"Bricht der 17. Juni aus?"
Stasiminister Erich Mielke und seine Generale hatten 1989 panische Angst vor einem neuen Volksaufstand





Was im Ministerium für Staatssicherheit an der Ruschestraße in Berlin-Lichtenberg ausgeheckt und befohlen wurde, kam erst nach 1989/90 ans Tageslicht. Aufgedeckt wurde auch, wie die Sicherheitskräfte im Umfeld des 40. Jahrestags der DDR mit friedlichen Demonstranten quer durch die Republik umgingen und wie die "Zugeführten" ihre traumatischen Erlebnisse verarbeitet haben.



Die Schuld am 17. Juni 1953, in der DDR auch Tag X genannt, hat die SED-Propaganda nicht der Politik gegen das eigene Volk, sondern Westberliner und westdeutschen Drahtziehern angelastet.





Von seinem Schreibtisch im Haus 1 des Ministeriums für Staatssicherheit erreichte Erich Mielke seine Leute quer durch die DDR, aber auch die Partei- und Regierungsspitze. Heute ist die Ministeretage an der Ruschestraße ein vielbesuchter Gedenkort.



Politbüromitglied Egon Krenz lobte mit demagogischen Worten die "Maßnahmen" in China und ließ durchblicken, dass die "bewaffneten Organe" einschließlich der SED-Kampfgruppen beim Aufbegehren ähnlich gewaltsam und unbarmherzig gegen die eigene Bevölkerung vorgehen (Foto rechts neben dem "Maueröffner" Günter Schabowski be3i einer Kundgebung nach der Entmachtung von Erich Honecker).





Die allerbeste Überwachung - hier nachgestellt in einem Raum der "Runde Ecke" genannten Stasizentrale in Leipzig - nutzte nichts, als vereinzelte Oppositionsgruppen sich zur Massenbewegung entwickelten. Belastende Dokumente wurden in der "Wendezeit" zwar geschreddert, verbrannt oder zerrissen, aber der Großteil des Stasi-Nachlasses blieb erhalten und dient seither der Forschung und der Aufklärung über die Machenschaften des DDR-Geheimdienstes. (Fotos/Repros: Caspar)

Im Buch von Armin Mitter und Stefan Wolle von 1990 ",Ich liebe euch doch alle…' -Befehle und Lageberichte des MfS Januar - November 1989" kann man sehr gut die Sorge im Ministerium für Staatssicherheit nachlesen, dass sich die politische und wirtschaftliche Lage in der DDR zu einem neuen Volksaufstand ausweiten könnte. Die SED und die Sicherheitsorgane unternahmen alles, dass es nicht zum Aufbegehren der Bewohner des zweiten deutschen Staates gegen das verknöcherte, zu Reformen unfähige Regime kommt. Diesmal würde die Rote Armee wie beim Volksaufstand vom 17. Juni 1953 nicht mehr der Partei- und Staatsführung zu Hilfe kommen. Ohne sowjetische Panzer müssten die eigenen Leute auf friedliche Demonstranten schießen. Stasi-Minister Erich Mielke stellte seinen in den 15 Bezirksverwaltungen des MfS tätigen Generalen und Offizieren in einer Dienstbesprechung am 31. August 1989 die Frage: "Ist es so, dass morgen der 17. Juni ausbricht?" Da man wusste, dass Mielke bei Widerworten ausfällig und grob wird, beeilten sich seine Untergebenen, ihren Chef und damit auch dessen obersten Parteisekretär Erich Honecker zu beruhigen. Man habe alles im Griff, Provokateure und andere feindlich-negative Elemente würden isoliert und"aus dem Verkehr" gezogen, also verhaftet und eingesperrt. Jeder wusste, was "17. Juni" bedeutet.

Die Erinnerung an den von der Roten Armee und der Volkspolizei blutig niedergeschlagenen Volksaufstand war allgegenwärtig. Diesmal würde die Weltöffentlichkeit zuschauen, wenn es zur Gewaltanwendung kommt, und diesmal war die Opposition im Lande wesentlich stärker als damals, wenige Wochen nach dem Tod des sowjetischen Diktators Josef Stalin und im Zeichen der in Moskau tobenden Diadochenkämpfe um seine Nachfolge. Wie sich nach der friedlichen Revolution in der DDR 1989/90 herausstellte, war die Furcht nicht unbegründet, es könnte zu einem gewaltsamen Zusammenstoß zwischen Volk und Obrigkeit kommen und die SED- und Staatsführung könnte ähnlich wie damals und heute in China vorgehen. Zu diesem äußersten Fall ist es zum Glück dann nicht gekommen.

