Toter Diktator kommt vor Gericht
Georgische Filmgroteske "Die Reue" wurde 1987 in der DDR verrissen, weil sie SED-Hardlinern missfiel





Machtmissbrauch war ein Unwort in der DDR, nicht einmal durfte man es mit Blick auf längst verstorbene Kaiser und Könige verwenden. Indem der Film "Die Reue" schilderte, was sich der wie ein kleiner Hitler gebärdende Warlam Arawidse erlaubte und wie er seine Macht missbrauchte, konnte Honecker & Co. nicht gefallen, weshalb ein Verbot ausgesprochen wurde.



Das ungarische Filmplakat bringt auf den Punkt, wer sich hinter der jovialen Maske des Funktionärs Warlam Arawidse verbirgt.



Hitler und Mussolini werden in "Der große Diktator" als Adeonid Hynkel und Benzino Napoloni karikiert. Charles Chaplin soll gesagt haben, wenn er das ganze Ausmaß des nationalsozialistischen Massenmords gekannt hätte, hätte er die Filmgroteske nicht oder anders gemacht.

Harald Wessel ging durch den Verriss des Films "Die Reue" und weitere Beiträge unrühmlich in die Geschichte der DDR-Medien ein.



Stalin über alles, so sah die sowjetische Propaganda und so sahen die SED-Genossen den Diktator und Massenmörder, der allein sich und niemand anderem den Sieg über das Nazireich auf die Fahne schrieb.



Nach seiner Entlarvung durch Nikita Chruschtschow 1956 auf dem XX. Parteitag der KPdSU in Moskau zählte ihn die von Walter Ulbricht geführte SED nicht mehr zu den Klassikern des Marxismus-Leninismus, innerlich haben sich er und sein Nachfolger Erich Honecker und ihresgleichen nicht von ihrem Idol gelöst. Die Büste des ehemals wie ein Gott verehrten Generalissimus Josef Stalin landete nach dem Ende der DDR auf einem Berliner Trödelmarkt. (Foto/Repros: Caspar)

Die von der SED gesteuerten und überwachten Medien berichteten oft und gern in verklausulierter Form über Dinge oder polemisierten gegen sie, die dem DDR-Volk offiziell unbekannt, den Oberen aber durchaus geläufig waren. Da ging es um so genannte Engpässe, also Schwierigkeiten bei der Versorgung mit Lebensmitteln und Industriegütern, und um Auswüchse der Bürokratie, aber auch um Aktionen der Opposition, spektakuläre Unfälle, Witterungseinbrüche und ähnliches. Da die Westmedien ungeschminkt über sie berichten, ließen sich dem Regime peinliche Vorkommnisse nicht unter dem Deckel halten, sondern mussten irgendwie kommentiert werden. Nicht selten schüttelten die Leser des "Neuen Deutschland" und die Zuschauer der "Aktuellen Kamera" die Köpfe darüber, welch Kauderwelsch und welche "Denke" um die Ecke ihnen da zugemutet wird.

So geschah es auch im Fall des Films "Die Reue". Über ihn ereiferten sich Hans-Dieter Schütt und Harald Wessel am 28. Oktober 1987 in der FDJ-Zeitung "Junge Welt" beziehungsweise am 31. Oktober 1987 im SED-Zentralorgan "Neuen Deutschland". Sie vermieden es, explizit auf den Inhalt und die künstlerische Qualität des inkriminierten Streifens einzugehen, sondern beließen es bei Andeutungen, auf die sich die Leser ihren Reim machen mussten. Dass Erich Honecker persönlich die Rezensionen redigierte und einige ihm nicht genehme Aussagen abschwächte, hat Franca Wolff in ihrem Buch "Glasnost erst kurz vor Sendeschluss. Die letzten Jahre des DDR-Fernsehens (1985-1989/90), Böhlau Verlag Köln und Weimar 2002 (ISBN 3-4212-08602-9) beschrieben. Ein Jahr später hat der Altstalinist Erich Honecker das sowjetische Magazin "Sputnik" verboten, weil es für seine Begriffe erschreckende Einzelheiten über Stalins Terror und Massenmord ans Tageslicht zog und Vergleiche zwischen den Opfern seiner Diktatur und der in Hitlerdeutschland anstellte. Da das von der SED-Führung als Blasphemie aufgefasst wurde, verschwand das im Geiste von Glasnost und Perestroika verfasste Magazin in der Versenkung, bis es nach dem Ende der SED-Herrschaft wieder ans Tageslicht kam, verbunden mit einer Entschuldigung an die Leser, die es schmerzlich vermisst hatten.

