprechen konnte, war er kaum noch in der Öffentlichkeit zu sehen. Wenn man ihn auf Plakaten und Gemälden abbildete, dann nur als dynamischen und kraftvollen Mann mit glatter Gesichtshaut sowie als Nachfolger von Lenin und Führer des Weltproletariats. Dabei war Stalin von tiefem Misstrauen gegenüber seinen eigenen Leuten und panischer Angst befallen, dass ihm jemand nach dem Leben trachtet. (Foto/Repros: Caspar)

In dem aktuell in unseren Kinos laufenden Film "Stalins Tod" ist vieles historisch verbürgt, manches erfunden und satirisch übertrieben. Der Film aus England in der Regie von Armando Iannucci nach einem Drehbuch von Armando Iannucci, David Schneider, Ian Martin und Peter Fellows beginnt mit der Pianistin Maria Judina , die das Klavierkonzert A-Dur KV 488 von Mozart spielt, und endet mit der Erschießung des sowjetischen Geheimdienstchefs Lawrenti Berija, der sich zu Stalins Nachfolger aufschwingen wollte. Der Film wurde in Russland kurz vor der Premiere verboten. Ob Putin ihn gesehen und über ihn gelacht hat, ist nicht bekannt. Die Konfrontation mit Stalins ganz und gar unheroischem Ende und die makabren Zustände in der obersten Führung des Landes dürften für den sich wie ein Zar gebärdenden, gerade in seinem Amt bestätigten Präsidenten des heutigen Russland wenig schmeichelhaft sein.

Stalin entspannt sich mit seinen Politbüro-Kumpels in seiner streng bewachten Datscha Kunzewo nahe Moskau bei einem Gelage und Kinoabend mit amerikanischen Wildwestfilmen. Als er sie verabschiedet hat, hört er die Musik im Radio. Er ruft höchstpersönlich bei Radio Moskau an und verlangt eine Schallplatte mit dem Klavierkonzert, das die berühmte Pianistin Maria Judina gegeben hat. Beim Sender bricht Panik aus, denn es gibt keinen Mitschnitt. Deshalb muss in aller Eile eine Schallplattenaufnahme hergestellt werden. Da schon die Hälfte des Publikums weg gegangen ist, füllen wegen der Akustik Leute von der Straße die Lücken. "Dicke zählen doppelt" lautet die Anweisung. Allen Beteiligten steht die Angst vor Repressalien in den Augen. Dem Großen Stalin wagt niemand einen Wunsch abzuschlagen. Am Ende gelingt die Aufnahme, und die Platte kann gepresst werden. Die Pianistin legt ihr einen Zettel für Stalin mit einer Klage über dessen Terrorsystem bei. Sie weiß, wovon sie schreibt, denn ihre Familie wurde von dem Diktator und seinen Leuten ermordet. Stalin hört das Konzert, liest den Zettel und schüttet sich aus vor Lachen. Dabei ereilt ihn ein Gehirnschlag, und er fällt um.

Als Ärzte kommen, ist alles schon zu spät

Erst nach vielen Stunden traut sich die Haushälterin mit einem Tablett in der Hand in das Allerheiligste und findet ihren Chef leblos in einer Urinlache auf dem Teppich liegend. In einem bei Phoenix ausgestrahlten Dokumentarfilm nutzen Geheimdienstleute die Gelegenheit, Stalin wie immer um diese Zeit wichtige Post zu bringen. Wie dem auch sei, Stalin ist nicht ansprechbar. Nach und nach kommen in der Nähe wohnende Spitzenpolitiker und stehen in Stalins Zimmer betreten herum. Der Oberste Führer hat für den Fall aller Fälle nichts vorgesehen, er hielt sich für unsterblich, und seine Entourage weiß keinen Rat. Doch statt einen Arzt zu holen, fragen sie sich besorgt, ob sie Stalin anfassen dürfen, denn er könnte ja vielleicht nur schlafen. Zwischen dem dicken Geheimdienstchef Berija, kenntlich an einem "Zwicker" auf der Nase, und den anderen Politbürobonzen entwickelt sich ein beschämendes Hin und Her über den Umgang mit dem Halbtoten und mehr noch über die Nachfolge. Die Funktionäre erweisen sich als Jämmerlinge und Angsthasen. Könnte Stalin wieder aufwachen? Stellt er sich nur tot, um seinen Leuten eine Falle zu stellen? Zwischendurch tauchen Stalins Tochter Swetlana und der sturzbetrunkene Sohn Wassili auf und stellen Ansprüche auf ihren Vater. Doch spielen sie in dem Machtpoker nur eine Statistenrolle und kommen gegen die um ihr Leben und Posten besorgten alten Männer nicht an. Als Berija, sein Gegenspieler Nikita Chruschtschow und die anderen Spitzenpolitiker endlich nach Ärzten rufen, erinnern sie sich, dass Stalin diese ins Gulag geschickt hat oder bereits erschießen ließ. In dem erwähnten Doku-Film auf Phoenix wird berichtet, dass der Diktator panische Angst vor Gift hatte. Nie aß oder trank er, was die Ordonnanzen ihm vorgesetzt haben, sondern tauschte Speisen und Getränke kurzerhand noch aus.

