"Vaterlandslose Gesellen"
Das 1878 erlassene Sozialistengesetz musste schon nach zwölf Jahren wieder aufgehoben werden



Polizei- und Justizwillkür war in der Kaiserzeit ein ganz großes Thema. Das Foto zeigt die Verhaftung eines Demonstranten.



Die Karikatur wie sehr das Sozialistengesetz an Otto von Bismarck und den Seinen zaust.



Einen deutschen Arbeiter können die Anfeindungen der Schlotbarone, Grogrundbesitzer, Militaristen sowie die ausländischen Feinde nicht aus der Ruhe, ihre Versuche, ihn zu Fall zu bringen, sind laut "Wahrem Jacob" vom Mai 1902 vergeblich.



Wer auf der Gesellschaftsleiter ganz unten stand, war auf milde Gaben der Besserverdienenden und Suppenküchen angewiesen, rechts schildert Heinrich Zille das traurige Schicksal der Ärmsten der Armen. (Repros: Caspar)

Die Hoffnung, die in die Revolution von 1848/49 gelegt worden waren, erfüllte sich nicht. Weder wurde Deutschland einig Vaterland, wie es in der Becher-Hymne der früheren DDR hieß, noch verschwand die unselige Fürstenherrschaft im Orkus der Geschichte. Die polizeiliche Überwachung aus der Zeit des Vormärz blieb bestehen und wurde von den siegreichen Feudaleliten sogar noch ausgebaut. Wer von den Behörden als "vaterlandsloser Geselle" ausgemacht wurde, kam ins Gefängnis oder stand unter polizeilicher Beobachtung. Nach wie vor wurde die nach Berlin eingehende und aus der preußischen Haupt- und Residentstadt abgehende Post kontrolliert, und auch politisch verdächtige Personen unterlagen der Überwachung. Personen, die ins Visier der Behörden gerieten, wurden im "Anzeiger für die Politische Polizei Deutschlands. Ein Handbuch für jeden Polizeibeamten" zur Fahndung ausgeschrieben und mit deftigen Worten bedacht. Das 1855 publizierte Buch bezeichnete sich als möglichst vollständige Zusammenstellung aller Individuen, "welche auf irgend eine Weise in der Zeit vom 1. Januar 1848 bis jetzt als Feinde der Regierungen, der Ruhe und Ordnung, wie als Träger der Ideen und Leidenschaften der Revolution auch auszeichneten, an die Spitze desfallsiger Bewegungen sich stellten, mehr als Masseninteressen an den politischen Ereignissen dieser Tage nahmen und diese Anteilnahme in äußere Erscheinungen der Opposition übertreten ließen".

Liberale und regimekritische Abgeordnete, Burschenschaftler, Turner und Freisinnige unterlagen der polizeilichen Überwachung, die bedeutende Aktenberge produzierte. Ins Fahndungsverzeichnis kamen Personen, die nach Meinung der damaligen Regierungen Verbrechen politischen Charakters begangen oder geplant haben sollen. Die Einstufung war ausgesprochen dehnbar und unkonkret. In drei Kategorien unterteilt wurden "größtenteils gefährliche Subjekte" beziehungsweise politisch nur bedenkliche Personen unterteilt und dem Denunziantentum ausgeliefert. Gemeint waren unter anderem der Schriftsteller und Dramaturg Karl Gutzkow, der Komponist Richard Wagner, der Architekt Gottfried Semper, der Satiriker Adolf Glaßbrenner, der Publizist Arnold Ruge, der Literat und Autor einer voluminösen Berlin-Geschichte Adolf Streckfuß und viele andere als Personen einschließlich ehemaliger Barrikadenkämpfer und solche, die sich auf andere Weise gegen die bestehende Ordnung erhoben haben.

Die Throne gehen in Flammen auf

Als Literat der bedenklichsten Art fand sich dort Glaßbrenner auf der Fahndungsliste wieder. Für sein Gedicht über die Revolution von 1848 "Die Toten an die Lebenden" mit den Zeilen "Die Throne gehn in Flammen auf, die Fürsten fliehn zum Meere! / Die Adler fliehn; die Löwen fliehn; - die Klauen und die Zähne! - / Und seine Zukunft bildet selbst das Volk, das souveräne!" erhielt Ferdinand Freiligrath das Prädikat "Pestbeule in der Geschichte der deutschen Literatur". Der Dichter des Deutschlandlieds mit der Endzeile "Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland", Heinrich Hoffmann von Fallersleben, kam als Feind der bestehenden Ruhe und Ordnung in den Anzeiger.

