Papierschnipsel müssen weiter warten
Aufbereitung geschredderter Stasi-Dokumente geht trotz technischer Probleme weiter





Wie die Stasi versuchte, sich ihrer Akten zu entledigen, wird im ehemaligen Ministerium für Staatssicherheit an der Ruschestraße in Berlin-Lichtenberg dokumentiert. Die Fotos zeigen einen Aktenschredder, der irgendwann wegen Überlastung seinen Geist aufgab, sowie einen Sack mit Dokumenten, die sich gut zusammensetzen lassen.



Für viele DDR-Bewohner war es eine Herzensangelegenheit, dass die Akten von Mielkes Geheimdienst nicht geschreddert oder verbrannt werden. Deshalb riefen sie Ende 1989 dazu auf, die Dokumente der Bürgerrechtsbewegung zu übergeben, was dann auch zum großen Teil gelang.



Hier transportieren Soldaten der Nationalen Volksarmee 1990 in Säcken verstaute Schnipsel von Stasiakten.



Ein die Fliesenwand des Berliner U-Bahnhofs Magdalenenstraße eingelassenes Foto zeigt, dass im Herbst 1990 eine Mahnwache den Zugang zur Ministerium für Staatssicherheit an der Lichtenberger Ruschestraße versperrt hat und Bürgerrechtler auf dem Recht zur Einsichtnahme der Geheimdienstakten bestehen. Ein Roman von Jürgen Fuchs trägt spielt mit dem Titel "Magdalena: MfS, Memfisblues, Stasi, Die Firma, VEB Horch & Gauck" auf den Namen der Station in unmittelbarer Nähe von Mielkes Hauptquartier an. (Fotos/Repro: Caspar)

Im so genanten Wendeherbst 1989 hat die Stasi ihre Akten massenhaft geschreddert. Als aber die Reißwölfe heiß gelaufen waren und ihren "Geist" aufgegeben hatten, wurden die Unterlagen hektisch auch per Hand zerrissen. Die Vernichtung brisanter und kompromittierender Unterlagen über die massenhafte Überwachung der DDR-Bewohner sowie die Ausspähung ausländischer Staaten, Wirtschaftsunternehmen und Institutionen wurde um den Jahreswechsel 1989/90 und danach von aufgebrachten Bürgerrechtlern gestoppt. Was sie auf hohen Haufen zusammengekehrt und halbverbrannt in Öfen fanden, landete in 16.000 Papiersäcken. Erhalten blieben außerdem 111 Regal-Kilometer unversehrte Dokumente in Aktenordnern und anderen Behältern, und es wurden unzählige Tonbänder und Fotos sowie technische Geräte und mancher Stasikitsch vor der Zerstörung bewahrt. Das alles brachte und bringt bis heute hauptamtlichen Stasileute sowie Inoffizielle Mitarbeiter sowie Spione im Westen in Bedrängnis.

Vor zehn Jahren wurde damit begonnen, die Schnipsel in großem Stil virtuell zusammenzusetzen. Erschlossen wurde bisher nur der Inhalt von 23 Säcken, die einem Umfang von etwa 91.000 Seiten entsprechen. Ein Computerprogramm konnte bereits Risskanten, Schrift- und Papierarten zuordnen, allerdings mussten die Relikte per Hand in herkömmliche Scanner eingelegt werden. Laut Jahn sind warten noch rund 15.500 Papiersäcke auf die Öffnung und Verarbeitung. Das Zusammenfügen von Stasi-Papieren per Hand im bayerischen Zirndorf wurde Ende 2015 beendet, weil die dabei eingesetzten Mitarbeiter wieder im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gebraucht wurden. Sie hatten seit 1995 den Inhalt von etwa 500 Säcken per Hand gepuzzelt und damit etwa 1,6 Millionen Blätter wieder lesbar gemacht.