Doppelgänger werden nicht mehr gebraucht

Mit Hilfe der Ärztin Lidija Timaschuk, die Anfang 1953 hochangesehene Mediziner als angebliche Mördertruppe denunziert hatte und dafür den Leninorden bekam, werden in Moskau Ärzte der dritten Garnitur zusammengetrommelt. Schlotternd vor Angst begutachten sie den Zustand des Großen Führers und bemühen sich mit veralteten Methoden, Stalins Leben zu retten. Swetlana Allelujewa erinnerte sich: "Da hob er plötzlich die linke Hand, die noch beweglich war, und wies mit ihr nach oben und drohte uns allen." Nachdem Stalin endlich tot war, wird seine Villa mit viel Holzvertäfelung im Inneren ausgeräumt, und auch seine Doppelgänger, die immer vorgeschickt wurden, wenn er selber indisponiert war oder für öffentliche Auftritte keine Lust hatte, waren von einem Tag zum anderen arbeitslos. In dem Film auf Phoenix über Stalins Tod und die Folgen erzählt ein solcher Mann, dass er in abgedunkelten Räumen den Obersten Führer und Generalissimus spielen musste und niemand daran Anstoß fand.

Als die Massen nach Moskau strömen, um den prunkvoll im Säulensaal des Hauses der Gewerkschaften in einem Meer von Blumen und roten Fahnen aufgebahrten "Genossen Gott" die letzte Ehre zu erweisen, eröffnen Berijas Geheimpolizisten, kenntlich an ihren blauen Mützen und Uniform-Litzen, das Feuer auf sie. Natürlich wird die Schuld an den Toten nicht dem kleine Mädchen und Frauen ermordeter Funktionäre lustvoll missbrauchenden NKWD-Chef angelastet, sondern einigen durchgeknallten Offizieren, die sogleich als unbequeme Zeugen liquidiert werden. Überhaupt wird in dem Film - wie auch in der Realität - viel "Es lebe Stalin" gerufen und anschließend gemordet. Niemand darf sich sicher sein, dass er den Dunstkreis um den Diktator lebend verlassen kann. Deshalb überall und jederzeit diese widerwärtige Liebedienerei und Schmeichelei, die erst endet und ins Gegenteil umschlägt, als man endlich weiß, dass der Diktator wirklich tot ist.

Möchtegern-Nachfolger wird ausgeschaltet

Der von Hemmungen und Skrupeln nicht geplagte Berija reißt in den turbulenten Stunden von Stalins einsamem Sterben das Heft des Handelns an sich und droht für seine Kumpanen zur tödlichen Gefahr zu werden, zumal der Möchtergern-Nachfolger alte Todeslisten in Stalins Tresor gegen die eigenen vertauscht und den um ihn versammelten Spitzenpolitikern mit entlarvenden Dossiers droht, die er über sie angelegt hat. Was sich bei den Politbürositzungen nach Stalins Tod abspielt, wie da Beleidigungen hin und her ergehen, wie da abgestimmt wird und wie Chrutschschow die undankbare Rolle des Organisators der Trauerfeier zugeschoben wird, ist im Film geradezu irre anzusehen und dürfte nicht weit von der Wahrheit entfernt sein. Am Ende wird Berija im Beisein seiner Genossen erschossen. Über die Art, wie er zu Tode kam, gibt es Unklarheiten. Er soll vor dem Obersten Gericht der Sowjetunion wegen Spionage zum Nutzen Großbritanniens in den 1920er Jahren und des Versuchs der Beseitigung der Sowjetmacht angeklagt worden sein. Dass er Massenerschießungen angeordnet und andere Verbrechen angeordnet hat, scheint in dem Schnellverfahren keine Rolle gespielt zu haben. Das Todesurteil wurde am 23. Dezember 1953 verkündet und noch am selben Tage durch Erschießen vollstreckt. Berijas Sohn behauptete, sein Vater sei bereits am 26. oder 27. Juni in seiner Dienstwohnung erschossen worden. Er selbst habe den Abtransport der Leiche gesehen, Verhaftung und der Prozess seien nur inszeniert gewesen. Mit solchen Praktiken hatte man ja unter Stalin große Erfahrungen!

