Milliarden für Mikroelektronik verschleudert
Erich Honeckers Hoffnung, mit Computern auf dem Weltmarkt zu glänzen und viel Geld zu verdienen, ging gründlich daneben



Erich Honecker war Gefangener seiner eigenen Wünsche, die er als die seiner Untertanen ausgab, und Opfer der auf seinen Befehl gefälschten Statistiken. Er reagierte wütend auf Kritik, obwohl in der SED das von Stalin 1927 verkündete Prinzip von Kritik und Selbstkritik auch in der DDR und ihrer Staatspartei galt. Wer den SED- und Staatschef - hier 1976 beim IX. Parteitag im neu eröffneten Palast der Republik - auf Fehler und Irrtümer hinwies, war sofort weg vom Fenster, ganz egal, wie hoch er in der DDR-Hierarchie stand.





Der im "Neuen Deutschland" großspurig für die Frühjahrsmesse 1989 angekündigte 4-Megabit-Speicher war viel zu teuer, um sich auf dem Weltmarkt behaupten zu können. Auch sonst hinkte die elektronische Ausstattung von Industriebetrieben, Behörden und anderen Einrichtungen sowie der privaten Haushalte der Zeit hinterher.



Mit vielen Industrieerzeugnissen konnte die DDR auf dem Weltmarkt nicht punkten. Um sie verkaufen zu können, wurden sie zu Dumpingpreisen angeboten. Im Museum Alltag der DDR in der Berliner Kulturbrauerei werden Beispiele gezeigt.



Den DDR-Bewohnern hat man das Blaue vom Himmel versprochen und Märchen über die wirtschaftliche Stärke ihres Landes erzählt. Doch 17 Millionen erlebten am eigenen Leib, dass die Lage ganz anders war. Im Museum zum DDR-Alltag in der Berliner Kulturbrauerei wird geschildert, wie die Propaganda funktionierte und was sie nicht vermochte.





Bei der SED, Staatssicherheit und im Militär gab es an Westcomputern und weiteren modernen Geräten keinen Mangel. Beispiele für Abhör- und Spionagetechnik sind in der "Runden Ecke", dem Stasihauptquartier in Leipzig, ausgestellt. (Fotos/Repros: Caspar)

Erich Honecker,Generalsekretär des Zentralkomitees der SED und Vorsitzender des Staatsrats der DDR, hatte mehrere Steckenpferde, die Jagd zum Beispiel, der er sich allein und mit prominenten Gästen aus dem In- und Ausland in abgeschirmten Waldgebieten nördlich von Berlin und in anderen Revieren der DDR ausgiebig und mit Wonne hingab. Dieses Vergnügen bestand im Wesentlichen aus dem wenig waidgerechten Abknallen von extra gezüchtetem und gemästetem Wild. Jagdhelfer und Wachpersonal im Sold des Ministeriums für Staatssicherheit, die den mächtigsten Mann des Arbeiter-und-Bauern-Staates vor neugierigen Blicken und Attentätern abschirmten, berichteten nach dem Ende des SED-Staates, Honecker habe bei den Sitzungen des SED-Politibüros stets am Dienstag darauf geachtet, dass diese Zusammenkünfte pünktlich um 14 Uhr beendet werden, damit er sich am Nachmittag und Abend bei seinen Jagdausflügen "erholen" kann.

Die vielen Millionen DDR-Mark und Westmark, die Honeckers Jagdleidenschaft verschlangen, waren nichts im Vergleich für das, was für eine seiner anderen Hobbys aufgewendet wurde - die Mikroelektronik. Der selbstherrlich regierende SED- und Staatschef hatte den Ehrgeiz, aus seinem Land eine elektronische Weltmacht zu machen, einen Staat, der mit Computern und seinen Bestandteilen auf internationalen Märkten Geld, viel Geld verdient. Doch viele DDR-Produkte waren auf dem Weltmarkt kaum konkurrenzfähig. Sie konnten, wenn überhaupt, im KA, dem Kapitalistischen Ausland, nur zu Dumpingpreisen verkauft werden. Durch die Erlöse sollten jene Summen erwirtschaftet werden, die die DDR brauchte, um Importe wie Südfrüchte oder Kaffee, aber auch Industriegüter und Erdöl importieren zu können.