Wut, Verbote, Terror

Wenn Diktatoren der Spiegel vorgehalten wird und sie dort ihre Fratze erkennen, reagieren sie mit Wut, Verboten und Terror. Bei dem im Oktober 1987 im ZDF zusammen mit einer Betrachtung über die Verbrechen und Opfer des Stalinismus ausgestrahlten und daher auch in der DDR zu sehenden Film "Die Reue" dürften viele Zuschauer an Charles Chaplins Streifen "Der große Diktator" von 1940 gedacht haben, in dem die beiden Faschistenführer Adolf Hitler und Benito Mussolini karikiert werden und zu sehen ist, wie sich ein kleines Volk gegen skrupellose Okkupanten und Rassisten listenreich und mutig Wehr setzt. Glanzstück der Filmgeschichte ist die Brandrede des Herrschers mit dem kleinen Hitlerbärtchen. In seiner zugleich böse und lächerlich klingenden Fantasiesprache droht dieser er allem, was den Menschen lieb und wichtig ist. Was alles vernichtet werden soll, klingt in der Sprache des Großen Diktators so. "Demokratschisch schtonk! Liberty schtonk! Free schprekken schtonk! Tomania mit der grötzte Army in der Welt! Der grötzte Navy in der Welt! Wir sind die Grötzte alles, und einer to sacrifice! Und einer strutten tighten de belten!", womit so etwas wie "Kanonen statt Butter und Wir müssen den Gürtel enger schnallen!" gemeint ist. Zwischendurch flicht Hynkel in seine wilden Stammeleien echte deutscher Wörter wie Wiener Schnitzel, Sauerkraut, Blitzkrieg, Leberwurst, Stolz und Katzenjammer ein, was ihnen eine zusätzliche Note gibt.

Tengis Abuladse hat den Film "Die Reue" (georgischer Originaltitel: Monanieba) 1984 gedreht, also noch vor der Machtübernahme durch Michail Gorbatschow als Parteichef in der Sowjetunion im März 1985. Für den Regisseur war er die "erste Schwalbe der Perestroika". Der Leichnam des toten Bürgermeistern Warlam Arawidse, ein Despot und Widerling erster Ordnung, wird von einer Frau ausgegraben und im Garten der Hinterbliebenen zur Schau gestellt. Damit will sie verhindern, dass die Verbrechen des diktatorisch agierenden Provinzfürsten in Vergessenheit geraten, wie es mit dem an der Moskauer Kremlmauer bestatteten Massenmörder Stalin geschehen ist. In einem Tribunal kommen Arawidses Untaten zur Sprache. Der mal jovial grinsende, mal wutschnaubende Funktionär sieht aus wie Stalins blutbesudelter Staatssicherheitschef Lawrenti Berija, trägt eine randlose Brille, ein Hitlerbärtchen und ein Schwarzhemd wie das der italienischen Faschisten. "Die Reue" war bis 1986 in der Sowjetunion verboten, konnte aber auf Betreiben des damaligen georgischen KP-Chefs Eduard Schewardnadse und späteren Außenministers unter Gorbatschow aufgeführt werden und trieb nicht unwesentlich die von dem jungen und energischen Partei- und Staatschef begonnene Bewegung von Glasnost und Perestroika in der Sowjetunion voran. Der Film gewann den Nika, den wichtigsten Filmpreis der Sowjetunion und den Großen Preis der Internationalen Filmfestspiele von Cannes 1987. Außerdem wurde er als bester ausländischer Film für den Oscar nominiert. Insgesamt erhielt "Die Reue" zehn Preise. Als der Film der DDR zur Aufführung angeboten wurde, doch die Parteispitze dies brüsk abgelehnt.