Die am Anfang und am Ende des Films auftretende Pianistin Maria Judina ist eine historische Persönlichkeit, eine unerschrockene Frau, die sich sogar mit Stalin anlegte, aber Glück hatte, nicht auf die Todesliste gesetzt und erschossen zu werden, wie Millionen andere Menschen. Während des Großen Vaterländischen Kriegs, also des Kriegs der Sowjetunion gegen Hitlerdeutschland, ließ man sie vor Soldaten auftreten. Sie vermittelte ihnen mit der universellen Sprache der Musik Lebensmut und Zuversicht. Während der Tauwetter-Periode unter Stalins Nachfolger Nikita Chrutschschow bis zum Machtantritt von Leonid Breschnew 1964 gehörte die Künstlerin zu den Verfechterinnen der Neuen Musik in der Sowjetunion, die ganz und gar nicht ins kulturpolitische Konzept der Kommunistischen Partei passte. Sie machte das sowjetische Publikum mit verbotenen Werken etwa von Olivier Messiaens, Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen und anderen Vertretern der musikalischen Moderne bekannt, beschäftigte sich intensiv mit der Musik von Béla Bartók, Alban Berg, Arnold Schönberg und Anton von Webern und spielte auch Werke von Igor Strawinsky, den sie bewunderte.

Umstrittene Streiterin für Neue Musik

Maria Judina trug ihre Religiosität unter Stalin und danach demonstrativ zur Schau, etwa indem sie ein Kreuz auf der Brust trug oder Geld für ruinierte Kirchen spendete, darunter auch das Honorar zu dem legendären Mozart-Konzert, das ungewollt zu Stalins Tod führte. Sie las bei ihren Auftritten aus philosophischen und religiösen Werken und rezitierte Gedichte von Schriftstellern wie Nikolaj Sabolozki und Boris Pasternak, mit denen sie befreundet war. Ihr Konzert am 19. November 1961 in Leningrader Philharmonie, in dem sie die "Musica Stricta" von Andrej Wolkonski sowie die Variationen op. 27 von Anton von Webern spielte und Gedichte von Sabolozki und Pasternak las, zog ein offizielles Verbot nach sich. Die Künstlerin war jetzt Persona non grata verfemt. Bereits 1960 war sie wegen ihres Einsatzes für die Neue Musik aus ihrem Lehramt entlassen worden. Zehn Jahre später starb sie vereinsamt und verarmt. Man hat sie in ihrem geflickten schwarzen Kleid bestattet, mit dem sie Jahre zuvor ihre spektakulären Auftritte hatte. Der Film ist eine wunderbare Gelegenheit, Maria Judina aus dem Schatten des Vergessens zu holen und ihr die Ehre zuteil werden zu lassen, die sie verdient.

Obwohl Maria Judina für sowjetische Verhältnisse vergleichsweise gut verdiente, lebte sie in selbst verordneter Armut. Sie besaß weder eine eigene Wohnung noch eigene Möbel oder ein eigenes Klavier. Allein ihr äußeres Erscheinungsbild der Asketin in einem alten schwarzen Kleid, das einer Nonnenrobe ähnelte, das große Kreuz auf der Brust und die Tennisschuhe an den Füßen erregten Erstaunen. Wo sie konnte, half sie leidenden Menschen und solchen, die bei Stalin in Ungnade gefallen waren und seinen Repressalien ausgesetzt waren. Im Abspann zeigt die ätzende Filmsatire über Stalins Tod Fotos von Menschen, deren Gesichter ausgekratzt, übermalt oder ausgeschnitten sind. Das deutet auf die Auslöschung des Andenkens missliebiger Personen, von so genannten Volksverrätern und Spionen. Die antike Damnatio memoriae und die Verfälschung von Bildern und Dokumenten wurde in der Stalinzeit zur Perfektion gebracht, und auch in der DDR und den anderen unter sowjetischer Fuchtel leidenden Ländern war das Verfahren üblich.

Siehe zu diesem Thema auch den Eintrag "Stalins einsames Sterben" auf dieser Internetseite/Geschichte vom 6. Februar 2018

6. April 2018

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