Im Visier der Stasi
Selbst im Westen konnten sich "feindlich-negative Personen" ihres Lebens nicht sicher sein, wie der Fall des aus der DDR geflohenen Fußballspielers Lutz Eigendorf zeigt





Auch wenn seit 1987 offiziell die Todesstrafe offiziell abgeschafft wurde, hielt Stasiminister Mielke eisern an ihr fest. Am 13. November 1989 erntete er mit seiner zum geflügelten Wort gewordenen Behauptung vor der Volkskammer: "Ich liebe - Ich liebe doch alle - alle Menschen - Na ich liebe doch - Ich setze mich doch dafür ein" Gelächter und betretenes Schweigen.





Nach seiner Flucht 1979 in den Westen war der Fußballspieler Lutz Eigendorf ein besonderes Hassobjekt der Stasi. Der Autounfall vier Jahre später wurde bei Dunkelheit durch "Verblitzen" herbeigeführt. Dass die Stasi dabei ihre Hand im Spiel hatte, steht außer Frage.



Wer einen solchen Klappausweis zeigen konnte, befand sich jenseits der Gesetze und besaß Privilegien wie kaum ein anderer in der DDR. Allerdings lebten Stasileute in einer Blase, ganz und gar abgehoben vom Rest der Gesellschaft.



Auch wenn das kitschige Holzrelief rechts so tut, als gebe es eine freundschaftliche Einheit zwischen Volk und Stasi - das Gegenteil war der Fall. Die ganze Wut über die Stasi-Krake entlud sich 1989/90. (Fotos/Repros: Caspar)

Feindlich-negative Personen waren im Jargon der Staatssicherheit ein von imperialistischem Ungeist durchdrungener Mensch, bei dem Hopfen und Malz verloren ist. In den Verdacht, ein "Staatsfeind" zu sein, konnte man schnell kommen, etwa durch regimekritische Äußerungen und politische Witze, Arbeitsverweigerung, illegale Verbindungsaufnahme mit Westjournalisten und unerlaubter Westkontakte sowie durch einen Fluchtversuch. In den Augen der Stasi waren DDR-Bewohner bereits dann "feindlich-negativ", die nur den Aufnäher "Schwerter zu Pflugscharen" an der Jacke trugen oder an ihre Autoantenne eine weiße oder schwarze Schleife als Kennung für die Abgabe eines Ausreiseantrags banden. Zu Todfeinden erklärt und oft genug auch ermordet wurden Menschen, die durch ihre Flucht die besondere Wut der SED-Führung und damit auch von Stasi-Minister Erich Mielke erregt hatten.

Zu ihnen gehörte der prominente DDR-Fußballspieler und Flüchtling Lutz Eigendorf, der 1983 auf dubiose Weise im Westen ums Leben kam. Vor hohen Offizieren sagte Mielke unmissverständlich nach der für sein Ministerium blamablen Flucht des Stasi-Offiziers Werner Stiller in den Westen: "Wir sind nicht davor gefeit, dass wir einmal einen Schuft unter uns haben. Wenn ich das schon jetzt wüsste, würde er ab morgen nicht mehr leben. Kurzer Prozess. Das ganze Geschwafel von wegen nicht Hinrichtung und nicht Todesurteil - alles Käse, Genossen. Hinrichten, wenn notwendig auch ohne Gerichtsurteil." Seine Forderung, Flüchtlinge nicht entkommen zu lassen, drückte der als primitiver, furchterrender Choleriker geschilderte Minister so aus: "Ich will euch überhaupt mal etwas sagen, Genossen, wenn man schon schießt, dann muss man dat so machen, dass nicht der Betreffende da noch bei wegkommt, sondern dann muss er eben dableiben bei uns. Ja, so ist die Sache. Wat is denn das: 70 Schuss loszuballern, und der rennt nach drüben und die machen 'ne Riesenkampagne." Dass seit 1977 die Todesstrafe abgeschafft war, dürfte dem Stasi-Chef bekannt gewesen sein.

Fingierter Autounfall

In diesem Geiste wurde auch im Westen nach abtrünnigen "Schuften" gesucht. Dort durfte sich niemand seines Lebens sicher sein, in Ruhe gelassen zu werden, denn auch für sie galt die Parole "Wir finden dich überall". Mielkes Geheimdienst schuf auch jenseits des "antifaschistischen Schutzwalls", wie die Mauer im SED-Jargon genannt wurde, ein Klima der Beobachtung und Bedrohung. Befehle an Stasi-Agenten im Westen zur Liquidierung von so genannten Klassengegnern und Staatsfeinden wurden mündlich erteilt, Akten darüber ließen sich in der Hinterlassenschaft der Staatssicherheit nur schwer finden. Angeheuert wurden zur Ausführung der Morde Schwerkriminelle. Wer die Täter waren, ist kaum festzustellen. Allenfalls existieren handschriftliche Andeutungen wie im Fall des Fußballspielers Lutz Eigendorf, der 1979 nach einem Freundschaftsspiel in Kaiserslautern nicht mehr in die DDR zurück kehrte und seither auf der Todesliste der Stasi stand. Empörend für den Sportklub FC Dynamo und seinen Ehrenvorsitzenden Erich Mielke war, dass bei Fußballspielen gegnerische Zuschauer in dessen Beisein skandierten "Willst du in den Westen türmen, musst du bei Dynamo stürmen". Deshalb musste unbedingt ein mörderisches Exempel an Eigendorf statuiert werden.

