Lex Heinze war ein Rohrkrepierer
Miesepetrige Moralapostel machten sich in der Kaiserzeit mit untauglichen Mitteln für Sittlichkeit und Anstand stark







Kunstrichter und Moralapostel hätten es in der Kaiserzeit gern gesehen, wenn angeblich anstößige Bilder und Figuren aus dem Schutthaufen der Geschichte gelandet wären, doch ging der Plan nicht auf. Dass die kaiserzeitliche Justiz unbotmäßige Schriftsteller, Journalisten, Karikaturisten und andere Spötter unters Schafott gebracht hätten, ist zum Glück nicht vorgekommen.





Die Heldenfiguren von der Berliner Schlossbrücke laben sich des Nachts am Kiosk, denn tagsüber müssen sie stocksteif Wache halten. Die Karikatur zeigt, wie Kirche und Staat Kunst bewerten, und was ihnen nicht gefällt, auf den Index setzen.



Die Zeichnung im Münchner Satireblatt "Simplicissimus" ist so unterschrieben: "Die moderne Kunst ist entsetzlich. Und dabei hat mein Mann den Leuten so oft gesagt, wie sie malen sollen", lässt die Landesfürstin einen devot vor ihr stehenden Kunstprofessor unmissverständlich wissen. Was im Hintergrund zu sehen ist, hat Wilhelm II. als "Rinnsteinkunst" abgetan.



Den einen Künstlern geht es mit vielen lukrativen Staatsaufträgen glänzend, andere nagen am Hungertuch, gibt diese Karikatur zu verstehen. (Foto/Repros: Caspar)

Ein Berliner Zuhälter und Zuchthäusler namens Gotthilf Heinze wurde um 1900 wider Willen Namensgeber eines Gesetzes, das die öffentliche Zurschaustellung "unsittlicher" Bilder und Handlungen sowie Zuhälterei unter Strafe stellte. Diese Lex Heinze öffnete dem Kampf der kaiserzeitlichen Zensur gegen unliebsame Bilder, Skulpturen und literarische Werke Tür und Tor und hatte einen Sturm der Entrüstung zur Folge. Gegen den 1892 von Kaiser Wilhelm II. initiierten und acht Jahre später ins Strafgesetzbuch eingefügten Sittlichkeitsparagraphen 184 erhob sich quer durch das Reich scharfer Protest. Er erwies sich als Rohrkrepierer und wandte sich klar gegen seine Urheber. Als am 6. Februar 1900 im Reichstag die Lex Heinze ungeachtet des anhaltenden Widerstands angenommen wurde, hatten Kunstexperten und Satiriker ihr Fressen gefunden. Sie machten Front gegen die engherzige Kunstpolitik des Monarchen und die weit verbreitete Bigotterie und forderten, Engstirnigkeit abzuwerfen und sich neuen Themen und Formen zu öffnen.

Wörtlich hieß es in dem Kunstparagraphen: "Mit Gefängniß bis zu Einem Jahre und mit Geldstrafe bis zu eintausend Mark oder mit einer dieser Strafen wird bestraft, wer 1. Unzüchtige Schriften, Abbildungen oder Darstellungen feilhält, verkauft, vertheilt, an Orten, welche dem Publikum zugänglich sind, ausstellt oder anschlägt oder sonst verbreitet, sie zum Zwecke der Verbreitung herstellt oder zu demselben Zwecke vorräthig hält, ankündigt oder anpreist; 2. Unzüchtige Schriften, Abbildungen oder Darstellungen einer Person unter sechzehn Jahren gegen Entgelt überläßt oder anbietet; 3. Gegenstände, die zu unzüchtigem Gebrauche bestimmt sind, an Orten, welche dem Publikum zugänglich sind, ausstellt oder solche Gegenstände dem Publikum ankündigt oder anpreist; 4. Öffentliche Ankündigungen erläßt, welche dazu bestimmt sind, unzüchtigen Verkehr herbeizuführen." Neben Gefängnisstrafe konnte auch auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte sowie Polizeiaufsicht erkannt werden. Ursprünglich sollten mit Gefängnis auch öffentliche Theatervorstellungen, Singspiele, Gesangs- oder deklamatorische Vorträge, Schaustellungen von Personen oder ähnliche Aufführungen geahndet werden, "welche durch gröbliche Verletzung des Scham- und Sittlichkeitsgefühls Ärgernis zu erregen geeignet sind". Diese Bestimmung wurde nach öffentlicher Diskussion fallengelassen.

