"Sie gingen ins Unbekannte"
Berliner Topographie des Terrors dokumentiert in neuer Ausstellung das Wüten der SS-Mörder im besetzen Polen



Die Ausstellung im Foyer der Topographie des Terrors wurde zuerst 2013 in der Gedenkstätte Majdanek anlässlich des 70. Jahrestages unter der Tarnbezeichnung "Aktion Reinhardt" von der SS durchgeführten Massenmords gezeigt und kann jetzt, verbunden mit einem Buch in französischer und deutscher Sprache, in Berlin angesehen werden.



Die Karte zeigt, wo es im Deutschen Reich und den von der Wehrmacht besetzten Ländern Konzentrationslager und Ghettos gegeben hat, Repro aus der Berliner Zeitung vom 6. März 2013





Wer die Opfer und - hier - die Täter der "Aktion Reinhardt" waren, wird in der Ausstellung und im dazu gehörigen Buch anhand von Bildern und Berichten dargelegt. Auf dem Foto sieht man Odilo Globocnik (links) im Gespräch mit seinem Chef, Reichsführer SS Heinrich Himmler.



In Massengräbern und an anderen Stellen des damaligen Generalgouvernements gefundene Hinterlassenschaften der ermordeten Juden.



Die Topographie des Terrors ist zu jeder Tages- und Jahreszeit ein gut besuchter Ort des Gedenkens und der Information. Es fällt auf, dass besonders viele Jugendliche kommen und an sachkundig geführten Rundgängen teilnehmen. (Fotos/Repro: Caspar)

Die Topographie des Terrors zeigt bis zum 26. August dieses Jahres eine Ausstellung über die "Aktion Reinhardt", in deren Rahmen nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht im besetzten Polen fast zwei Millionen Juden von den Nationalsozialisten brutal ermordet wurden. Unter dem Titel "Sie kamen aus dem Ghetto und gingen ins Unbekannte" dokumentieren die Text- und Bildtafeln, was sich hinter der Tarnbezeichnung verbarg und wie der planmäßige Massenmord der SS und der groß angelegte Raubzug im Generalgouvernement organisiert und durchgeführt wurden. Das besetzte Polen war ein Testfall für die rücksichtslose Wirtschaftspolitik und die rassistisch geprägte Germanisierung der von den Nationalsozialisten unterworfenen Gebiete. Bei der Umsetzung der "Endlösung der Judenfrage", in deren Rahmen die Ermordung von elf Millionen europäischen Juden geplant war, zeigten die Besatzer in der braunen und schwarzen Uniform kein Erbarmen. Sie waren ausgesprochen erfindungsreich was die Mordmethoden und deren Verschleierung sowie die Verwischung der Spuren betraf. Himmler hatte allen Grund, dem SS-Obergruppenführer Globocnik für seine Verdienste bei der Durchführung der Aktion Reinhardt für das ganze deutsche Volk zu danken.

Nach dem Überfall auf die Sowjetunion wurde Globocnik am 17. Juli 1941 zum "Beauftragten für die Errichtung der SS- und Polizeistützpunkte im neuen Ostraum" ernannt. In dieser Eigenschaft war er für die Durchführung des Generalplans Ost und damit für die von den Nationalsozialisten geplante Kolonisierung und Germanisierung Ostmittel- und Osteuropas bei gleichzeitiger Ermordung beziehungsweise Aussiedlung der einheimischen Bevölkerung zuständig. Geplant war, 31 Millionen "Fremdvölkische" zu deportieren und/oder zu ermorden. Weitere 14 Millionen Menschen sollten als Arbeitssklaven in der deutschen Rüstungsindustrie und Landwirtschaft sowie beim Straßen- und Verkehrsbau eingesetzt werden, wobei ihre "Vernichtung durch Arbeit" angestrebt wurde. Die deutsche Besiedlung sollten laut Generalplan Ost in Musterdörfern und -städten untergebracht werden. Man wollte mit der Vision guter Arbeits- und Lebensbedingungen im Osten die Folgen der von der Naziführung missbilligten Landflucht im "Altreich" eindämmen. Dank des Vormarschs der Roten Armee konnten die Siedlungspläne und damit auch die Ermordung der eingesessenen Bevölkerung nicht in vollem Umfang verwirklicht werden.

