Pläne für den Krisenfall
Oberstalinist Ulbricht fand 1956 auf der III. Parteikonferenz der SED die übertriebene Verehrung von Stalin lächerlich



Spott über Stalin konnte man sich nur im Westen erlauben, in Moskau und den sowjetischen Satellitenstaaten wurde er als "Genosse Gott" über seinen Tod 1953 hinaus verehrt.





SED-Chef Walter Ulbricht und sein Adlatus Erich Honecker nehmen oben in der Berliner Stalinallee eine Parade der Kampfgruppen ab. Darunter beklatscht Stasi-Minister Erich Mielke (2. von rechts) die zum Dienst an der Waffe abkommandierten Arbeiter und Polizisten.





Um einen erneuten Aufstand wie den vom 17. Juni 1953 zu verhindern, wurde in der DDR gegen das eigene Volk aufgerüstet, und es wurden Isolierungsobjekte eingerichtet, um in Krisenzeiten Oppositionelle dort inhaftieren zu können. Auf dem Bild sieht man, wie aufgebrachte Menschen Stalinbilder und Akten verbrennen. (Repros: Caspar)

Während es in Polen und Ungarn brodelte, fand in Ostberlin vom 24. März bis 30. März 1956 die III. Parteikonferenz der SED statt. Deren Ziel war es, beruhigend auf die Bevölkerung zu wirken und weitere Maßnahmen auf dem Weg zum Sozialismus festzulegen. Eine schlüssige Antwort auf die Frage des Umgangs mit dem schrecklichen Erbe des am 5. März 1953 verstorbenen, nach wie vor aber wie ein Gott verehrten Diktators Josef Stalin gab es nicht. Er hatte nach sowjetischer und daher auch ostdeutscher Lesart als genialer Feldherr nahezu allein den Hitlerfaschismus besiegt, und deshalb gebührten ihm und nur ihm allein der Ruhm der Welt und die ganze Verehrung des deutschen und der anderen Völker als Befreier und Gründer einer neuen Weltordnung.

Das seit 1957 von Erich Mielke geleitete Ministerium für Staatssicherheit war aufs höchste alarmiert, denn es erhielt durch Spitzelberichte davon Kenntnis von illegalen Gruppen und ebensolchen Drucksachen zum Thema Stalin und der Stalinismus, von genannten Zusammenrottungen feindlich-negativer Personen und die Wiederholung der Forderungen vom 17. Juni 1953 für freie Wahlen, Wiedervereinigung, Brechung der Herrschaft der alles dominierenden Staatspartei SED, nicht zu vergessen spürbare Anhebung des Lebensniveaus und bessere Versorgung der Bevölkerung. "Ich möchte mal so leben wie die da in Pankow", war ein ständiger Stoßseufzer vieler Bewohner des Arbeiter-und-Bauern-Staates angesichts des gemessen am eigenen Dasein wahren Luxuslebens der im Ostberliner Ortsteil Pankow residierenden Partei- und Regierungsspitze.

Nichts als Lügen und Spott

Die Zwangskollektivierung ging schleppend voran, die Versorgung war weiterhin ungenügend, die Industrieproduktion, von der ein großer Teil als Reparation ins "Bruderland" Sowjetunion ging, kam ins Stocken. Wer konnte und wer die Lebensverhältnisse nicht mehr aushielt, floh in den Westen, obwohl der Weg dorthin immer schwieriger und gefährlicher wurde. Ein Zentrum des Widerstandes war die Universität Greifswald, wo Studenten und Dozenten Konsequenzen aus den Nachrichten über Stalins Verbrechen forderten. Die Stasi meldete die "feindlich-negativen Umtriebe" nach Berlin, und von dort wurden Greiferkommandos ausgeschickt, um diese zu unterdrücken und die Rädelsführer dingfest zu machen. Nur durch Flucht in den Westen konnten sich die Widerspenstigen der Verhaftung entziehen. Viele wurden eingesperrt, und wer Glück hatte, wurde von der Universität entfernt und musste sich in der Produktion "bewähren".

