Herrschaft der Betonköpf
Wer gegen das "System Honecker" aufmuckte, verlor seinen Posten und erhielt eine Parteistrafe



Im Dunstkreis des Parteichefs tat man gut, sich nicht aus dem Fenster zu lehnen und zu allem Ja und Amen zu sagen. Hundertprozentige Zustimmung waren bei Parteitagen hier im Palast der Republik, im Zentralkomitee am Werderschen Markt und bei öffentlichen Auftritten ratsam.



Erich Honecker sorgte 1971 für die Ablösung von Walter Ulbricht als SED-Chef und erlitt im Wendejahr 1989 den gleichen Fall, um alsbald im wiedervereinigten Deutschland vor Gericht gestellt zu werden. Da er schwer krank war, kam es nicht zu einem Urteil. Der unumschränkt herrschende Partei- und Staatschef war sich keiner Schuld bewusst und starb 1994 in Chile.



Egon Krenz (rechts an einer Bildwand in der Stasi-Ausstellung Berlin-Lichtenberg) beerbte am 18. Oktober 1989 seinen "Ziehvater" Erich Honecker. Die von ihm ausgerufene "Wende" sollte im Grunde nichts anderes als kosmetische Verbesserungen am maroden System sein.



Nicht mehr angepasste, sondern aufsässige Genossen forderten vor dem SED-Zentralkomitees am Werderschen Markt in Berlin gegenüber der Friedrichswerderschen Kirche die Erneuerung der Staatspartei.





Die Quittung für Rechthaberei und zynisches Wortgeklingel waren im Herbst 1989 massenhafte Parteiaustritte. Von einem Tag waren die wie ein Augapfel gehüteten Parteibücher und auch Honeckerbilder keinen Pfifferling mehr wert und landeten auf dem Müllhaufen der Geschichte. (Fotos/Repros: Caspar)

Dass es kritische Gedanken auch in den Führungsgremien der DDR, konkret in der zweiten, als Hochsicherheitstrakt ausgebauten Etage des SED-Zentralkomitees am Werderschen Markt in Ostberlin, gab, wissen wir aus Dokumenten und Erinnerungen, die nach dem Ende der DDR veröffentlicht wurden und ein erschreckendes Bild von der Ignoranz der Betonköpfe um die Parteiführer Walter Ulbricht und ab 1971 Erich Honecker vermitteln. Sie hielten sich für unfehlbar, höhere Schulen und Weiterbildung seien in ihren Augen abwegig und überflüssig gewesen, schreibt Manfred Uschner, ein ehemaliger Mitarbeiter des für Außenpolitik zuständigen Politbüromitglieds Hermann Axen, in seinem lesenswerten Buch "Die zweite Etage" von 1993 über die Funktionsweise des SED-Machtapparats. "Sie betrachteten sich als den eigentlichen Souverän; sie waren Gesetzgeber und Justiz zugleich, sie waren gegen jede Rechtsprechung der staatlichen Organe immun. Sie fühlten sich nur dem Politbüro und dabei dessen führendem Mann oder dessen mächtigster Gruppierung gegenüber verpflichtet."

Wer gegen die von Honecker ausgegeben "Linie" aufmuckte, berichtet Uschner weiter, und das waren bisweilen Genossen aus dem engeren Führungszirkel, flog. Für solche Zwecke gab es Mechanismen wie den Umtausch der Parteibücher. Die Aktion war mit politisch-ideologischen Gesprächen verbunden, und wer sich dabei als Wackelkandidat erwies, wer unerwünschte Fragen stellte und unerwünschte Antworten gab, war seine Mitgliedschaft und damit auch seinen Posten los. Etwa 20 000 Partei- und Staatsfunktionären auf allen Ebenen soll es zu Beginn des "Wendejahrs" 1989 so ergangen sein, insgesamt habe die SED von Januar bis November 1989 rund 66 000 Mitglieder durch Ausschluss, Streichung oder Austritt verloren. Dabei hatten viele mit Ausschluss oder Parteistrafen belegte Genossen nur eines getan, sich nämlich für die Politik des "großen Bruders", also für Gorbatschow und seine Perestroika, auszusprechen.