Toleriert und verdammt

Der DDR-Filmjournalist Günter Sobe erinnerte sich in einem Nachruf auf den verstorbenen Abuladse am 8.März 1994 in der Berliner Zeitung an den Film. "Damals, 1987, als er Film in der Öffentlichkeit auftauchte, sah ich ihn in Moskau. Ein Film, toleriert und nicht toleriert zugleich. Wie eine Verschwörerbande saßen wir im Kino, das, kaum die Luft zum Atmen lassend, vollgepfercht war bis zum Platzen Und noch immer -- über ein Vierteljahrhundert nach dem Tod des Diktators -- hatte es etwas von Sakrileg, was da auf der Leinwand ablief. Es dauerte nicht lange, da war der Film auf der West-Röhre. Und prompt erhob sich ein Riesengeschrei in der DDR. […] Man fühlte sich getroffen. Getroffen von einem Kunst-Despoten aus Mussolini, Himmler, Hitler, Berija, Stalin. Und belegte damit, dass man historisch nichts aufgearbeitet hatte, das man historisch nichts in die Reihe gebracht hatte, dass man historisch nichts verstanden hatte, dass man nichts verstehen wollte. Man bewies -- mehr und minder intelligent -- nur eines: schlechtes Gewissen. ,Keine Fehlerdiskussion!' lautete der Zauber-Spruch, den die hiesigen kleinen Diadochen damals durchzusetzen wussten. Gerade das hat nichts geholfen. Es sei ihm, so hat es Abuladse formuliert, in seinen Filmen immer darum gegangen, ,die Erniedrigung des Menschen durch den Menschen, Gewalt und Tyrannentum' an den Pranger zu bringen. […] ,Die Reue' dürfte, infolge der politischen Brisanz, die der Film zur Zeit seiner Entstehung unumgänglich haben musste, dem Regisseur den Platz in der Filmgeschichte gesichert haben."

Interesse verdient, wie der Film im SED-Zentralorgan "Neues Deutschland" beurteilt wurde. Die undankbare Aufgabe für den Verriss übernahm Dr. Harald Wessel, in dem Blatt zuständig für Wissenschaft und ideologische Fragen, eine so genannte Edelfeder, die sich im vielgelesenen "Magazin" vorsichtig auch über Missstände in der DDR und mehr noch beim Klassengegner, also in der Bundesrepublik Deutschland, mokierte. Der lange Artikel vom 31. Oktober 1987 ohne ein Bild beginnt ganz harmlos mit einer Diskussionsrunde mit erfreulich vielen jungen Leuten bei anregender Atmosphäre im Klub der Hallenser Bezirksorganisation des Verbands der Journalisten, wie Wessel schreibt. Gesprochen wurde am Vorabend des 70. Jahrestags der Oktoberrevolution und des einhundertsten Geburtstages des Revolutionsreporters John Reed sowie darüber, wie man die richtigen Lehren aus der Geschichte zieht. So weit, so erwartbar. "Da meldete sich eine junge Kollegin zu Wort und wollte von mir wissen, ob ich den kurz zuvor im ZDF gezeigten sowjetischen Film , Reue' für einen gelungenen Beitrag zu unserem Geschichtsbild hielte. Da ich ebenso offen wie charmant gefragt worden war, habe ich offen und direkt geantwortet: ,Nein'".

Schwarzseherei und Schwarzmalerei

Ohne näher auf den Streifen einzugehen und auch zu sagen, ob er ihn gesehen hat, wertet Wessel ihn als "Farbfilm regelrechter Schwarzseherei und Schwarzmalerei", als ein Produkt des Geschichtspessimismus. "Ein Mensch wird zu Tode gefoltert, und dazu erklingt Schillers ,Ode an die Freude' mit Beethovens Musik. Diese Schlüsselszene des Films aus Georgien soll den Zustand der Welt ausdrücken. Die Hymne der Humanitas zum Todesschrei degradiert und pervertiert - das ist ein für uns unannehmbares Credo, in dem purer Pessimismus in ethischen Nihilismus, in die Verneinung aller ethischen Normen und sittlichen Errungenschaften hinübergleitet, so dass der zynische Selbstverdruss als letzte Weisheit übrigbleibt." Dass genau solche Szenen in den Folterkellern und Todeszellen des sowjetischen Geheimdienstes geschahen und durch erschreckende Berichte belegt sind, mochte der Verfasser dieses Pamphlets nicht zugeben- Gewusst wird er es haben, denn er war mit allen Schattierungen des Marxismus-Leninismus und der Zeitgeschichte bestens vertraut. Nichts ging ihm und seinen Stichwortgebern im Zentralkomitee der SED so sehr gegen den Strich wie der Vergleich zwischen den Diktaturen. Eine Gleichsetzung der Diktatur des Proletariats Leninscher und Stalinscher Prägung mit der faschistischen Diktatur unter Hitler durfte es nicht geben, einer Diktatur, "die ihrem Wesen nach rücksichtsloseste Gewaltherrschaft im Interesse der reaktionärsten und aggressivsten Kreise des Monopol- und Rüstungskapitals", so Wessels wie aus einem Lehrbuch von damals abgeschriebne Definition der NS-Herrschaft.