Terrormaßnahmen gegen miese Stimmung

Dass etwas in der Luft liegt, spürte im Sommer 1989 jeder. Während die von der SED gesteuerte Propaganda für "noch höhere" Leistungen im sozialistischen Wettbewerb trommelte und sich die Bewohner des Arbeiter-und-Bauern-Staates mehr oder weniger freudig auf den 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober einstellten, registrierte das Ministerium für Staatssicherheit wachsende Unzufriedenheit und Ungeduld. In den Dienstberatungen musste sich Mielke Klagen seiner Generale und Offiziere über "miese Stimmung" in der Bevölkerung und sogar innerhalb der Parteiorganisation anhören. Durch flotte Propagandasprüche, Terror und Einschüchterung sowie durch so genannte Zuführungen und die Unterwanderung der sich immer selbstbewusster zu Wort meldenden Oppositionsgruppen ließ sich die Lage nicht verbessern, auch nicht durch "bestellte" Zustimmungen an die DDR-Medien, über die sich Mielke und seine Leute lang und breit ausließen, wohl wissend, dass alle diese Mühen wenig zur Entspannung beitragen.

Eindeutig wurden "reaktionäre Kirchenkreise" als Ursache für das Stimmungstief zwischen Rügen und dem Rennsteig ausgemacht. In den Dienstbesprechungen werden Namen von Bischöfen und Pfarrern der evangelischen Kirche genannt, ergänzt durch die von Künstlern und Wissenschaftlern, die sich nicht mehr vorschreiben lassen, was sie sagen und schreiben dürfen. Zwar waren Kirchengemeinden von der Stasi unterwandert, aber sie nicht wirklich etwas gegen den dort versammelten Geist des Widerstands unternehmen, zumal jede Zwangsmaßnahme sofort von den westlichen Medien registriert und oft noch am selben Abend im "Westfernsehen" kommentiert wurde. Bei der Polizei häuften sich die Anträge zur "ständigen Ausreise" aus der DDR in die Bundesrepublik. Auf langen, sehr detaillierten Listen ist verzeichnet, wer sich zu diesem Schritt entschlossen hat, ergänzt durch Mutmaßungen für die Gründe dafür. Die sich zum Verlassen des Landes in Richtung Westen entschlossen Personen galten in den Augen der Staatspartei und der Stasi als "Drecksäcke", "Gesokse" und "Schweinehunde", also als Abschaum und Kriminelle. Mielke, der sich so auszudrücken beliebte, musste er sich bei jenen Beratungen belehren lassen, dass sich unter den Antragstellern auch "gute" Facharbeiter und Akademiker und sogar Angehörige von Stasi-Mitarbeitern befinden.

Seit zehn Jahren regnet es durchs Klinikdach

Die Probleme, vor denen die SED und die Stasi, die sich als "Schild und Schwert" der Partei und deren verlängerter Arm verstand, waren enorm. Mielke und seinen Leuten lagen Berichte dafür vor, was es nicht alles gibt, Autoersatzteile etwa, an die man nur "unter der Hand" und mit Westgeld kommt, aber auch ganz einfache des täglichen Lebens, und im Raum Dresden der Zugang zum Westfernsehen, weshalb man im großen Rest der DDR vom "Tal der Ahnungslosen" sprach, was die Wut der Leute dort noch steigerte. Als einer seiner Generäle berichtete, dass es seit zehn Jahren durch die Dächer einer Frauenklinik in Karl-Marx-Stadt (heute wieder Chemnitz) regnet und die Schwestern und Ärzte das Wasser mit Eimern und Schüsseln auffangen müssen, platzte Mielke der Kragen. Warum die Bezirksverwaltung des MfS nicht schon längst eingeschritten sei, fragte er und bekam kleinlaut zur Antwort, man habe bereits mobilisiert, der Ärztliche Direktor sei aber von Jahr zu Jahr vertröstet worden, um dann gleich vom Thema abzulenken und die Schuld auf andere abzuladen, auf Planungsgremien und die nicht näher definierte Zentrale. Pläne, Anträge und Aussprachen helfen nicht, war auch Mielke klar, auch nicht Hinweise auf Unterbesetzung in den Ämtern. Dabei war auch dem Minister und seinen Leuten klar, dass Baumaterial und Handwerkerkapazitäten immer dann reichlich vorhanden sind, wenn es um Belange der SED, der Stasi, Polizei, Armee und - unausgesprochen - um die Wünsche und Belange der parasitär lebenden Führungsschicht geht.