Aktuell liegen noch immer Millionen Schnipsel zerrissener Stasi-Akten ungesehen in tausenden Papiersäcken. Das werde vorerst so bleiben, die massenhafte Rekonstruktion per Computer komme im Moment nicht voran, sagt der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen (BStU), Roland Jahn. Zwar habe das Fraunhofer Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik eine leistungsfähige Software für die Zuordnung der Relikte aus Stasizeiten entwickelt, doch es gebe keine entsprechenden Scanner. Weil die technischen Voraussetzungen nicht ausreichen, wurde das etwa sieben Millionen teure Projekt vorerst gestoppt.

Papiersäcke sind trocken und sicher eingelagert

Jetzt wollen Jahn und seine Behörde nach und nach die Papiersäcke aus der für die Auslandsspionage zuständigen Stasi-Hauptverwaltung Aufklärung sowie solche über die Verfolgung von DDR-Oppositionellen mit eigener Kraft per Hand zusammenzusetzen. "Die Stasi darf nicht im Nachhinein bestimmen, was wir lesen können und was nicht", sagt der frühere DDR-Oppositionelle. Die bereits am Computer zusammengesetzten Papiere sollen bis zum Frühjahr 2018 im Archiv einsortiert und so der Forschung erschlossen werden. Ziel ist es, weiter in die Arbeit des DDR-Geheimdienstes einzudingen und Lücken in Schicksalen von Verfolgten zu schließen und zu erkennen, wem sie Drangsalierung und Haft zu verdanken haben. Die in den Säcken verstauten Schnipsel sind Jahn zufolge trocken im Stasi-Archiv eingelagert. Es sei nicht zu befürchten, dass sie zerfallen. Ganz aufgeben will der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen die virtuelle Zusammensetzung der papiernen Hinterlassenschaften des Geheimdienstes nicht. Er will einen neuen Vertrag mit dem Fraunhofer Institut aushandeln und hofft, dass die Erschließung einen neuen Schub bekommt. Das wird alle freuen, die heute und morgen einen Antrag auf Einsicht in ihre Alten stellen.

Was es bedeutet, wenn Akten der Staatssicherheit wieder lesbar gemacht werden, zeigt der Fall des Stasiagenten Aleksander Radler alias "IM Thomas". Der in der Oppositionsszene der DDR tätige Theologe war so wichtig, dass Stasiminister Erich Mielke anordnete, sämtliche Berichte seines Top-Spions und ähnlicher Mitarbeiter zu vernichten, ehe sie Bürgerrechtlern in die Hände fallen. IM Thomas hatte 24 Jahre für die Stasi gespitzelt und Freunde verraten. Er war in deutschen, schwedischen und finnischen Kirchenkreise tätig und gab seine Beobachtungen an die Berliner Normannenstraße weiter, den Sitz des Ministeriums für Staatssicherheit. Als Radler 1992 eine Professur an der Theologischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg erhielt, ahnte niemand etwas von seiner Arbeit für die Stasi. Er selber glaubte, dass alle ihn betreffenden und von ihm verfassten Berichte ein für allemal vernichtet sind. Mit keiner Silbe deutete er jemals an, dass er ein hocheffektiver IM der Stasi war.

Das ging solange gut, bis in der BStU-Außestelle Frankfurt (Oder) ein Sack mit zerrissenen Aktenseiten geöffnet wurde. Ab 2012 puzzelten zwei Rekonstrukteure die Geschichte des IM Thomas zusammen. Die 2400 Seiten Informationen aus der Feder des Theologen waren in der Abteilung XX der Stasi-Bezirksverwaltung Frankfurt (Oder) gelandet. Aleksander Radler wurde 1965 wurde von der Staatssicherheit angeworben und mit einem österreichischen Pass ausgestattet. Der kluge und weltgewandte junge Mann studierte Theologie und baute schnell Freundschaften zu anderen Studenten auf. Insgeheim verriet er eine Fluchthelferin und einen Theologiestudenten, der Flugblätter verteilt hatte, sowie 1968 sechs Jenaer Studenten, die aus der DDR fliehen wollten. Sie hatten ihm, der dank seines österreichischen Passes reisen durfte, Briefe an die westdeutsche Verwandtschaft mitgegeben, in denen sie diese um Hilfe baten. "Aleksander ist ein guter Freund", man vertraue ihm, hieß es in einem der Briefe.

