Rinnsteinkunst als Gütesiegel
Was Kaiser Wilhelm II. anno 1901 in die Gosse zog, nimmt heute Ehrenplätze in großen Museen ein





Jetzt wisse man endlich, wo das schöne Geld bleibt, sagen naive Besucher aus der Provinz beim Anblick der als "Vogelscheuchen" und Witzfiguren wie Markgraf Otto der Faule in Schlafposition gedeuteten Marmorfiguren auf der Berliner Siegesallee.



Von der einst ebenso stolzen wie umstrittenen Siegesallee werden stattliche Reste im Lapidarium auf der Spandauer Zitadelle mit weiteren von hohen Sockeln geholten Standbildern gezeigt.



Wie die Siegesallee als Tierschau verballhornt wurde, dürfte Kaiser Wilhelm II. und seinem Anhang und seinen Günstlingen kaum gefallen haben.



Der oberste Kunstwart des Deutschen Reiches liebte Kostümbälle und spreizte sich im Berliner Schloss, von seinen Hofschranzen umschwärmt, als Friedrich der Große. Allerdings waren dessen Fußspuren viel zu groß, um von "Wilhelm dem Letzten" ausgefüllt zu werden.



Gut altdeutsch, gefällig und bloß nicht avantgardistisch und umstürzlerisch sollte die vom Kaiser geforderte Kunst sein. Doch die von ihm verteufelte "Rinnsteinkunst" hat ihn überlebt, mochte die kaiserliche Ordnungsmacht sie noch so schnell zu Grabe tragen.





Viele Künstler wehrten sich auf unterschiedliche Art gegen die ihnen von allerhöchster Stelle oktroyierte Ästhetik und ideologische Ausrichtung. (Repros: Caspar)

Als am 18. Dezember 1901 die letzte, an den brandenburgischen Kurfürsten Johann Georg erinnernde Denkmalgruppe auf der Berliner Siegesallee enthüllt wurde, war Kaiser Wilhelm II., der Stifter dieser Anreihung von brandenburgischen und preußischen Herrscher, des Lobes voll. Endlich war er am Ziel, jetzt konnte die Welt sehen, welch großer Kunstmäzen, also er höchstselbst, die Deutschen regiert. Außerdem konnte man es all den Nörglern, Kritikastern und Banausen zeigen, die, undankbar, unsensibel und ignorant, einfach nicht die Größe des kaiserlichen Geniestreichs verstehen wollen und das große Werk nur aus ihrer Froschperspektive be- und verurteilten. Wenn es Unzulänglichkeiten gab, sei das nicht dem Stifter der Ruhmesstraße, sondern allenfalls unfähigen Beratern und ausführenden Künstlern anzulasten, lautete der Tenor der kaiserlichen Dankesrede. In ihr gab Wilhelm II. seinen Zuhörern und dem Rest der Welt zu erkennen, dass das Ergebnis besser gewesen wäre, wenn er bessere Künstler zur Verfügung gehabt hätte.

Bei einem Festbankett an jenem 18. Dezember 1901 im Berliner Schloss für die Schöpfer der Siegesallee hielt Wilhelm II. stehend eine Ansprache, der auch die Anwesenden stehend zuhören mussten. In dieser sogleich veröffentlichten und damit von höchster Stelle als wichtig fürs Volk bewerteten Rede fiel das böse Wort "Rinnsteinkunst", und zwar dort, wo sich der Kaiser heftig gegen "sogenannte moderne Richtungen und Strömungen" verwahrte. Wilhelm II., der eine Vorliebe für spektakuläre Auftritte an bestimmten - mehr oder wichtigen - historischen Daten hatte, hatte den 18. Dezember 1901 bewusst als Tag für den Abschluss der Siegesallee und seine Grundsatzrede gewählt. Gleich eingangs erwähnte er, dass seine Eltern fünfzehn Jahre zuvor das Völkerkundemuseum eingeweiht hatten. "Ich betrachte es als ein besonderes Glück, dass gerade an diesem Jahrestage der Abschluss für die Arbeiten an der Siegesallee hat gefunden werden können. Ich ergreife die Gelegenheit mit Freuden, um Ihnen allen erstens meine Glückwünsche und zweitens meinen Dank auszusprechen für die Art und Weise, in der Sie mir geholfen haben, meinen ursprünglichen Plan zu verwirklichen."

