Begehrte Persilscheine
Spruchkammern nahmen es im deutschen Westen mit der Bestrafung von Nazi- und Kriegsverbrechern nicht allzu genau



Der Titel von "Die Mörder sind unter uns" wurde zum geflügelten Wort und fand in der Bundesrepublik bei Demonstrationen gegen die Milde und Nachsicht der Gerichte und die Beschäftigung von Alt- und Neonazis in Bundes- und die Landesregierungen sowie in anderen Bereichen Verwendung.



Jahrzehntelang waren Teilnehmer an solchen Exekutionen und an anderen Verbrechen vor Strafen sicher. Manche hatten nach dem Ende des NS-Staates listenreiche und skrupellos mit Hilfe von Persilscheinen ihre braunen und blutigen Flecke auf ihrer Weste getilgt und hatten es zu "guten Bürgern" gebracht.



Mochten die NS-Opfer noch so sehr nach Recht und Gerechtigkeit rufen und die Mörder anklagen - nur vergleichsweise wenige Naziverbrecher wurden zur Rechenschaft gezogen.



Ehemalige Nazirichter machten nach dem Krieg ungeschoren weiter, als sei nichts geschehen, und manche behaupteten, was zwischen 1933 und 1945 Recht gewesen ist, könne doch danach nicht Unrecht gewesen sein.

Nach dem Ende des NS-Staates vor 70 Jahren wurden mehr als vier Millionen Deutsche in Spruchkammerverfahren entnazifiziert. Das geschah mit dem Ziel der Besatzungsmächte, das befreite Deutschland vom Nazigeist zu befreien und die wahren Schuldigen an Krieg und Völkermord zur Verantwortung zu ziehen. Erste Überlegungen darüber, wie das Verfahren praktisch aussehen soll, wurden bereits 1943 von den Großen Drei - Stalin, Roosevelt und Churchill - angestellt. Sie reichten von der Beseitigung aller Symbole und Spuren des NS-Staates im öffentlichen Raum über die Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher bis zur "automatischen" Festsetzung von NS-Funktionären und Mitgliedern der SS und der Gestapo in Internierungslagern. Alle anderen Helfer und Unterstützer des NS-Regimes sollten mit Hilfe von Fragebögen erfasst und hinsichtlich ihrer Verstrickung in NS-Verbrechen be- und verurteilt werden.

In den westlichen Besatzungszonen fällten Juristen und Laienrichter zahllose Urteile in Spruchkammerverfahren über Menschen, die mehr oder weniger dem NS-Regime verbunden waren. Hatten ordentliche Gerichte einem Angeklagten oder Beschuldigten eine Straftat nachzuweisen, so musste man gegenüber den mit "politischer Reinigung" befassten Spruchkammern seine Unschuld nachweisen. Da sich nicht wenige ehemalige Nazis Leumundzeugnisse besorgten und sogar überlebende Widerstandskämpfer und Juden zu ihren Fürsprechern machten oder sich als Nazigegner ausgaben, blieb den Kammern nichts anderes übrig, als Entlastungen auszusprechen und den so genannte Persilschein auszustellen. Mit seiner Hilfe war man wie bei dem bekannten Waschmittel sauber.

Milde im Zeichen des Kalten Kriegs

Das Kontrollratsgesetz Nr. 104 vom 5. März 1946 teilte die Deutschen in Hauptschuldige, Belastete (Aktivisten, Militaristen, Nutznießer), Minderbelastete (Bewährungsgruppe), Mitläufer sowie Personen ein, die sich nichts hatten zuschulden kommen lassen. Sie mussten sich auf Fragebögen offenbaren, insgesamt 13 Millionen an der Zahl. Kommissionen hatten zwischen Nazis und Nazis zu unterscheiden und bekamen oft genug zu hören, dass der Nationalsozialismus im Prinzip eine gute Sache war, die aber "schlecht gemacht wurde". Ideologische und praktisch-politische Erwägungen in der Zeit des beginnenden Kalten Krieges führten im Deutschen Westen dazu, dass man mit den Betroffenen nicht allzu hart umging, denn es wurden überall Lehrer und Hochschullehrer, Finanzbeamte, Polizisten und Ärzte, aber auch Journalisten, Schauspieler und Musiker unabhängig davon gebraucht, was sie früher getan hatten.