Die frühere Nähe des prominenten Sportlers zum MfS und seine abfälligen Äußerungen, die er im vermeintlich sicheren Westen über den Sport in der DDR machte, konnten Mielke und seine Leute nicht durchgehen lassen. Folgerichtig kam am 7. März 1983 der ehemalige Spieler beim Ostberliner FC Dynamo und zeitweilige Soldat beim Stasi-Wachregiment Feliks Dzierzynski beziehungsweise nach seiner Flucht beim 1. FC Kaiserslautern und Eintracht Braunschweig unter ungeklärten Umständen mit seinem Auto bei einem fingierten Verkehrsunfall ums Leben. Der angetrunkene, nicht angeschnallte Eigendorf soll während der Rückfahrt von einem Fußballspiel bei Dunkelheit "verblitzt" worden sein. Er verlor die Kontrolle über sein Fahrzeug und starb. In einem Film auf ZDF History über die Geschichte der Stasi ist eine handschriftliche Notiz zu sehen, in der der Name von Lutz Eigendorf mit den Begriffen "Verblitzen", "Unfallstatistiken", "Ohnmacht" und "Narkosemittel" verbunden ist. Darüber, wie Eigendorf zu Tode kam, gab es manche Vermutungen. So war davon die Rede, Eigendorfs Wagen sei beschossen worden, man habe die Bremsen manipuliert und/oder ein Kontaktgift eingesetzt. Die Gerüchte kamen der Stasi zugute und sollten den im Westen lebenden Staatsfeinden signalisieren, sie könnten die nächsten sein. Konkrete Anhaltspunkte für die Unfallursache konnten nicht gefunden werden, allerdings wurde bei Eigendorf ein Blutalkoholgehalt von 2,2 Promille festgestellt. Da keine Obduktion des Leichnams oder eine spätere Exhumierung zur Untersuchung auf eventuelle Giftstoffe vorgenommen wurde, schießen bis heute Gerüchte ins Kraut. Mielke und seine Leute konnten sich in ihrem Hauptquartier an der Ruschestraße in Berlin-Lichtenberg zufrieden die Hände reiben.

Nach seiner Flucht war Eigendorf im Rahmen der Operativen Vorgänge "Rose" und "Verräter" von bis zu 50 hauptamtlichen und 20 inoffiziellen Mitarbeitern, den IM, "bearbeitet". Seine in Ostberlin gebliebene Ehefrau Gabriele stand mit der 1976 geborenen Tochter unter ständiger Beobachtung. Es wurde alles unternommen, um eine "Einflussnahme des Verräters Eigendorf, Lutz auf seine Ehefrau hinsichtlich der Aufrechterhaltung der Ehe" zu unterbinden, heißt es in Stasiakten. Der Mutter wurde gedroht, ihr die Tochter wegzunehmen. Anwälte leiteten im Auftrag der Stasi ein schnelles Scheidungsverfahren ein, das am 7. Juli 1979 vollzogen wurde. Gabriele Eigendorf heiratete erneut und bekam ein weiteres Kind. Der neue Mann war ein "Romeo"-Agent des MfS, der ein Liebesverhältnis zu ihr aufbaute, um sie zu bespitzeln und die Trennung von Lutz Eigendorf herbeizuführen. Eigendorf selber heiratete 1982 und bekam mit seiner neuen Frau einen Sohn. Welche Tragödien sich in den Familien und in Freundeskreisen abgespielt haben, mag man sich nicht vorstellen.

"Hart sein, schweigen, hassen"

Einem Anschlag durch Stasi-Agenten entging im Februar 1975 Siegfried Schulze. Er war Mitglied der bei der Stasi besonders verhassten Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit, die immer wieder durch Sprengstoffanschläge auf die Berliner Mauer, mit Plakataktionen am Grenzwall sowie Hungerstreiks für politische Häftlinge und andere Aktionen auf sich aufmerksam gemacht hatte. Das "Objekt" mit der Stasi-Bezeichnung "Fürst" sollte ermordet werden. In der Ausstellung in Mielkes früheren Diensträumen wird geschildert, was mit dem zum Staatsfeind erklärten Schulze geschah. "Über Monate wurde Schulze vom MfS in West-Berlin observiert, bevor die Attentäter, zwei als Inoffizielle Mitarbeiter angeworbene Kriminelle, zuschlugen. Schulze konnte jedoch schwer verletzt entkommen - die Absicht, ,das Objekt nach der Liquidierung unter der hinteren Sitzbank verstaut konspirativ abzutransportieren und in die Hauptstadt der DDR einzuschleusen', kam nicht zur Ausführung. Schulze gilt bis heute als vermisst."