Kunst- und Schaufensterparagraph

Das Für und Wider des Kunst- und Schaufensterparagraphen, wie man sagte, wurde in den Medien und im Parlament heftig diskutiert. Würde man das Gesetz wörtlich anwenden, lautete ein wichtiges Argument, dann müssten zahlreiche als "unsittlich" eingestufte Kunstwerke aus öffentlichen und privaten Sammlungen, aber auch unter freiem Himmel stehende Nacktheiten aus Bronze und Marmor entfernt werden. Wenn man das nicht wolle, müsste man sie durch Bemalung oder Feigenblätter für das Volk erträglich machen. So habe man es im Vatikan getan, als Papst Pius IV. in der Sixtinischen Kapelle die von Michelangelo gemalten nackten Männer und Frauen verunzieren ließ. Dieser Auftrag trug dem damit betrauten Daniele da Volterra den wenig ehrenvollen Spitznamen "Hosenmaler" ein.

In Geiste der "Lex Heinze" hätten Ladeninhaber Reproduktionen von Gemälden des niederländischen Barockmalers Peter Paul Rubens und Botticellis berühmter "Geburt der Venus" aus ihren Auslagen entfernen müssen, und Verleger hätten Schwierigkeiten bekommen, wenn sie in ihren Büchern so genannte Nuditäten (Nacktheiten) abgebildet hätten. "Über alle Zweige der deutschen Kunst wird jetzt die moralische Zuchtrute geschwungen, aber der eigentliche Übeltäter scheint doch der Dramatiker zu sein. [...] Von den erfolgreichsten deutschen Dramen des letzten Jahrzehnts würde kaum ein einziges Werk die Fallgrube des § 184 b umgehen können", klagte der Dramatiker Hermann Sudermann und höhnte über das, was jetzt noch zugelassen werden könnte: "Rasselnde Kettenpanzer oder blumenpflückende lächelnde Mädchen würden dem verehrten Publico geboten werden, eine große dramatische Ahnengalerie würde von der Bildfläche erscheinen, und die Heldentaten aller deutscher Fürstenhäuser würden dramatisch gefeiert werden. Welch künstlerisches Elend!"

Ein Lump, wer Schlechtes dabei denkt

Nach dem bekannten Spruch "Ein Lump, wer Schlechtes dabei denkt" wurden die Nachbeter des kaiserlichen Willens unter Hinweis auf die vielen Bordelle und eine weit verbreitete Zuhälterei in Berlin und anderen Städten, aber ganz allgemein die langsam in Mode kommende Freikörperkultur und die neuartige Bekleidung mit wenig Stoff in die Ecke von Doppelzüngigkeit und Bigotterie gestellt. Diese scheinheilige Haltung hatte in Berlin manche Vorläufer. Als Mitte des 19. Jahrhunderts die nackten Marmorfiguren auf der Schlossbrücke zur Erinnerung an die Helden der Befreiungskriege von 1813 bis 1815 aufgestellt wurden, behaupteten miesepetrige Moralapostel, Frauen und Mädchen würden bei ihrem Anblick in ihrem Schamgefühl verletzt und kämen angesichts der nackten Helden auf dem Marmorsockel auf unzüchtige Gedanken und eine moralisch schiefe Bahn.

Dass auch heute längst anerkannte Kunstwerke vergangener Jahrhunderte mit unbekleideten Gestalten angegriffen werden, zeigt ein Offener Brief an die Berliner Gemäldegalerie Alte Meister Preußischer Kulturbesitz. Mit Blick auf einen Kinderporno-Skandal wird in dem Schreiben gefordert, das seit 1815 in der Bildersammlung befindliche Gemälde "Amor als Sieger" des Barockmalers Michelangelo Caravaggio wegen angeblich unnatürlicher und aufreizender Nacktheit abzuhängen, weil angeblich Pädophile ihre perversen Neigungen auf den Knaben projizieren könnten. Die Leitung der Gemäldegalerie hat dieses Ansinnen umgehend mit Hinweis auf die Kunstfreiheit zurückgewiesen. Dessen ungeachtet gibt es in der heutigen Zeit da und dort immer wieder Vorstöße in dieser Richtung, und das angesichts tausender schlüpfriger bis offen pornografischer Seiten im Internet und an anderen öffentlich zugänglichen Stellen.

7. November 2018

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