Naziverbrecher der ersten beiden Gruppen wurden nach Anhörung von Be- und Entlastungszeugen mit Haft zwischen zwei bis zehn Jahren bestraft. Die später von regulären Gerichten mit ihren vielen ehemaligen NS-Richtern geübte Nachsicht ging unrühmlich als Zweite Schuld und Kalte Amnestie in die Geschichte ein. Obwohl es viel mehr Hauptschuldige und Belastete gab, wurden nur 1,4 Prozent der Deutschen der beiden ersten Gruppen zugeordnet. Mehr als die Hälfte der Spruchkammerverfahren endete mit der Einstufung einer Person als Mitläufer. Wer als "unbedenklich" beurteilt wurde, erhielt dies schriftlich bestätigt und konnte ab sofort ungehindert und mit erhobenem Haupt seinen Geschäften nachgehen.

Die Entnazifizierung endete in der jungen Bundesrepublik Deutschland unter den Bedingungen des Kalten Kriegs. Sie litt unter mangelnder Akzeptanz in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, während die Justizorgane in der Sowjetischen Besatzungszone und DDR unnachsichtig mit Naziverbrechern und solchen abrechneten, die man für solche hielt. Wer verdächtig war, an Kriegs- und anderen Verbrechen beteiligt gewesen zu sein und das Hitlerregime unterstützt zu haben, erhielt hohe Zuchthaus- und in bestimmten Fällen auch die Todesstrafe. Es gab aber auch Fälle, dass sich NS-Verbrecher eine falsche Identität zulegten und sich sogar Papiere verschafften, die sie als Opfer des Faschismus auswiesen und ihnen gewisse Vorteile gegenüber dem großen Reste der Bevölkerung verschafften (siehe Beitrag auf dieser Internetseite über Erna Dorn und die Legende vom faschistischen Putsch am 17. Juni 1953 vom 7. Januar 2018). Das Landgericht Chemnitz, von 1953 bis 1990 Karl-Marx-Stadt, verhandelte vom 21. April bis zum 29. Juni 1950 im Zuchthaus Waldheim (Sachsen) gegen 3 442 Personen, denen Kriegs- und NS-Verbrechen sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen wurde. Fast alle Angeklagten wurden zu Freiheitsstrafen von 15 bis 25 Jahren verurteilt, über 32 Personen wurde das Todesurteil ausgesprochen, von denen 24 vollstreckt wurden. Das Gerichtsverfahren und die Urteile sollten beweisen, dass die DDR im Unterschied zur Bundesrepublik Deutschland konsequent den Faschismus ausmerzt und Naziverbrecher gnadenlos zur Verantwortung zieht.

Die Mörder sind unter uns

Das Problem brachte 1946 der DEFA-Film "Die Mörder sind unter uns" auf den Punkt. Der erste deutsche Spielfilm der Nachkriegsgeschichte nach einem Buch von Wolfgang Staudte, der auch die Regie führte, spielt im zerbombten Berlin. Der aus dem Krieg zurück gekehrte Militärchirurg Hans Mertens (Ernst Wilhelm Borchert) sieht sein Haus in Trümmern. Er leidet noch unter dem Kriegstrauma und wird zum Alkoholiker. Die Fotografin und KZ-Überlebende Susanne Wallner (Hildegard Knef) nimmt ihn auf, beide werden schnell zu Freunden. Zufällig begegnet Mertens seinem ehemaligen Hauptmann Ferdinand Brückner (Arno Paulsen), der zu Weihnachten 1942 in einer polnischen Ortschaft 36 Männer, 54 Frauen und 31 Kinder erschießen ließ, nach dem Krieg aber einen Neuanfang schaffte und es zum geachteten Bürger und erfolgreichen Geschäftsmann brachte, der aus alten Stahlhelmen Kochtöpfe macht.