Im Hallenser Klub hab jemand "sinnend gesagt", schreibt Wessel, es sei schade, dass so ein Genosse wie Michail Kolzow den Fortschritt unserer Welt in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts nicht mehr habe miterleben können. "Ja, man hätte es dem scharfsinnigen, hochherzigen und optimistischen Kommunisten gerne gewünscht. Es sollte nicht sein." Leser von damals werden vielleicht gewusst haben, und der politisch gewiefte und historisch gebildete Harald Wessel war einer von ihnen, dass der sowjetische Reporter und Günstling von Stalin höchst persönlich unter dem Vorwurf, konterevolutionärer Tätigkeit, ein Opfer der Stalinschen Säuberungen wurde. Die Gelegenheit, ihnen ein klares Wort des Bedauerns, ja gar der Anklage zu widmen, verstrich ungenutzt. Doch blieb es bei einem flapsigen "Es sollte nicht sein". Ob Erich Honecker den Satz ins Manuskript geschrieben hat, wie er es bei politisch wichtigen Texten zu tun pflegte? Wir werden es nicht erfahren. Der heute 88 Jahre alte Harald Wessel wird es uns nicht verraten. Sein Pamphlet gegen den preisgekrönten Film "Die Reue" jedenfalls war einer der vielen Nägel am Sarg des SED-Regimes.

Harald Wessel gehörte zu den ideologischen Einpeitschern der Honecker-Politik und davor des Ulbricht-Regimes. Nachdem der Generalsekretär seiner Partei gestürzt war, spielte Wessel gemeinsam mit dem einstigen Literaturpapst Klaus Höpcke, einem früheren Kulturredakteur des "Neuen Deutschland", den Demokraten, der schon immer für Menschenrechte und Humanität eingestanden sei, aber an der Verwirklichung des löblichen Vorhabens gehindert wurde. Einem Unrechtsregime gedient zu haben - diese Einsicht war nicht Wessels Sache. Um ein Haar wäre er noch Chefredakteur des ND geworden. Günter Schabowski, der damals gerade Propagandachef der zur PDS mutierten SED geworden war, schlug vor, mit Harald Wessel einen Neuanfang zu machen. Doch die Redaktion rebellierte. Wenn Wessel Chef wird, wäre das ein Grund zur Kündigung, versicherten einige Genossen. Auf einer Massendemonstration wurde ein Plakat mit der Aufschrift "Hebt den Wessel aus dem Sessel" hochgehalten. Von diesem Hardliner der alten Zeit sei nur Schlimmstes zu erwarten. So blieb dem privilegierten Parteijournalisten und Büchersammler der Aufstieg versagt. Im Gegenteil, er und andere Parteijournalisten, Historiker und andere Leute erlebten einen Karriereknick sondergleichen. Dass er immer dann ins Rennen geschickt wurde, wenn ideologische Reinigung angesagt war, und er ab 1985 zur Stelle war, um die Gorbatschowsche Glasnost und Perestroika abzuwehren, bleibt untilgbar an ihm haften. Nach dem Ende der SED-Herrschaft 1989/90 blieb der wortflinke Harald Wessel nicht untätig, er war damals noch nicht einmal im Rentenalter. Seine in linken Blättern unter dem eigenen Namen beziehungsweise dem vornehm klingenden Pseudonym Heinrich von Grauberger veröffentlichten Artikel waren nur mäßiger Erfolg beschieden. Aber das ging auch anderen prominenten Parteijournalisten nicht anders.

1. November 2018

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