Doch statt die Lage klar zu analysieren und eigene Fehler unumwunden einzugestehen, versuchte die Parteiführung, sich durch Lügen und Spott aus dem Schlamassel zu ziehen. Als Ministerpräsident Otto Grotewohl von aufgebrachten Studenten der Humboldt-Universität nach Chruschtschows die Verbrechen Stalins betreffende Geheimrede auf dem XX. Parteitag der KPdSU gefragt wurde, behauptete er, es habe keine solche gegeben, sondern nur eine geschlossene Sitzung. Die Genossen seien ausreichend informiert. Wer Bescheid wissen möchte, sei "herzlich eingeladen", der SED beizutreten und mitzudiskutieren. Ohne es auszusprechen, machte der - nach Pieck und Ulbricht - offiziell dritte Mann im Staat einen Unterschied zwischen Parteimitgliedern, denen man etwas anvertrauen kann, und dem unmündigen Volk. Ob sich jemand dabei an Heinrich Heines Gedicht "Deutschland ein Wintermärchen" erinnerte, in dem es mit Blick auf ein sangesfreudiges Harfenmädchen unter anderem heißt "Sie sang das alte Entsagungslied, / Das Eiapopeia vom Himmel, / Womit man einlullt, wenn es greint, Das Volk, den großen Lümmel"? Wir wissen es nicht, wir wissen nur, dass sich nicht alle SED-Genossen und andere weiterblickende Leute einwickeln und einlullen ließen und wegen unbotmäßiger Fragen und Forderungen gemaßregelt und ins Zuchthaus geworfen wurden.

Kritikloses Parteistudium

Wie vorsichtig mit Stalin bei der III. Parteikonferenz umgegangen wurde, zeigt ein Redebeitrag des Schriftstellers und ZK-Mitglieds Willi Bredel. Der aus dem Moskauer Exil zurückgekehrte Altkommunist und damals populäre Autor erlaubte sich diese Frage: "Wenn unsere jungen Genossen Stalin Seite für Seite und Wort für Wort in sich aufgenommen haben, ist das dann ihre alleinige Schuld? Ist es nicht auch und vor allem unsere Schuld, die der älteren Generation? Das Parteistudium ist doch so, wie Genosse Ulbricht es geschildert hat, kritiklos viele Jahre durchgeführt worden. Wir sollten, so meine ich, jetzt weniger die jungen Genossen dafür auslachen, sondern etwas mehr Selbstkritik üben."

Der Appell für mehr Offenheit und Selbstreflexion kam bei dem von Bredel angesprochenen Parteichef mit dem "Spitzbart" nicht gut an. Der nämlich hatte sich über "junge Genossen" lustig gemacht, die "die im Parteilehrjahr bestimmte Dogmen auswendig gelernt haben und nun erleben, dass einige Dogmen nicht mehr ins Leben passen. Aber jetzt sagen manche nicht etwa, der Dogmatismus ist nicht richtig, sondern da stimmt etwas im Leben nicht". Nach den Stasi-Berichten wurde die Abkanzelung der "jungen Genossen" durch Ulbricht im Lande übel aufgenommen. Gutwillige Kommunisten fühlten sich verschaukelt, hatte es doch nur kurze Zeit zuvor keine einzige Rede des Parteichefs gegeben, in der nicht gebetsmühlenartig die Weisheit des in Moskau regierenden "Großen Führers" gepriesen worden war. Trotz verbaler Bekundungen für mehr Transparenz und Demokratie wurde in der DDR stalinistisches Denken nicht überwunden, weder bei Ulbricht noch bei seinem Nachfolger Honecker.

Im Herbst 1956 kam es, von Magdeburg ausgehend, überall in der DDR zu Arbeitsniederlegungen. Bei den meisten Streiks spielte die miserable Bezahlung und Versorgung eine Rolle. Doch wurden, wie beim 17. Juni 1953, auch politische Forderungen erhoben. Ein Spitzelbericht formuliert das mit Blick auf die "polnischen Ereignisse" folgendermaßen: "Die meisten negativen Diskussionen beinhalten, dass die Polen richtig handeln, denn der Lebensstandard in Polen sei sehr niedrig. Vereinzelt gibt es sogar Stimmen, dass es richtig ist, wenn Polen sich nicht mehr von der Sowjet-Union kommandieren lässt. Verschiedentlich gibt es Tendenzen, ähnliches in der DDR zu verlangen". In Polen und Ungarn tue sich etwas, bei uns fehle nur noch der Anstoß. Ein kleiner Funke werde genügen, "um bei uns einen Aufstand anzufangen".