Die von der Stasi beobachteten, hier an einem Beispiel gezeigten Ursachen für Missstimmung und Ausreiseanträge bezogen sich auch auf die von vielen DDR-Bewohnern als Zumutung empfundene Erfolgsmeldungen im sozialistischen Wettbewerb "zu Ehren" der Kommunalwahlen am 7. Mai 1989, des 40. Gründungstags der DDR am 7. Oktober 1989 und zu anderen Anlässen. Die Ergebnisse der Kommunalwahlen wurden nicht für bare Münze gehalten, es gab Anträge, die Zettel noch einmal zu zählen und sogar die ganze Abstimmung für ungültig zu erklären. Oppositionsgruppen und Umweltaktivisten forderten demokratische Verhältnisse, die diesen Namen wirklich verdienen. Breit kommentiert wurden in den Dokumenten und Dienstberatungen beim Minister kamen schreckliche Nachrichten aus der Volksrepublik China, wo in Peking am 4. Juni 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens rebellierende Studenten, Arbeiter und andere Demonstranten erschossen und verletzt wurden. Ihre Forderungen nach demokratischer Mitbestimmung, Überwindung der Einparteienherrschaft, Pressefreiheit und Öffnung des Landes nach dem Westen wurden rücksichtslos niedergeschlagen. In der Volksrepublik China breitete sich Friedhofsruhe aus.

Opfer des Massakers in Peking verhöhnt

Zufrieden registrierten das SED-Zentralorgan NEUES DEUTSCHLAND und die anderen DDR-Medien die Verurteilung der "Aufrührer" und die Vollstreckung von Todesurteilen. Dass die SED-Führung und die Volkskammer das blutige Vorgehen begrüßten, war ein wichtiges Signal in zwei Richtungen - einmal an die Volksrepublik China, in der man einen potenziellen Verbündeten als Ersatz für die Sowjetunion unter Gorbatschow sah, zum anderen wollten Honecker, Krenz, Mielke, Mittag, Herrmann und Genossen der eigenen Bevölkerung sagen, dass sie sich still und systemkonform verhält und alles tut, was die Partei befielt, die angeblich immer Recht hat. Dass die SED-Führung die Opfer als Konterevolutionäre diffamierte und das Blutbad aus dem Tiananmen-Platz als Tat zur Rettung des Sozialismus und Kommunismus rechtfertigte, hat viele Bewohner der DDR und nicht nur dort erbittert und gegen das Regime aufgebracht. Wie sich nach dem Ende der SED und der DDR heraus stellte, gab es dafür Einsatzpläne, und auch die "bewaffneten Organe", also Nationale Volksarmee, Staatssicherheit, Volkspolizei und Betriebskampfgruppen der SED bereiteten sich, von der Propaganda und den Politoffizieren "scharf gemacht", auf ihren Einsatz vor. Nachdem Krenz seinen Mentor Erich Honecker gefolgt war, hat man ihm sein Eintreten für den Terror in China und die von ihm gedeckte Fälschungen der Ergebnisse bei der Kommunalwahl schwer angekreidet.

Stasi-Minister Mielke und seine Leute waren sich des Ansteigens provokatorisch-demonstrativer Handlungen feindlich-negativer Kräfte gegen die Maßnahmen der chinesischen Partei- und Staatsführung bewusst, so der offizielle Stasi-Jargon, und forderten, derartige Aktivitäten auszukundschaften, im Keim zu ersticken und die Demonstranten dingfest zu machen. "Provokatorisches Trommeln für Peking" und ähnliche Aktionen in und außerhalb der Kirchen wurden, wenn die Teilnehmer "zugeführt", also verhaftet werden konnten, mit Ordnungsstrafen und Schlimmerem geahndet. Wie sich zeigte, haben ausgeklügelte Maßnahmepläne, die Unterwanderung von kirchlichen und Umweltgruppen, die Mobilisierung der "bewaffneten Organe" und der Betriebskampfgruppen der SED und weitere Aktivitäten nicht am Untergang der DDR und ihrer Staatspartei geändert. .

22. Mai 2018

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