Swingerclub im Schloss Grunewald
Preußischer Hochadel beschuldigte sich gegenseitig ausgefallener Sexprak-tiken, doch die Denunzianten blieben im Dunkeln



Hofzeremonienmeister Leberecht von Kotze wurde von Wilhelm II. so lange protegiert, bis er 1892 in einen widerlichen Sex-Skandal gezogen wurde.



Der Berliner Grunewald war ein bevorzugtes Jagdrevier der Hohenzollern, und wenn genügend Tiere geschossen waren, versammelte sich die Hofgesellschaft im Schloss. Manchmal kamen auch hochadlige Leute hier zu schmuddeligen Vergnügungen zusammen.







Das verschwiegene Jagdschloss Grunewald wurde von den brandenburgischen Kurfürsten, preußischen Königen und deutschen Kaisern gern besucht. Beim Rundgang erfahren Besucherinnen und Besuchern auch Details über die so genannte Kotze-Affäre von 1892.



Justitia war gelegentlich auf einem Auge blind und zeigte bei den einen Milde und bei anderen unerbittliche Härte. Das Relief prangt über dem Kriminalgericht Berlin-Moabit.

Offiziell wurden im deutschen Kaiserreich Anstand und Moral, Ehre und Treue hoch gehalten. Man gab sich sittsam, fromm und tugendhaft, übte sich in Demut vor Gott und den Menschen und duldete keine Ausschweifungen, dekadentes Verhalten und Verstöße gegen die strenge Sexualmoral. Dennoch existierten in Berlin und anderswo eine ausgeprägte "Halbwelt" und jede Menge Bordelle. Sie zu besuchen war für Leute aus der so genannten feinen Gesellschaft riskant, weil sie erpressbar waren und sich gelegentlich in peinliche Abhängigkeiten und Schulden stürzten. Verstöße gegen die vom Gesetz und der Kirche geforderten strengen Moralvorschriften haben die Polizei und Justiz, wenn sie bekannt wurden, verfolgt, aber unterschiedlich geahndet je nach dem, auf welcher Sprosse der gesellschaftlichen Stufenleiter die betreffende Person stand. Wenn es die Staatsräson forderte, hat Justitia gern ein Auge zugedrückt. Allerdings war, wer vor Gericht kam, gezerrt wurde, gesellschaftlich erledigt, selbst wenn die Anschuldigungen aus der Luft gegriffen waren und/oder sich nicht beweisen ließen. So erging es 1906 dem Fürsten Philipp zu Eulenburg. Der enge Freund von Kaiser Wilhelm II. wurde von dem streitbaren Publizisten Maximilian Harden wohl zu Unrecht der damals durch den Paragraphen 175 verbotenen Homosexualität beschuldigt.

Wer waren die Schreiber der Schmähbriefe?

Vierzehn Jahre zuvor machten in Berlin und dem ganzen Deutschen Reich Gerüchte über Orgien und ausgefallene Sexpraktiken in allerhöchsten Kreisen die Runde. Ein kleiner Kreis hochadliger Männer und Frauen sollen sich nach Aussage von etwa 200 in Umlauf gesetzten Schmähbriefen im abgelegenen Jagdschloss Grunerwald zu ausschweifenden Festivitäten getroffen haben. Gastgeberin Victoria Elisabeth Augusta Charlotte von Preußen, eine mit dem späteren Herzog Bernhard III. von Sachsen-Meiningen vermählte Schwester des Kaisers. Feine Damen und Herren sollen sich nach Herzenslust ausgelebt und keine Tabus gekannt haben. Obwohl es damals noch nicht den Begriff Swingerclub gab, dürften die bis in letzte Details geschilderten Vergnügungen zwischen Männern und Frauen beziehungsweise Männern und Männern sowie Frauen und Frauen mit denen durchaus zu vergleichen sein, die sich in heutigen Etablissements dieser Art abspielen. In den alles andere als schmeichelhaften Briefen fanden sich drastische Schilderungen und Bilder, die heutigen Pornomagazinen und -filmen durchaus "Ehre" machen würden. In ihnen wurden hochrangige Damen als wenig wählerisch und mannstoll beschrieben, ebenso alles, was zwischen schwulen Männern üblich ist. Zum "Beweis" wurden den Briefen einschlägige Bilder beigelegt.

In den Briefen wurden die Sexorgien so genau beschrieben, dass nur ein Augenzeuge und Teilnehmer als Verfasser infrage kam. Gemeinerweise nannte der Anonymus Namen hochgestellter Personen, die sich zum Handeln genötigt sahen. Um den Gerüchten die Spitze zu nehmen, übergaben einige Betroffene die zuvor "gereinigten" Briefe der Polizei. Die geschilderten Details ließen auf einen ganz und gar nicht prüden Verfasser oder eine Verfasserin aus der höfischen Gesellschaft schließen. Die mit Untersuchungen beauftragte Polizei sah sich um und glaubte, in dem Hofzeremonienmeister Leberecht von Kotze, einem Protegé des Kaisers, den Urheber der pornografischen Briefe und Darstellungen zu sehen. Der zur Kotze-Affäre hochstilisierte Skandal beschäftigte um 1892, vier Jahre nach der Thronbesteigung Wilhelm II., die Öffentlichkeit und den kaiserlichen Hof.