Reichsführer SS Heinrich Himmler hatte allen Grund, dem aus Österreich stammenden SS-Obergruppenführer und Generalleutnant der Polizei Odilo Globocnik für seine Verdienste bei der Durchführung der "Aktion Reinhardt" zu danken. Beide Massenmörder entzogen sich nach dem Ende der NS-Herrschaft durch Einnahme von Zyankali ihrer gerechten Strafe. Hingegen wurde SS-Standartenführer Paul Blobel, der Leiter des mit der so genannten Enterdung der Mordopfer befassten Sonderkommandos 1005, beim Einsatzgruppen-Prozess zum Tod verurteilt und 1951 erhängt. Seine letzten Worte waren: "Nun haben mich Disziplin und Treue an den Galgen gebracht." Zuvor hatte er dem Gericht mit Blick auf den Massenmord an Juden und anderen Gefangenen weiszumachen versucht: "Ich muss sagen, dass unsere Männer, die daran teilgenommen haben, mehr mit den Nerven runter waren als diejenigen, die dort erschossen werden mussten."

Vergiftung durch Autoabgase

Ende 1941 hatte die SS mit ihren dazu abkommandierten Gefangenen den Bau von drei Vernichtungsstätten an verschwiegenen Orten in Belzec, Sobibor und Treblinka in der Nähe von Eisenbahnlinien begonnen. Dort wurden bis Spätsommer 1943 bis zu 1,9 Millionen Menschen, vor allem jüdische Kinder, Frauen und Männer sowie etwa 50.000 Roma, mit Hilfe von Motorabgasen erstickt, aber auch erschossen. Viele in den Osten "abgeschobenen" Menschen, so die freundliche Umschreibung für Deportation, starben an Entkräftung, Hunger und Krankheiten. Die Ausstellung in der Topographie des Terrors und das Begleitbuch schildern, wie die Gefangenen mit falschen Versprechungen und der Aussicht, durch Arbeit wieder "frei" zu werden, gelockt wurden, die als Duschen getarnten Kammern zu betreten, in die giftige Autoabgase geleitet wurden. Zuvor hatte man ihnen befohlen, ihre Kleider abzulegen und an Koffern und Taschen Anhänger mit Namen und Adressen im Glauben zu befestigen, irgendwann ihren Besitz zurück zu bekommen. Auf einem Foto sind Hinterlassenschaften sehen, die in Massengräbern gefunden wurden. Im Buch kann man, wenn man die Nerven dazu hat, den Augenzeugenbericht eines Gefangenen lesen, der mit seinen Kameraden Leichen aus einer Gaskammer holen, nach Goldzähnen durchsuchen und zu grausigen Türmen stapeln musste, um sie später zu verbrennen. Für die SS hat sich die "Aktion Reinhardt" gelohnt. Himmlers Mördertruppe "erwirtschaftete" aus dem, was die den Juden geraubt hatte, 180 Millionen Reichsmark, die nach einer Vereinbarung mit dem Reichsfinanzministerium dem Sonderkonto "R" des Reichsführers SS gutgeschrieben wurden. Aus der Riesensumme wurden weitere Terrormaßnahmen der SS, aber auch Geschenke an deren Helfer mit den blutverschmierten Händen finanziert.

Für viele Besucher der Ausstellung dürfte neu gewesen sein, dass im heutigen Polen zwar die Massenmorde im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau bekannt und betrauert werden. Hinsichtlich der Verbrechen in Treblinka, Belzec und an andern Orten des damaligen Generalgouvernements herrscht aber viel Unkenntnis. Bei uns dürfte das Erinnern nicht anders aussehen. Dies ist verwunderlich, weil in den genannten Mordstätten fast ebenso viele Menschen umgebracht wurden wie in Auschwitz-Birkenau. Dass Dokumentation die Verbrechen an diesen Orten jetzt in Erinnerung gerufen werden, ist nur zu begrüßen. Im Buch zur Ausstellung wird darauf hingewiesen, dass es in Polen vor dem deutschen Überfall am 1. September 1939 einen weit verbreiteten Antisemitismus gab, den sich die Besatzer zunutze machten. "Besonders die Jahre 1935-1939 sind in schlechter Erinnerung, als nationalistische Gruppierungen mir Unterstützung von Teilen der katholischen Kirche eine skrupellose antisemitische Kampagne entfachten. Slogans zur Lösung der ,jüdischen Frage' wurden in Umlauf gebracht, rechtliche Einschränkungen und Boykotaufrufe gegen jüdische Geschäfte sollten die Menschen dazu bringen, in die Emigration zu gehen."

