Schießbefehl? Das Normalste von der Welt!
Wie der entmachtete Partei- und Staatschef Erich Honecker sein blutiges Grenzregime verharmloste



Mit Drohungen in Richtung Westen wie "Wer uns angreift wird vernichtet" machte sich das SED-Regime nach dem Mauerbau am 13. August 1961 Mut.



Bis zum Fall der Mauer am 9. November 1989 wurde die Berliner und die innerdeutsche Grenze mit allen zur Verfügung stehenden technischen Mitteln aufgerüstet und demagogisch als "antifaschistischer Schutzwall" verherrlicht.



Erich und Margot Honecker fanden die Mauerbau und ihre technische Hochrüstung in Ordnung und behaupteten, niemand in der DDR, der angeblichen Krönung der deutschen Geschichte, sei zur Flucht gezwungen gewesen.



Wer die Grenzanlagen überwinden wollte und dabei geschnappt wurde, kam ins Zuchthaus, und die Angehörigen waren schlimmen Sanktionen ausgesetzt. Dennoch haben sich viele DDR-Bewohner auf den gefährlichen Weg gemacht, und manche verloren dabei ihr Leben. Rund 330 Tote wurden bisher gezählt. Weiße Kreuze entlang der ehemaligen Grenze in Berlin erinnern an sie.



Bild-Text-Tafeln an der East-Side-Gallery erinnern daran, was die Staatsmacht Menschen antat, die den zweiten deutschen Staat verlassen wollten und dabei geschnappt wurden. (Fotos/Repros: Caspar)



Wer sich als DDR-Bewohner entschloss, den zweiten deutschen Staat zu verlassen, wusste in der Regel, worauf er sich einließ - Tod an der Mauer, schwerste Verletzungen, hohe Gefängnisstrafen, unbarmherzige Verfolgung von Familienangehörigen und Freunden, denen man Mitwisserschaft unterstellte, Infiltration und Überwachung durch die Stasi. Man musste schon triftige Gründe haben, wenn man den zweiten deutschen Staat verlassen. Die Wege und Mittel, dies zu tun, waren vielfältig, ebenso die Gegenmaßnahmen der Staatssicherheit, Polizei und Grenztruppen. Der Paragraph 213 des Strafgesetzbuches bestimmte zum Ungesetzlichen Grenzübertritt: "(1) Wer widerrechtlich die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik passiert oder Bestimmungen des zeitweiligen Aufenthalts in der Deutschen Demokratischen Republik sowie des Transits durch die Deutsche Demokratische Republik verletzt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Verurteilung auf Bewährung, Haftstrafe oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer als Bürger der Deutschen Demokratischen Republik rechtswidrig nicht oder nicht fristgerecht in die Deutsche Demokratische Republik zurückkehrt oder staatliche Festlegungen über seinen Auslandsaufenthalt verletzt. (3) In schweren Fällen wird der Täter mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu acht Jahren bestraft. Ein schwerer Fall liegt insbesondere vor, wenn 1. die Tat Leben oder Gesundheit von Menschen gefährdet; 2. die Tat unter Mitführung von Waffen oder unter Anwendung gefährlicher Mittel oder Methoden erfolgt; 3. die Tat mit besonderer Intensität durchgeführt wird; 4. die Tat durch Urkundenfälschung (§ 240), Falschbeurkundung (§ 242) oder durch Missbrauch von Urkunden oder unter Ausnutzung eines Verstecks erfolgt; 5. die Tat zusammen mit anderen begangen wird; 6. der Täter wegen ungesetzlichen Grenzübertritts bereits bestraft ist."

Republikflucht als Verbrechen geahndet

Vom Schusswaffengebrauch ist in dem Strafrechtsparagraphen 213 nicht die Rede, der wurde in internen Dokumenten und Befehlen geregelt. Nach dem Ende der DDR wurde von deren ehemaligen Führern die Existenz eines Befehls zum Töten von Flüchtlingen an der deutsch-deutschen Grenze vehement bestritten. Dabei gibt es eindeutige Dokumente die Wachen, Posten und Streifen der Grenztruppen verpflichteten, die Schusswaffe an der Staatsgrenze West und an der Ostseeküste zur Verhinderung von Fluchtversuchen nach dem Anruf "Halt - stehen bleiben - Grenzposten" oder nach Abgabe eines Warnschusses anzuwenden. Der nach dem Mauerbau am 13. August 1961 erlassene Schießbefehl wurde später durch Dienstvorschriften präzisiert. 1963 befahl Verteidigungsminister Heinz Hoffmann, die Grenzposten seien so aufzustellen, dass sie auf beabsichtigte Grenzverletzer mit Fahrzeugen! schießen können. Als Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates der DDR erklärte Erich Honecker im Mai 1974: "Nach wie vor muss bei Grenzdurchbruchversuchen von der Schusswaffe rücksichtslos Gebrauch gemacht werden, und es sind die Genossen, die die Schusswaffe erfolgreich angewandt haben, zu belobigen." Wenig später unterzeichnete Honecker die Schlussakte von Helsinki, in der sowohl die Unverletzlichkeit der Grenzen als auch unveräußerliche Menschenrechte festgeschrieben wurden. In der DDR wurde der immer wieder erneuerte Schießbefehl als Maßnahme begründet, "um die unmittelbar bevorstehende Ausführung oder Fortsetzung einer Straftat zu verhindern, die sich den Umständen nach als ein Verbrechen darstellt", womit auch die Republikflucht gemeint war.