Als die Polizei bei dem als eitel und geschwätzig geschilderten Rittmeister von Kotze Löschblätter mit Spuren seiner auf die Briefe deutenden Handschrift fand, stand für den um sein Renommee als oberster Tugendwächter besorgten Kaiser sofort und ungeprüft fest: Kotze ist der Verräter. Der seines Postens entbundene Beamte wurde verhaftet. Doch konnte ein vom Kaiser eingesetztes Militärgericht bei Verhören aller in Frage kommender Personen Kotzes Schuld nicht nachweisen, weshalb man ihn laufen lassen musste. Wieder in Freiheit und um seine Ehre besorgt, forderte er zwei Denunzianten zum Duell heraus, wobei einer, der Kammerherr und Zeremonienmeister Karl von Schrader, starb. Da Duelle verboten waren, wurde von Kotze von einem Militärgericht wegen "Tötung im Zweikampf" zu zwei Jahren und drei Monaten Haft in der schlesischen Festung Glatz verurteilt, kam aber nach wenigen Monaten aufgrund eines Gnadenakts seines kaiserlichen Herrn frei. Die Ehre des Gutsbesitzers war dahin, seine Ehe ging in die Brüche. Der ehemalige Zeremonienmeister war erledigt. Er starb 1920, zwei Jahre nach dem Ende der Monarchie, ohne je wieder ein Bein im kaiserlichen Berlin wieder auf den Boden bekommen zu haben.

Justitia auf dem eigen Auge blind

Wer die Briefe verfasst hat und aus welchen Gründen, ist bis heute ungeklärt. Angenommen werden Standesdünkel und Animositäten unter Adligen, aber auch Eifersüchteleien, Missgunst und Neid sowie das Begehren, Konkurrenten am kaiserlichen Hof unmöglich zu machen. Bereits 1896 veröffentlichte Fritz Friedmann, Kotzes ehemaliger Verteidiger, peinliche, zuvor schon in der deutschen Presse diskutierte Enthüllungen über den Skandal sowie über das bizarre Klima am Berliner Hof und die Art und Weise, wie Wilhelm II. regiert. Bezeichnenderweise wurde das Buch nicht im Deutschen Reich, sondern in der Schweiz veröffentlicht. 1997 konnte der Historiker Tobias C. Bringmann erstmals die Originaldokumente im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz einsehen. In seinem Buch "Reichstag und Zweikampf: Die Duellfrage als innenpolitischer Konflikt des deutschen Kaiserreichs 1871-1918" hat er besonders drastische Passagen aus Gründen des Anstands nicht zitiert. Bringmann hält Charlotte von Sachsen-Meiningen, die Schwester des Kaisers, für die Urheberin der Briefe. Der britische Historiker und Wilhelm-II.-Biograph John Röhl hingegen glaubt zu wissen, dass Ernst Günther von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg, ein Schwager des Kaisers, gemeinsam mit Damen aus der Berliner Halbwelt der Briefeschreiber war, ein Mann mit ausschweifendem, skandalträchtigem Sexualleben. Sein Name war bereits nach Bekanntwerden der Affäre in den Ermittlungsakten aufgetaucht.

Anders sieht es Wolfgang Wippermann, der in seinem Buch von 2010 "Skandal im Jagdschloss Grunewald" die als leichtlebig geschilderte Charlotte von Sachsen-Meiningen für die Urheberin der Briefe hält. Bereits 1966 hat Wolfgang Luderer für die DEFA-Fernseh-Reihe "Pitaval des Kaiserreiches" das anrüchige Thema unter dem Titel "Der Skandal um Herrn Leberecht von Kotze" verfilmt. Darin wird gezeigt, wie bei Verbrechen und gesetzwidrigen Vergehen im deutschen Kaiserreich mit zweierlei Maß gemessen wurde. Art und Höhe des Strafmaßes hingen wesentlich von der Standeszugehörigkeit des oder der Angeklagten ab. Wenn sich die damaligen Eliten - Adel, Offiziere und hohe Staatsbeamte - etwas zuschulden kommen ließen, bekamen sie durchaus die Milde der Gerichte zu spüren, während bei einfachen Leuten die ganze Härte der Gesetze angewandt wurde. Das war auch im Fall des Duells zwischen Leberecht von Kotze und seinem Widersacher Baron von Schröder der Fall. Dass Kotze am Hof in Ungnade fiel, steht auf einem anderen Blatt.

28. April 2018

Zurück zur Themenübersicht "Geschichte, Zeitgeschichte, Ausstellungen"