Experiment Siegesallee

Das Experiment Siegesallee dürfe als gelungen betrachtet werden, verkündete der Kaiser, der Eindruck, den sie mache, sei ein ganz überwältigender, überall mache sich ein ungeheurer Respekt für die deutsche Bildhauerei bemerkbar. Der Monarch übertrieb bei der Beschwörung dieses positiven Echos, das es zweifellos gegeben hat, wie er immer zu Übertreibungen neigte. Denn die Wirkung der Siegesallee war allenfalls folkloristischer Natur. Die Absicht, Werbung für die Hohenzollern und ihr Werk zu betreiben, um den Titel eines berühmten Buches von Otto Hintze aus dem Jahr 1915 aufzugreifen, kehrte sich nicht zuletzt wegen vielfältiger inhaltlicher und gestalterischer Mängel gegen den Urheber.

Die Fertigstellung der Siegesallee bot der höchsten Autorität im Reich Gelegenheit, solche Vergleiche abzuwehren und durch eine offizielle Lobeshymne auf die Siegesallee dem Werk höchste Weihen zu erteilen und den Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Die gemessene Wortwahl lässt allerdings vermuten, dass Seine Majestät wohl doch leise Zweifel an der Qualität des Resultats hatte, als er sagte: "Ich glaube daher, dass wir auf die Siegesallee von diesem Standpunkt aus mit Befriedigung allerseits zurückblicken können. Sie haben, ein jeder in seiner Art, Ihre Aufgabe gelöst." Wenn die Künstler und alle an dem Projekt ihre Aufgabe "in ihrer Art" gelöst haben, und zwar gelöst und nicht etwa gut oder hervorragend bewältigt haben, dann heißt das wohl nichts anderes, als dass da noch mehr herauszuholen gewesen wäre und dass man sich nun mit dem Resultat zufrieden geben muss.

Direktiven von ganz oben

Er habe den Künstlern das vollste Maß der Freiheit und Muße gelassen, behauptete der Redner wider besseren Wissens und schränkte seine Generosität sogleich mit dem Zusatz ein, "wie ich es für den Künstler für notwendig halte. Ich bin nie in die Details hineingegangen, sondern habe mich begnügt, einfach die Direktive, den Anstoß zu geben. Aber mit Stolz und Freude erfüllt mich am heutigen Tage der Gedanke, dass Berlin vor der ganzen Welt dasteht mit einer Künstlerschaft, die so Großartiges auszuführen vermag. Es zeigt sich, dass die Berliner Bildhauerschule auf einer Höhe steht, wie sie wohl kaum je in der Renaissancezeit schöner hätte sein können". Dass der Kaiser beim festlichen Abschluss der Arbeiten an der Siegesallee erklärte, die Künstler nicht beeinflusst zu haben, war falsch. Denn in Wirklichkeit bestimmte er sehr zum Ärger der Bildhauer, wie dieser oder jener Herrscher auszusehen habe und welche Kleidung er tragen soll.

Ein Beispiel, welches des Kaisers angebliche Zurückhaltung in Kunstdingen widerlegt, ist der bekannte Märchenbrunnen im Berliner Volkspark Friedrichshain. Hier erlaubte sich der Monarch massive Eingriffe in den Entwurf des Stadtbaurats Ludwig Hoffmann. Obwohl der Brunnen auf städtischem Boden und mit Geldern der Stadt Berlin von einem städtischen Beamten projektiert wurde, mischte sich der Kaiser ein, und Hoffmann sah sich zu Überarbeitungen gezwungen. Wieder einmal hatte sich der Kaiser, der sich als höchste Kunstinstanz im Reich sah, durchgesetzt. Der streitbare Publizist Maximilian Harden griff Wilhelm II. 1901, dem Jahr der Fertigstellung der Siegesallee, in einem Beitrag über den Märchenbrunnen an. "Ein Wille nur soll in der preußischen Residenz herrschen, einer ihr Stadtbild gestalten. Der König kann aus dem Tiergarten, je nach Belieben, eine Wiese oder einen englischen Park machen, die Städte mit Puppenalleen beschenken, alte Tore in Propyläen umwandeln, Dome im Trokaderostil bauen lassen."

Was Kulturarbeit soll, und was sie nicht darf

Nachdem Wilhelm II. in seiner Ansprache auf dem Festbankett den neben ihm sitzenden Reinhold Begas als künstlerischen Leiter über den grünen Klee gelobt und die Anwesenden vor "sogenannten modernen Richtungen und Strömungen" gewarnt hatte, holte er die Katze aus dem Sack, indem er als unumstößliches Gesetz mit der Attitüde monarchischer Unfehlbarkeit festlegte: "Eine Kunst, die sich über die von mir bezeichneten Gesetze und Schranken hinwegsetzt, ist keine Kunst mehr, ist Fabrikat, ist Gewerbe, und das darf die Kunst nie werden. […] Wenn nun die Kunst, wie es jetzt vielfach geschieht, weiter nichts tut, als das Elend noch scheußlicher hinzustellen als es schon ist, dann versündigt sie sich damit am deutschen Volke. Die Pflege der Ideale ist zugleich die größte Kulturarbeit, und wenn wir hierin den anderen Völkern ein Muster sein und bleiben wollen, so muss das ganze Volk daran mitarbeiten, und so soll die Kultur ihre Arbeit voll erfüllen, dann muß sie bis in die untersten Schichten des Volkes hindurchgedrungen sein. Das kann sie nur, wenn die Kunst die Hand dazu bietet, wenn sie erhebt, statt daß sie in den Rinnstein niedersteigt!"