Nur bestaunen, nicht gebrauchen

Um mit Computern glänzen zu können und auf dem Weltmarkt hohe Erlöse zu erzielen, wurde ein ehrgeiziges Programm zur Entwicklung der Mikroelektronik aufgelegt. In seinem Buch "Der Absturz" (1991) beschreibt das ehemalige SED-Politbüromitglied Günter Schabowski die Intentionen dieses Programms so: "Was wurde in Zeitungen, Fernsehen und Rundfunk der DDR für ein Aufheben von der Mikroelektronik gemacht! Die Bürger sollten sich mit Stolz aufladen angesichts der mikroelektronischen Potenz der DDR. High-Tech zum ehrfürchtigen Bestaunen, nicht zum Anfassen. Schulklassen mussten sich mit Taschenrechnern begnügen, um einen Begriff von Informatik zu bekommen. Während sich in der Bundesrepublik Computer in der Privatsphäre mehr und mehr verbreiteten, sich Schüler zu Hause spielerisch am Kleinrechner ein neues Stück Allgemeinbildung eroberten, blieb der DDR-Haushalt computerfrei. Das änderte sich kaum, als Ende des Jahres 1988 die ersten DDR-Rechner mit schlichten 8-Bit-Prozessoren zu horrenden Preisen von etwa 3000 Mark im Handel erschienen." Schabowski zitierte in dem auch sein eigenes Schicksal und sein Versagen an der Spitze der SED beschreibenden Buch den damals noch amtierenden Kulturminister Hans-Joachim Hoffmann mit seiner Kritik auf der 10. Tagung des Zentralkomitees der SED am 9. und 10. November 1989, am Tag des Mauerfalls und danach, mit diesen Worten: "Den meisten Bürgern sind hochtechnologische Produkte fast unerreichbar. CD-Plattenspieler, Home- und Personalcomputer kann man nirgendwo mit unserer Währung erwerben."

Viele DDR-Bewohner nahmen bei Besuchen im Westen die Diskrepanz zwischen Propaganda bei sich zu Hause und der Wirklichkeit beim "Klassengegner" wahr und wollten auch elektronische Geräte wie PC, CD-Spieler, Kassettenrecorder und andere Geräte haben, bekamen sie aber in den eigenen Läden nicht zu kaufen oder mussten sie sich "hintenrum" mit Westgeld oder auf anderem Wege beschaffen. Selbstverständlich versorgten sich die Politbürokraten in der Funktionärssiedlung Wandlitz sowie ihre Familienangehörigen und alle, die mit Staatssicherheit und Landesverteidigung zu tun hatten, mit Computern westlicher Herkunft. Wie überhaupt die Schere zwischen denen da oben und denen da unten riesengroß war, auch was die Nutzung elektronischer Geräte, Computern, Telefonen und Nachrichtentechnik betraf.

Internationaler Anspruch

Der im September 1988 Erich Honecker von Mitarbeitern des VEB Carl Zeiss Jena präsentierte 1-Megabit-Chip war der ganze Stolz der DDR-Mikroelektronik. Mit ihm sollte der Beweis erbracht werden, dass die DDR zur Weltspitze gehört und dem westdeutschen Klassenfeind selbstbewusst die Stirn bieten kann. Die Propaganda verschwieg die magere Speicherkapazität, denn der Chip konnte gerade einmal 35 eng beschriebene Schreibmaschinenseiten speichern, also so gut wie nichts. Als die Novität von den DDR-Medien überschwänglich gefeiert wurde, war Fachleuten klar, dass die DDR-Industrie in diesem Bereich und nicht nur in diesem gegenüber westlichen Ländern um Jahre zurück liegt. Marktführer Toshiba stellte bereits seit zwei Jahren den 1-Megabit-Chip her, der 4-Megabit-Chip und weiter Speichermedien waren in Arbeit. Wenige Woche vor seinem unfreiwilligen Abgang aus der Politik nahm Honecker im August 1989 stolz das erste Muster eines 32-bit-Mikroprozessors aus DDR-eigener Produktion entgegen und lobte sich und das Erfurter Kombinat Mikroelektronik. Der Prozessor entspreche höchsten international bekannten Maßstäben, begeisterte er sich und war damit einer der ganz wenigen, die diesem Märchen glaubten.