Lauter Jasager und Schönfärber

Zum "System Honecker" gehörte, dass sich der Partei- und Staatschef nur mit lauter Jasagern und Schönfärbern umgab und alles vom Tisch wischte, was nicht in ihren Kram passte. So wurden von hohen Wirtschaftsfunktionären ausgearbeitete Geheimpapiere, die den bevorstehenden Staatsbankrott dokumentierten und die Überschuldung des Landes nachwiesen, ignoriert und die Verfasser als "Parteifeinde" kritisiert, oft auch degradiert und auf untergeordnete Posten versetzt. Solche Repressalien waren an der Tagesordnung, man konnte von einer Stunde zur anderen ins Nichts fallen und damit auch alle Privilegien verlieren. Hin und wieder kam es vor, dass prominente und daher von Willkür ein wenig geschützte Künstler freiwillig ihr Parteibuch zurück gaben.

Der Leipziger Maler Wolfgang Mattheuer, seit langem SED-Mitglied, beispielsweise tat dies am 7. Oktober 1988 in der Erkenntnis, dass die Partei "das sich selbst bestimmen wollende Individuum" nicht braucht. "Sie hat gar keine geeigneten Mechanismen entwickelt, individuelles Wissen und Erleben von unten positiv zu integrieren. Sie ist nach wie vor allwissend und allmächtig und spricht nur ungern mit nicht jubelnden Genossen. Ein ,Ja, aber...' ist ihr schon lästig. […] Meine Verantwortungswilligkeit und Verantwortungsfähigkeit haben ihre Grenzen erreicht". Erich Honecker, dem die Austrittserklärung mit einem Vorwurf von Mattheuer, in der DDR herrsche Trauer und Resignation, Mangel und Verfall, Korruption und Zynismus, vorgelegt wurde, schrieb trocken an den Rand des Schreibens "Korruption müsste er nachweisen, sonst ist es eine Unterstellung" und quittierte Mattheuers Antrag mit "Einverstanden. E. H. 18. 10. 88". Auf den Tag ein Jahr später ging die Ära Honecker zu Ende, und schon bald musste die SED ihren Alleinherrschaftsanspruch auf.

Charakterlose und dumme Heuchler

Für den ZK-Mitarbeiter Manfred Uschner, der das Klima von Angst und Verunsicherung im "Großen Haus" schmerzlich am eigenen Leib erfuhr und Anfang 1989 Opfer rigoroser Parteireinigung wurde, war die reaktionär-konservative Haltung der Politbüromehrheit und eines großen Teils des Parteiapparats am Herbst 1989 schuld, das heißt am Untergang erst der Staatspartei und dann der DDR. Diese Gruppen "verhinderten ein Fortschreiten, ohne das Fortschritt nicht möglich ist. Sie tragen Verantwortung dafür, dass feige-opportunistische Kräfte unbequem-kreativen stets vorgezogen wurden, dass durch die Praxis der Säuberungen aus der Fülle hochgebildeter und kompetenter Parteifunktionäre niemand in eine Position gelangte, von der aus er das Steuer hätte herumreißen können. Bei Hofe hielten Senilität, Charakterlosigkeit, Dummheit und Eiferertum Einzug."

Einer vernichtenden Kritik unterzog die Schriftstellerin Helga Königsdorf den Parteiapparat, in dessen Hände die eigentliche Macht lag. In einem Essay mit der Überschrift "Was nun?", den das NEUE DEUTSCHLAND am 17. Februar 1990 veröffentlichte, sind wenig schmeichelhafte Worte wie diese zu lesen: "Diese neue herrschende Klasse glaubte an nichts. Wir wussten nie genau, ob sie geistig wirklich so beschränkt waren, wie sie erschienen - es wäre erschreckend, von so viel Mittelmaß zugrunde gerichtet worden zu sein - oder ob es zu ihrer Selbstbehauptung gehörte, sich so dumm zu stellen. Auf jeden Fall wurden sie im Laufe der Jahre zu Zynikern und Heuchlern. Sie fälschten die Berichte. Machten aus Niederlagen Erfolgsmeldungen und spielten sich als Gralshüter der reinen Lehre auf, an die sie nicht glaubten." Diese Funktionäre, so Königsdorf weiter, hätten Macht nach unten besessen, durch die totale Verflechtung von politischer, staatlicher, ökonomischer, militärischer, paramilitärischer und geheimdienstlicher Gewalt hätten sie sogar große Macht besessen. "Sie liebten es, mit gedämpfter Stimme, aber mit gewissem Nachdruck vom Klassenfeind zu sprechen, so, als verfügten sie über geheimes Wissen, das sie auf irgendeine Weise rechtfertigte. Das alles rechtfertigte, was der Machterhaltung diente. Machterhaltung wurde immer mehr zum Selbstzweck. Zu ihrem ureigentlichsten Selbstzweck. Denn sie waren nichts, wenn sie ihren Posten verloren."