Angst vor polnischen Ereignissen

Dazu ist es nicht gekommen. Die Partei- und Staatsführung lebte all die Jahre in einem permanenten Kriegszustand mit dem eigenen Volk. Nach Ablösung von Stasichef Ernst Wollweber durch Erich Mielke und der Ausschaltung vermeintlicher Parteischädlinge, gekoppelt mit Geheimprozessen, glaubte Ulbricht, fest im Sattel zu sitzen. Ablenkung auf Staatsfeinde, Saboteure, Diversanten, Wühler im Untergrund und die Hetze des in Westberlin ansässigen Radiosenders RIAS schienen ihm und dem neuen, starken Mann in der Geheimdienstzentrale das beste Mittel zu sein, den Dampf abzulassen und zu kanalisieren, der sich im Kessel angesammelt hatte.

Intern wurden geheime Pläne ausgearbeitet, im Krisenfall eigene Sicherheitskräfte einschließlich der eben erst gegründeten Nationalen Volksarmee und der Kampfgruppen mit strammen SED-Genossen aufmarschieren zu lassen und Oppositionelle in Lagern zu internieren oder zu isolieren. Die hochgeheimen Isolierungsobjekte eine interne Bezeichnung des Ministeriums für Staatssicherheit für Konzentrationslager, in die feindlich-negative Personen im Fall einer inneren Krise oder militärischen Bedrohung eingeliefert werden sollten. Selbstverständlich war der Begriff aus der Zeit des Nationalsozialismus tabu, man sprach besser von Vorbeugungskomplexen. In X + 24 Stunden oder weniger sollten die Unterkünfte mit Stacheldraht und Wachtürmen abgesichert und als Sperrgebiete ausgewiesen werden. Als Lager standen leer stehende Wohnheime, Lehrlingsunterkünfte, Messehallen, Sporteinrichtungen und Schulen, aber auch Schlösser und Burgen zur Verfügung, vorausgesetzt, sie befanden sich weiter als 60 Kilometer von der Staatsgrenze entfernt. Hinzu kamen zahlreiche Haftanstalten, die die DDR-Justiz und die Staatssicherheit quer durch die DDR unterhielten.

In den weit über 200 MfS-Kreisdienststellen lagen bis zum Ende der DDR versiegelte Briefumschläge mit der Aufschrift "Kz 4.1.3." mit Angaben über Personen, welche unter diesem Kennzeichen (Kz.) auf ein bestimmtes Codewort wie Meilenstein, Erntefest oder Katzensprung von Stasi-Kommandos mit Unterstützung der Volkspolizei blitzartig und konspirativ, wie es in den Dokumenten hießt, verhaftet und in die Isolierungslager hätten eingewiesen werden sollen. Die Aktion wurde über Jahrzehnte vorbereitet und durch immer neue Befehle des Nationalen Verteidigungsrates (NVR) und von Stasi-Minister Mielke auf den aktuellen Stand gebracht. Da nach dem Ende der SED-Herrschaft nicht alle Dokumente vernichtet wurden, wie es befohlen war, sind wir gut über die hochgeheimen Sammellager informiert und wissen auch, wer dorthin "verbracht" werden sollte. Der nach dem Ende der DDR erhobene Verdacht, dass in den Isolierungsobjekten Regimegegner hätten ermordet werden sollen, ließ sich nicht erhärten. In Äußerungen und Geheimbefehlen des Stasiministers Mielke wird zwar von Liquidierung des "Gegners" gesprochen und es gab auch genaue Anweisungen darüber, welcher Mittel sich der Geheimdienst dabei bedienen sollte, doch waren die Isolierungsobjekte als Arbeitslager konzipiert und nicht als Todeslager.

5. Januar 2018

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