Nach ihrer Entmachtung erklärten Erich und Margot Honecker, die frühere Volksbildungsministerin, in einem langen Interview, das in dem Buch "Der Sturz. Honecker im Kreuzverhör" (Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 1990, S. 262 ff), der DDR-Schießbefehl habe sich "durch gar nichts" vom Schießbefehl des Bundesgrenzschutzes unterschieden, in der BRD sei die Schusswaffengebrauchsordnung die gleiche wie in der DDR und wie sie gegenwärtig bei der Polizei ist. Der frühere SED-Generalsekretär und Staatsratsvorsitzende behauptete mit Blick auf die Todesschüsse an der innerdeutschen Grenze, er sei bestrebt gewesen, die Beziehungen zwischen der DDR und der BRD auch auf diesem Gebiet zu humanisieren. "Es bedurfte eines langjährigen Wirkens, um dahin zu kommen, dass 1986 und 1987 den Angehörigen der Grenztruppen empfohlen wurde, von der Schusswaffe nicht mehr Gebrauch zu mache, es sei denn zur Abwehr des Angriffs auf den eigenen Leib und das Leben, das heißt, die Inanspruchnahme des Notwehrechts." Auf die Frage, ob es ihm nicht leid tut, dass etwa 200 Menschen an der Mauer getötet wurde, antwortete Erich Honecker: "Mir tun unsere 25 Genossen leid, die meuchlings an der Grenze ermordet wurden. Entsprechende Ersuche von uns an die damalige Regierung der Bundesrepublik, diese Leute an uns auszuliefern, wurden negativ beantwortet."

"Dummheit" mit dem Leben bezahlt

In einem ihrer seltenen Interviews, das sie nach dem Tod ihres Mannes (1994) einem deutschen Fernsehteam gab, behauptete Margot Honecker, dem Sozialismus in der DDR habe die Zeit gefehlt, um alle seine Vorzüge zu entfalten. Nach ihrer Meinung zu den Toten an der Mauer gefragt, räumte sie ein, es lasse einen nicht ruhig, wenn ein junger Mensch auf diese Weise ums Leben kommt, doch liege die Schuld an dem Toten selbst. "Der brauchte ja nicht über die Mauer zu klettern. Diese Dummheit mit dem Leben zu bezahlen, das ist schon bitter". Die hier zum Ausdruck kommende Kaltherzigkeit deckt sich mit Argumenten anderer Apologeten des SED-Regimes und der Mauer, die den Flüchtlingen die Schuld an den Todesschüssen gaben und nicht den Verhältnissen, die viele Menschen das Risiko eingehen ließen, das mit dem Verlassen der DDR verbunden war.

In einer am 7. Juni 2017 in der Gedenkstätte Berliner Mauer an der Bernauer Straße vorgestellten Dokumentation gingen Historiker vom Forschungsverbund SED-Staat an der Freien Universität Berlin der Frage nach, wer die 327 zwischen 1949 und 1989 an der innerdeutschen Grenze ums Leben gekommenen Menschen waren. Die Männer, Frauen, Jugendlichen und Kinder starben im Kugelhagel der DDR-Wachmannschaften, aber auch durch Explosion von Minen und Sperren. Sie ertranken in reißenden Flüssen, gingen an den Folgen von Herzinfarkten und anderen Krankheiten zugrunde und legten nicht zuletzt die eigene Hand an sich. Das 684 Seiten starke Buch gibt den Maueropfern sowohl aus der Frühzeit der DDR als auch nach dem Bau der Mauer am 13. August 1961 einen Namen und in vielen Fällen auch ein Gesicht. Der älteste Tote war ein Bauer, der nach der Detonation einer Landmine starb, das jüngste Opfer war ein nur sechs Monate alter Junge, der im Kofferraum eines Fluchtautos erstickt ist.

Von den vielen Grenzsoldaten, die die Tötung von Flüchtlingen an der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenze zu verantworten haben, wurden nur wenige in den so genannten Mauerschützenprozessen belangt. Die meisten kamen mangels an Beweisen davon. Einige Politbüromitglieder, darunter Egon Krenz und Günter Schabowski, wurden nach der Wiedervereinigung wegen ihrer Mitverantwortung für die Toten an der Mauer vor Gericht gestellt und zu Freiheitsstrafen verurteilt. Erich Honecker und sein Stasiminister Erich Mielke entgingen aus "gesundheitlichen Gründen" ihrer gerechten Strafe.

6. November 2018

Zurück zur Themenübersicht "Geschichte, Zeitgeschichte, Ausstellungen"