Im SED-Zentralkomitee, in der Akademie der Wissenschaften und an anderen Orten lagen damals hinter dicken Panzerschranktüren Dokumente, die klipp und klar erklärten, dass das Mikroelektronik-Programm gescheitert und das ganze Geschrei um das ehrgeizige Vorhaben nichts als Lug und Betrug ist. Wenn solche Ausarbeitungen Honecker vorgelegt wurden, weigerte er sich, sie zur Kenntnis zu nehmen und behauptete, die Verfasser wollten nur seinen Plan nur sabotieren. Dabei kostete ein 1988 von der DDR für 93 DDR-Mark produzierter 64-Kbit-Chip auf dem Weltmarkt einen Dollar, der 534 teure 256-Kbit-Chip war für zwei Dollar erhältlich. Mit anderen Worten, das Prestigeprogramm verschlang nur Geld und brachte dem Staatshaushalt kaum etwas ein.

Unerklärliche Fehlentscheidungen

Eine nach dem Ende des SED-Staates bekannt gewordene Untersuchung des DDR-Zentralinstituts für Wirtschaftswissenschaften belegte einen gravierenden ökonomischen Rückstand in der Schaltkreisproduktion der DDR und einen erheblichen technologischen Abstand zum Westen, wie das Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL in seinem Heft 1/1990 berichtete, als noch die DDR existierte. Zwar sei die Schaffung einer eigenen mikroelektronischen Basis richtig gewesen, heißt es in dem Gutachten, doch der Milliardenaufwand für die Bauelemente-Fertigung habe sich nicht gelohnt. Zugunsten der Entwicklung von Basis-Schaltkreisen wie Speicherchips und Steuerprozessoren für Personalcomputer seien die Bereiche Rechen-, Nachrichten- und Steuerungstechnik sowie Konsumgüterelektronik derart vernachlässigt worden, dass der DDR-Anteil an der Elektronik-Weltproduktion in den letzten zehn Jahren von 0,8 auf 0,4 Prozent zurückgegangen ist. Die Entscheidungen von Partei und Regierung seien ökonomisch nicht zu erklären.

Erich Honecker, sein Wirtschaftssekretär Günter Mittag und ein paar andere Ignoranten waren so vernagelt, dass sie nicht erkannten, dass die DDR-Mikroelektronik mit voller Fahrt an den Baum fährt. Dessen ungeachtet wurden nach dem Motto "Sieg oder Niederlage" zwischen 1986 und 1989 3,5 bis 4 Milliarden D-Mark (Valutamark) sowie 28 Milliarden DDR-Mark in die Mikroelektronik und ihre Fabriken sowie in die Forschung und Entwicklung gesteckt. Dieses Geld fehlte an anderen Orten. Es wäre für die Verbesserung der Versorgung der DDR-Bewohner und für die Sanierung der maroden Städte besser angelegt gewesen. Doch damit hätte der von der "Blüte" seines Landes felsenfest überzeugte Honecker gegenüber dem Westen wie auch der Sowjetunion und ihrem neuen Hoffnungsträger Michail Gorbatschow kaum auftrumpfen können, und dieses Ziel war wohl der Hauptgrund für die gewaltigen Anstrengung auf dem Gebiet der Mikroelektronik.