Vom angeblich guten Freund verraten

Der "gute Freund" aber lieferte die Briefe bei der Stasi ab, die Studenten wurden festgenommen und später zu Gefängnisstrafen verurteilt. Da die Stasi ihren Top-Spion nicht "verbrennen" wollte, hat ihn pro forma zu einem Mitangeklagten gemacht und ihm die Flucht nach Schweden ermöglicht, wo er, ausgestattet mit einem Kurzwellenradio, Codierungsunterlagen, Geheimschreibmitteln und anderen Spionageutensilien, weiter für Mielke und Konsorten tätig war. Der IM schloss in Lund sein Theologiestudium ab und promovierte zum Doktor der Theologie. Da es von schwedischen Kirchenkreisen enge Kontakte zur DDR-Opposition, war diese Position für die Stasi außerordentlich wertvoll. Neben den Funkkontakten immer dienstags um 22 Uhr traf sich Radler mit seinen Führungsoffizieren, und es fand eine verdeckte Kommunikation mithilfe von Ansichtskarten, mit denen der IM seinen Auftragebern etwas sagen wollte. Verschickte er ein Tiermotiv, dann bedeutete die Gefahr, ein Gebäude signalisierte Geldbedarf.

Aleksander Radler kehrte in den 1970er Jahren zurück in die DDR und pendelte zwischen Schweden, West- und Ostdeutschland hin und her. In Westberlin reichten seine Kontakte bis ins Umfeld des Regierenden Bürgermeisters, im Osten besuchte er kirchliche Ausbildungsstätten in Wernigerode, Naumburg, Neuzelle. Ende der 1970er Jahre drängte es ihn in die Wissenschaft, er wollte unbedingt eine Professur bekommen, doch brachte dieser Wunsch sogar die Staatssicherheit in Bedrängnis. Erst 1988 gelang es ihm, seinen Schützling an der Uni Jena unterzubringen. Seine erste Professur ohne Unterstützung der Stasi erhielt Radler dann Anfang der 90er Jahre in Halle. Er wäre sicher auch unerkannt an der Saale geblieben, wäre er nicht durch eine Randnotiz aufgefallen: Der Pfarrer Dietmar Linke recherchierte für ein Buch über Theologiestudenten in Berlin in den Akten des MfS und fand auf einem Verhörprotokoll einen Hinweis, wonach Radler an der Verhaftung der Jenaer Studenten beteiligt und als "IM Thomas" für die Staatssicherheit tätig war. Nach seiner Entlarvung verschwand der Professor aus Halle und ging nach Schweden, wo er als Geistlicher unbehelligt tätig war.

Es ist nichts so fein gesponnen…

Doch da der alte Satz "Es ist nichts so fein gesponnen, es kommt doch ans Licht der Sonnen" auch in Schweden gilt und dortige Medien den Fall aufgriffen, flog die Tarnung auf. 2011 schilderte die schwedische Historikerin Birgitta Almgren in dem Buch mit dem übersetzten Titel "Nicht nur Spione. Stasi-Infiltration in Schweden im Kalten Krieg" den Fall, ohne Radlers Namen zu nennen. Die Zeitung "Expressen" enthüllte bald darauf die wahre Identität des IM Thomas. In die Enge getrieben, bestritt Theologieprofessor zunächst seine Stasitätigkeit, legte aber noch im selben Jahr sein Pfarramt nieder, nachdem die Schwedische Kirche Untersuchungen gegen ihn angestrengt hatte. Am 23. November 2014 zeigte das MDR Fernsehen den Dokumentarfilm "Der Stasimann in Schweden" von Ryszard Solarz über den ehemaligen IM, der nicht bereit war, sich dort über seine Tätigkeit für das MfS zu äußern. Wie ihm und anderen Spionen zumute ist, wenn sie erfahren, dass lange nach dem Fall der SED- und Stasiherrschaft sie betreffenden Akten wieder lesbar gemacht werden, kann man nur ahnen.

4. Januar 2018

Zurück zur Themenübersicht "Geschichte, Zeitgeschichte, Ausstellungen"