Goebbels zeigt sich zufrieden

Sodann wird berichtet, dass polnische Juden, die untertauchen konnten, nicht selten von den eigenen Leuten an die SS und Gestapo verraten wurden, um sich in deren Besitz zu bringen oder sich Vorteile zu verschaffen. Auf der anderen Seite haben Polen den Verfolgten sowohl aus materiellen Erwägungen geholfen oder nur aus Mitmenschlichkeit geholfen. In der Ausstellung werden Plakate gezeigt, die jedem die Erschießung androhen, die Juden helfen, aber auch jüdisches Eigentum an sich bringen. Selbstverständlich standen die von der SS durchgeführten Raubzüge unter den verfolgten und ermordeten Juden nicht unter Strafe. Die Kollaboration von Polen mit den damaligen Besatzern ist im heutigen Polen ein heikles Thema. Dort feiert man die vergangenen Generationen als heldenhafte Widerstandskämpfer und möchte über die Zusammenarbeit mancher Personen mit den Besatzern ungern sprechen, ja unterdrückt entsprechende wissenschaftliche Erkenntnisse.

Laut Adolph Eichmann, dem Protokollanten der Wannseekonferenz, wurde die "Aktion Reinhardt" wenige Monate nach dem Überfall auf die Sowjetunion von Hitler befohlen. In Lublin besuchte Eichmann ein Lager, in dem SS-Sturmbannführer Christian Wirth, der erste Kommandant von Belzec und Inspekteur der Vernichtungslager, ihm stolz erklärte, wie Juden vergast werden. Jedes Vernichtungslager war mit mehreren Gaskammern ausgestattet, in denen das tödliche Kohlenmonoxid unter der Aufsicht von SS-Männern zum Einsatz kam. Wirth war führend beteiligt an der Organisation des Euthanasie-Programms und erklärte mit Blick auf die todgeweihten Kranken, was nicht zu retten sei, komme ins Krematorium und werde verbrannt. Erfahrungen, die Wirth und andere zuvor bei der Ermordung von Kranken und Behinderten, euphemistisch Gnadentod genannt, gesammelt hatten, wurden bei der "Aktion Reinhardt" in weitaus größerem Umfang genutzt. Zufrieden konstatierte Propagandaminister Joseph Goebbels am 7. März 1942 in seinem Tagebuch: "Aus dem Generalgouvernement werden jetzt, bei Lublin beginnend, die Juden nach dem Osten abgeschoben. Es wird dabei ein ziemlich barbarisches und nicht näher zu beschreibendes Verfahren angewandt, und von den Juden selbst bleibt nicht mehr viel übrig. Im Großen kann man wohl feststellen, dass 60 % davon liquidiert werden müssen, während nur noch 40 % in die Arbeit eingesetzt werden können. [...] Die Prophezeiung, die der Führer ihnen für die Herbeiführung eines neuen Weltkrieges mit auf den Weg gegeben hat, beginnt sich in der furchtbarsten Weise zu verwirklichen." Damit war gemeint, dass das Deutsche Reich einen erbarmungslosen Vernichtungskrieg gegen das Weltjudentum führen werde.

Appel an die Welt blieb ungehört

Im polnischen Untergrund, in Teilen der Bevölkerung und bei den Regierungen der mit Nazideutschland im Krieg befindlichen USA, Großbritannien und im Vatikan war bekannt, was mit den Juden in Polen gemacht wird und mit all den anderen Menschen, die in die dort eingerichteten Vernichtungslager verschleppt wurden. Entsprechende Informationen wurden durch Kuriere nach London gemeldet, doch fielen die Reaktionen verhalten aus, ja es wurde dafür gesorgt, dass sie nicht an die Öffentlichkeit gelangten. In einem Brief an den im Exil lebenden Präsidenten der Republik Polen schrieb Szmul Zygielbojm, der sich für die Rettung der polnischen Juden vergeblich einsetzte, diesen Abschiedbrief: Ich kann nicht leben und schweigen, während die Reste der Polens, deren Vertreter ich bin, hingemordet werden. Meine Kameraden im Warschauer Ghetto sind mit der Waffe in der Hand in der letzten heldenmütigen Schlacht gefallen. Es war mir nicht beschieden, zusammen mit ihnen zu fallen, aber ich gehöre mit ihnen in das Massengrab. Ich möchte mit meinem Tod meine allertiefste Empörung über die Untätigkeit zum Ausdruck bringen, in der die Welt zusieht und zulässt, dass das jüdische Volk ausgerottet wird."

12. Juli 2018

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