Sprichwörtlich wurde seine Bemerkung, dass alles, was nicht kaiserlichem Geschmack und Schönheitssinn entsprach, was fremd und unverständlich ist, nichts anderes als Rinnsteinkunst ist und ausgemerzt werden muss. Konformisten und Konservative waren begeistert, weil der Monarch es endlich diesen Impressionisten und Modernisten gegeben und der patriotischen Erziehung und Propaganda mit Hilfe von Kunst das Wort geredet hatte. Die Gescholtenen nahmen es gelassen, der diskriminierende Begriff avancierte sogar zu einer Art Gütesiegel, weil er jemand bezeichnete, der nicht zur offiziellen Hofkunst, sondern zur Avantgarde gehört.

Bei seinem Donnerwetter mag Wilhelm II. auch Leute im Auge gehabt haben, die sich wie einige Zeit später der Direktor der Berliner Nationalgalerie Hugo von Tschudi wegen ihres Eintretens für impressionistische Kunst in die Nesseln setzten. Kategorisch forderte der Kaiser, die besonders anspruchsvolle Hängung der von ihm abgelehnten "Bildwerke der modernen Kunstrichtung zum Teil ausländischen Ursprungs" in der Nationalgalerie rückgängig zu machen. Dafür sollten die Zeugnisse nationaler Kunst wieder an die alten Stellen zurück gebracht werden. Künftig müssten auch alle Neuerwerbungen von ihm genehmigt werden, bestimmte der Monarch.

Das diktatorische Eingreifen des kaiserlichen Dilettanten rief natürlich erneut die Karikaturisten auf den Plan. In der Zeitschrift "Ulk" ließ der Zeichner August Hajduk im Jahr 1908 den renommierten Historienmaler und Direktor der Hochschule für Bildende Künste, Anton von Werner, bekannt vor allem durch seine in mehreren Versionen gemalte Ausrufung Wilhelms I. zum deutschen Kaiser am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles, mit Pinsel und Palette auf die Nationalgalerie zumarschieren, begleitet von geisterhaft daher kommenden Fürsten von der Siegesallee, welche ihre Schwerter drohend in die Höhe recken. "Anton von Werner setzt sich an der Spitze der mobilgemachten Siegesallee und richtet die furchtbarsten Verwüstungen in den eroberten Gebieten an."

Berliner Secession hält dagegen

Die vom Kaiser ins Visier genommenen Künstler wie Hans Baluschek, Lovis Corinth, Käthe Kollwitz, Walter Leistikow, Max Liebermann, Max Slevogt, Heinrich Zille und die französischen Impressionisten standen in einem, wie der Monarch meinte, krassen Gegensatz zu dem, was er unter ästhetisch, schön, christlich, erbaulich, vornehm, nützlich, patriotisch und deutsch ansah. Die 1898 gegründete "Berliner Secession" hielt dagegen, ein Zusammenschluss von Vertretern der Moderne gegen den herrschenden Akademismus und die Kunstpolitik des Kaisers, die durch den Hofmaler Anton von Werner und seinen Kollegen von der Bildhauerzunft Reinhold Begas verantwortet wurde. Auf einem Plakat zur Ausstellung des Deutschen Künstlerbundes 1905 schildert Theodor Thomas Heine, wie eine dunkel gekleidete Frau Rosen aus dem Rinnstein pflückt, während eine zweite, vornehme Renaissance-Dame einen Topf mit einer vertrockneten Blume fort trägt. Im Vorwort zum Ausstellungskatalog der Berliner Sezession von 1905 hielt Max Liebermann den kaiserlichen Allmachtphantasien entgegen: "Für uns gibt es keine alleinseligmachende Kunst, sondern als Kunstwerk erscheint uns jedes Werk - welcher Richtung es angehören möge -, in dem sich eine aufrichtige Empfindung verkörpert. Nur die gewerbsmäßige Routine und die oberflächliche Mache derer, die in der Kunst nur die milchende Kuh sehen, bleiben grundsätzlich ausgeschlossen."

30. August 2018

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