Tatort Politbüro

Nach 1989/90 wurden Dokumente veröffentlicht, die tiefe Einblicke über das über verhängnisvolle Schalten und Walten Honeckers und seiner engsten Genossen gewähren. So verfasste das ehemalige SED-Politbüromitglied Werner Krolikowski am 16. Januar 1990 handschriftlich einen Bericht über die Zustände in der obersten Machtzentrale. Dieses und weitere brisante Dokumente wurden von Peter Przybylski, dem Moderator der Sendereihe im DDR-Fernsehen "Der Staatsanwalt hat das Wort", in seinem Buch "Tatort Politbüro. Die Akte Honecker" (Rowohlt Verlag Berlin 1991) veröffentlicht. Über Honecker und seinen Kampf für die Mikroelektronik heißt es auf der Seite 334: "Er setzte wie ein Besessener auf die einseitige Erfolgspropaganda, auf Schönfärberei und Angeberei. Noch im Jahre 1989 ließ er im ND auf Seite 1 ganz groß die DDR als eine Mikroship-Weltmacht feiern, aber es unterblieb selbst auf Seite 7 das Eingeständnis, dass es in der DDR kaum Damenschlüpfer zu kaufen gibt. Die BRD-Zeitungen aber berichteten über diese Sorge der DDR-Frauen." Honecker habe die DDR nicht gesehen, wie sie war, sondern wie sie nach seinem Willen sein sollte. Er habe dieses Zerrbild der gesamten SED sowie den anderen Parteien und Organisationen, der Volkskammer und einem großen Teil der Bevölkerung aufgedrückt.

Bereits 1980 hatte Krolikowski in einem internen Papier über Erich Honecker (EH) geschrieben: "Kennzeichnend für die politische Rolle und Stimmung von EH ist, dass er sich fühlt und auch im PB [Politbüro] so hinstellt, dass er auf einem ganz großen Ross sitzt, dass er immer wieder in den verschiedensten Varianten von sich gibt, dass die SED und die DDR die beste und erfolgreichste Politik betreibt." Zehn Jahre später der von Honecker dilettantisch und doktrinär geführte Arbeiter-und-Bauern-Staat Vergangenheit. Über die teuren DDR-Mikrochips wurde nur noch im Kabarett gewitzelt, da und dort kann man sie als technische Kuriositäten im Museum betrachten.

Weiche in die falsche Richtung gestellt

Auf der erwähnten ZK-Tagung nahm Gerhard Schürer, Vorsitzender der Staatlichen Plankommission beim Ministerrat der DDR und Mitglied des Politbüros des ZK der SED, kein Blatt vor den Mund, als er eine vernichtende Bilanz der von Honecker betriebenen "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" zog. Er konnte sich das nach dem Abgang von Erich Honecker von der politischen Bühne und angesichts des von seinem Nachfolger Egon Krenz tun, der eine "politische Wende" versprochen hatte. "Mit dem sozialpolitischen Programm 1971, das - so muss ich sagen - so große und positive Wirkungen hatte, wurde die Weiche, wenn damals auch nur um Zentimeter, in die falsche Richtung gestellt. Von da an fuhr der Zug von den Realitäten weg, und zwar immer schneller", sagte Schürer.

Werner Jarowinsky, Mitglied des Politbüros des ZK der SED sowie Mitglied der SED-Fraktion der Volkskammer und Vorsitzender ihres Ausschusses für Handel und Versorgung, beschrieb auf der gleichen Tagung, wie sehr ganze Industriezweige verrottet sind, und prangerte die gigantischen Subventionen und die hohe Verschuldung der DDR an. 12 bis 14 Milliarden Mark seien in den vergangenen Jahren investiert worden mit dem Ergebnis, dass der 64-Kilobit-Chip zum reinen Selbstkostenpreis von 40 Mark und der 256-Kilobit-Chip von 534 Mark hergestellt wird, während der Weltmarktpreis für diese Speicherschaltkreise lediglich eine bis 1,50 Valutamark (VM) beziehungsweise vier bis fünf VM beträgt. Sitzungsteilnehmer wollten wissen, warum die Politbüromitglieder diese desaströse Wirtschaftspolitik mitgetragen haben und nicht auf Veränderungen gedrungen haben, räumte Jarowinsky ein: "Es war die Angst und die Furcht vor solch rigorosen Eingriffen, die, wie in Polen, eine solche Lage hätten schaffen können des Absinkens des Lebensstandards, und die Angst, vor dem Volk diese Konsequenzen offen darzulegen und das Volk um Mithilfe zu bitten."

30. Oktober 2018

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