Am Weihnachtsabend 1945 versucht Mertens ihn zu töten, doch der Mord wird von Susanne verhindert. Sie kann ihn überzeugen, Brückner anzuzeigen, so dass er vor Gericht gestellt werden kann. Beide wollen zusammen ein neues Leben beginnen. Ursprünglich hatte der Film den Arbeitstitel "Der Mann, den ich töten werde", doch musste das Drehbuch dahingehend umgeschrieben werden, dass der ehemalige Hauptmann bei den Justizbehörden angezeigt wird. Die Alliierten bestanden auf diesem Schluss, weil sie befürchteten, der Film könnte als Aufruf zur Selbstjustiz verstanden werden. Am 15. Oktober 1946 wurde "Die Mörder sind unter uns" im Berliner Admiralspalast im sowjetischen Sektor Berlins uraufgeführt und fand viel Beifall. Erst Ende 1971 wurde er durch eine Fernsehausstrahlung in der Bundesrepublik einem größeren Publikum im Westen bekannt.

Während Alt- und Neonazis ziemlich bald in der Bundesrepublik Deutschland im Wissen um ihre braune Vergangenheit zu Ämtern und Würden kamen und manche sogar mit hohen Orden dekoriert wurden, hat man viele Kämpfer gegen das NS-Regime als Vaterlandsverräter und Eidbrüchigen verunglimpft. Der Hitler-Attentäter Claus Schenk Graf von Stauffenberg erklärte einem Vertrauten, wer etwas zu tun wagt, müsse sich bewusst sein, "dass er wohl als Verräter in die deutsche Geschichte eingehen wird. Unterlässt er jedoch die Tat, dann wäre er ein Verräter vor seinem Gewissen. Ich könnte den Frauen und Kindern der Gefallenen nicht in die Augen sehen, wenn ich nicht alles täte, dieses sinnlose Menschenopfer zu verhindern". Seine Witwe und viele andere Überlebende mussten gegen Behördenwillkür kämpfen, um für erlittenes Leid entschädigt zu werden. Die so genannte Bewältigung der Vergangenheit war im deutschen Westen mit manchen Schwierigkeiten verbunden. Bundespräsidenten, Bundeskanzler und weitere Politiker, aber auch Historiker und Schriftsteller mühten sich um Versöhnung mit den ehemaligen Feinden und um Aufklärung über die Verbrechen der Nationalsozialisten. Ausdrücklich bezog Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 in einer Ansprache zum 40. Jahrestag des Kriegsendes die Opfer des Widerstandes in Deutschland und allen vom Deutschen Reich besetzten Staaten in das Gedenken ein. "Als Deutsche ehren wir das Andenken der Opfer des deutschen Widerstandes, des bürgerlichen, des militärischen und glaubensbegründeten, des Widerstandes in der Arbeiterschaft und bei Gewerkschaften, des Widerstandes der Kommunisten. Wir gedenken derer, die nicht aktiv Widerstand leisteten, aber eher den Tod hinnahmen, als ihr Gewissen zu beugen."

Selektive Geschichtsbetrachtung

Die DDR verstand sich als antifaschistischer Staat, als das bessere Deutschland, und betonte das bei sich jeder sich bietenden Gelegenheit. Das Land mit 17 Millionen Einwohnern bestand per Parteidoktrin nur noch aus Antifaschisten und Demokraten. Da die Aufarbeitung der Vergangenheit nur selektiv nach parteipolitischen Vorgaben stattfand, kam es, dass bestimmte Opfergruppen wie die Juden, Sinti und Roma, Homosexuellen und Zeugen Jehovas, die Kranken und Schwachen und die Zwangarbeiter vergeblich um Anerkennung und Wiedergutmachung kämpften und zu Unrecht im Schatten der Ehrungen des kommunistischen Widerstands standen. Wer gegen die Ausgrenzung ganzer Opfergruppen opponierte und wer mutig bemerkte, dass im Arbeiter-und-Bauern-Staat Freiheit, Humanität und Solidarität mit Füßen getreten werden und sogar Parallelen mit dem Nazistaat kritisierte, bekam es mit der von der SED gesteuerten Klassenjustiz und der Staatssicherheit zu tun.

14. Januar 2018

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