Zu viel Kritik könnte dem Klassenfeind nützen

"Kritik und Selbstkritik" war ein Prinzip, um die, wie es immer hieß, Einheit und Reinheit der Partei zu gewährleisten sowie Abweichler auszuschalten. Ausgehend von einschlägigen Praktiken in der Sowjetunion, mussten sich SED-Mitglieder in regelmäßigen Abständen mit ihrem politischen und persönlichen Tun auseinanderzusetzen und ihr Innerstes nach Außen kehren. Die Bekenntnisse durften allerdings nicht in eine Fehlerdiskussion münden. Zu viel Kritik war unerwünscht, sie wäre möglicherweise in einer Systemkritik ausgeartet, und diese war, weil sie angeblich dem Klassenfeind in die Hände arbeitet, unerwünscht. Die Antwort auf eine Frage an den imaginären Sender Jerewan bringt es auf den Punkt: "Kann ein junger Genosse einen älteren kritisieren? - Im Prinzip ja, aber es wäre schade um den jungen Genossen".

Die öffentliche Beichte von Parteimitgliedern konnte, wenn sie allzu negativ ausfiel, zu Sanktionen wie Parteistrafen, Entlassung oder zu Schlimmerem führen, weil Tätigkeit für den Klassenfeind unterstellt wurde. Deshalb hielt man sich schon aus eigenem Interesse bei der Wahrheitsfindung und der eigenen Bloßstellung zurück. Intern nahmen die Parteiinstanzen von der Linie abweichende Eingaben und Vorschläge zwar zur Kenntnis, legten sie aber zu den Akten oder reagierten ausweichend und verklausuliert. Selbstverständlich gingen Informationen an die Staatssicherheit, die ihre eigenen Untersuchungsorgane einschaltete. Überhaupt wurde Kritik an den Plänen und Maßnahmen der Partei- und Staatsführung nur hinter verschlossenen Türen geübt, und wenn sie an die Öffentlichkeit gelangten, dann nur in geglätteten und abgeschwächte Formulierungen etwa der Art: "Wir müssen noch besser arbeiten, planen und regieren" oder "Das Erreichte ist nicht das Erreichbare". Sowohl Ulbricht als auch Honecker waren zu ehrlicher Kritik und Selbstkritik nicht fähig. Sie mussten sich bisweilen harte Worte von ihren "Vorgesetzten" in Moskau, also den sowjetischen Partei- und Staatsführern anhören, machten diese aber aus gutem Grund nicht öffentlich, sondern demonstrierten politisch-ideologischen Schulterschluss und unverbrüchliche deutsch-sowjetische Freundschaft.

Nach der 1956 durch Nikita Chruschtschow in der Sowjetunion initiierten Entstalinisierung war die SED-Führung zu kritischer Einsicht nicht bereit. Diese hätte zu Reformen an Haupt und Gliedern, die diesen Namen wirklich verdienen, zur Ablösung der Funktionärsspitze führen müssen. Doch es blieb nur bei der Rücknahme einiger Parteistrafen, wobei die Betroffenen in ihre früheren Ämter nicht mehr zurückkehren konnten. Walter Ulbricht, Hardliner und Stalinist par excellence, blieb weiterhin der starke Mann im Land. Auch später hat sein Nachfolger Erich Honecker an der Unterdrückung der innerparteilichen Kritik nichts geändert. Seine Abrechnung mit Ulbrichts Fehlern fiel verhalten aus, sein Name wurde nur noch selten erwähnt, dafür der des neuen Mannes an der Spitze der Partei und des Staates um so häufiger. Veröffentlichungen nach dem Ende der SED-Herrschaft zeigen, dass es auch im SED-Politbüro und in der Regierung Kontroversen über die Richtigkeit des eingeschlagenen Weges gab, der dann 1989/90 in den politischen und wirtschaftlichen Abgrund führte. Da Honecker alle in Form wissenschaftlicher Studien von hochrangigen Funktionären vorgelegte Einwände und Vorschläge vom Tisch fegte und Kritiker zum Verstummen brachte, war es mit weiteren Ursachen nur folgerichtig, dass das "System Honecker" wie ein Kartenhaus in sich zusammen fiel und alle Rettungsversuche seines Nachfolgers Egon Krenz und seiner Clique erfolglos blieben.

6. Mai 2018

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