Während Siegfried Schulze den Fängen der Stasi entkommen konnte, konnte sie sich durch einen Trick des in Westberlin tätigen Journalisten Karl Wilhelm Fricke bemächtigen. Er schilderte in seinen Artikeln die Verfolgung von Oppositionellen in der DDR durch die Stasi und die Justizorgane. Wie Fricke in dem oben erwähnten Film bei ZDF History schildert, wurde er am 1. April 1955 im Rahmen seiner Recherchen in eine Wohnung im Westberliner Bezirk Schöneberg gelockt, wo man ihm einen Weinbrand einschenkte. Dass darin durch k.o.-Tropfen waren, wie wir heute sagen würden, merkte er nicht. Bewusstlos, wie er war, wurde er im Auto über die damals offene Grenze in den Ostteil der Stadt gefahren und in das Stasi-Untersuchungsgefängnis Hohenschönhausen gebracht. Im so genanten U-Boot in zermürbender Isolationshaft gehalten, hielt sich Fricke nach eigener Aussage in dem Film nur durch den Gedanken "Hart sein, schweigen, hassen" am Leben.

Das Oberste Gericht der DDR verurteilte ihn in einem Geheimprozess im Juli 1956 wegen "Kriegs- und Boykotthetze" zunächst zu 15 Jahren Zuchthaus. Allerdings wurde Fricke schon nach vier Jahren Einzelhaft, die er in Brandenburg-Görden und in Bautzen absitzen musste, in den Westen entlassen. Dort nahm er seine Arbeit als Journalist und Buchautor wieder auf. Von 1970 bis 1994 als leitender Redakteur beim Deutschlandfunk in Köln tätig, der auch gut in der DDR zu hören war, befasste er sich in seinen Sendungen und Büchern mit Themen wie Widerstand und Opposition sowie Strafjustiz und Staatssicherheit in der DDR. In seinem Buch "Akten-Einsicht. Rekonstruktion einer politischen Verfolgung" von 1997 schilderte Fricke, wie es ihm in den Fängen der Stasi und DDR-Justiz ergangen ist und wie er im Westen unerschrocken als Aufklärer über deren Verbrechen tätig war.

Ich liebe doch alle, alle Menschen

Das Entsetzen stand den Abgeordneten der DDR-Volkskammer in den Gesichtern geschrieben, als sie am 13. November 1989, vier Tage nach dem Mauerfall, hilflose Rechtfertigungsversuche der Regierung anhören mussten, die am 7. November offiziell zurückgetreten und nur noch geschäftsführend tätig war. Der amtierende Ministerpräsident Willy Stoph sah sich genötigt zuzugeben, dass die Arbeit seiner Regierung "eingeschränkt" gewesen sei und benannte Erich Honecker und das SED-Politbüromitglied Günter Mittag als die Schuldigen für die Misere. Der Finanzminister Ernst Höfner räumte ein, dass die Wirtschaft der DDR, von der die Propaganda immer behauptet hatte, sie sei stark und gesund und gehöre zu den zehn führenden Volkswirtschaften der Welt, zum großen Teil nur durch Kredite finanziert worden sei und sich die Rentabilität der Betriebe verschlechtert haben. Die Mark der DDR habe eine Abwertung erfahren, und es seien hohe volkswirtschaftliche Verluste eingetreten.

Den Vogel schoss in jener historischen Volkskammersitzung Erich Mielke ab. An die "Genossen Abgeordneten" gerichtet, behauptete der Stasiminister, es sei ihm und seinen Leuten nur darum gegangen, in "hohem Kontakt mit den Werktätigen" den Frieden zu schützen und alles für die Stärkung des Sozialismus zu tun. Bei diesem Satz wurde Mielke unterbrochen. Auf den Hinweis eines Vertreters einer der Blockparteien, in der Volkskammer seien nicht nur Genossen, also SED-Mitglieder, entschlüpfte dem Mielke der berühmt-berüchtigte Ausspruch "Ich liebe doch alle, alle Menschen, ich setze mich doch dafür ein". Seine Leute hätten alle Informationen entgegen genommen und an die zuständigen Stellen weitergeleitet, um Schaden von der DDR abzuwenden, z. B. was die Republikflucht betrifft. Mielkes auch in leichten Abwandlungen immer wieder gern zitierter Satz wurde mit Kopfschütteln und eisigem Schweigen quittiert. Wie ein begossener Pudel kehrte der Minister in die Regierungsbank zurück. Kurz darauf wurde der SED-Abgeordnete Hans Modrow zum neuen Ministerpräsident gewählt. Das Ende der Einparteienherrschaft und der DDR nahm seinen Anfang. Dem Chef des "Liebesministeriums" wurde der Prozess gemacht, doch hat man ihn bereits 1995 aus gesundheitlichen Gründen aus der Haft entlassen. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er in einem Altenpflegeheim, von seinen Genossen von der Außenwelt abgeschirmt.

4. November 2018

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