Zu den Berliner Beamten, die sich bei der Überwachung und Verfolgung der Verdächtigen besonders hervor tat, gehörten bis 1848 Polizeipräsident Julian von Minutoli und nach ihm Karl Ludwig Friedrich von Hinckeldey, der 1856 an den Folgen eines offiziell verbotenen Duells starb. Er trat im November 1848 sein Amt an und baute dort die Abteilung 1 als Kampfzentrale aus. Um Lücken in der Überwachung über Ländergrenzen zu schließen, regte Hinckeldey 1851 an, die deutschen Bundesstaaten sollten einen Polizeiverein zur Überwachung von ganz Deutschland bilden. Diese Idee wurde begierig aufgegriffen, und so kamen die führenden Beamten in der Folgezeit regelmäßig zusammen und tauschten ihre Erkenntnisse, Informationen und Maßnahmen gegen so genannte Hochverräter, Liberale, Republikaner, Sozialisten und Kommunisten und andere politisch Verdächtige in Form von Wochenberichten und Fahndungslisten aus. Die Erfolge dieser Maßnahmen hielten sich in Grenzen, auch heute arbeiten die Sicherheits- und Verfolgungsbehörden ungeachtet der ihnen zur Verfügung stehenden Technik nicht perfekt und ohne Zeit- und Informationsverlust. Die Geschichte zeigt, dass ausgeklügelte Überwachungs- und Repressionsmaßnahmen nicht den erhofften Effekt hatten, denn freiheitliches Denken und die Sehnsucht nach der Veränderung der herrschenden Verhältnisse ließen sich weder im altpreußischen Staat noch in der Kaiserzeit und danach unterdrücken.

Gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie

Als am 11. Mai und am 2. Juni 1878 Kaiser Wilhelm I. bei Attentaten während einer Kutschfahrt Unter den Linden in Berlin verletzt, aber nicht getötet wurde, war für Reichskanzler Otto von Bismarck das Maß voll. Er nahm die Mordanschläge zum Anlass, um gegen die des Anarchismus verdächtigte linke Opposition vorzugehen. In einer Hetzkampagne ohnegleichen wurde den "Roten" die Verantwortung für solche Gewaltakte in die Schuhe geschoben. Die 1875 aus dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein und der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei hervorgegangene Sozialistische Arbeiterpartei (SAP), die sich wachsenden Zulaufs vor allem in der Arbeiterschaft erfreute, war für Bismarck der Hauptfeind. Mit ihrem Verbot reagierte er auf eine im Bürgertum und Adel weit verbreitete Furcht vor einem revolutionären Umsturz. Ihnen stand die Revolution von 1848/9 noch lebhaft vor Augen, und diese Umsturzversuche wollte man nicht noch einmal erleben.

Um die "Umtriebe" der deutschen Linken und ganz allgemein der vaterlandslosen Gesellen ein für allemal zu unterdrücken und ihr die Mitsprache am politischen Leben streitig zu machen, setzte Bismarck nach einer Neuwahl des Reichstags, die man wegen des Anlasses auch Attentatswahl nannte, die Annahme des Gesetzes "gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie" durch. Das am 21. Oktober 1878 in Kraft getretene Gesetz wandte polizeistaatliche Mittel gegen Parteiorganisationen und Gewerkschaften an. Sie und deren Zeitungen und Druckereien wurden verboten. Bei Androhung von Geld- und Gefängnisstrafen waren Versammlungen und andere öffentliche Veranstaltungen untersagt. Außerdem wurden die Vollmachten der Polizei hinsichtlich der Ausweisung von Personen erweitert, die man auf so genannten Schwarzen Listen erfasst hatte. Tausende Menschen wurden verhaftet, hunderte wegen staatsfeindlicher Betätigung zu Freiheitsstrafen verurteilt, ungezählte verloren aufgrund des Sozialistengesetzes ihre Arbeit und hatten nach ihrer Ausweisung große Probleme, an einem anderen Ort ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Verboten waren alle sozialdemokratischen, sozialistischen und kommunistischen Vereine, die den Umsturz der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung zum Ziel hatten. Ungeachtet des Parteienverbots konnten die wenigen im Reichstag vertretenen Sozialdemokraten politisch tätig sein, außerdem durften sich Abgeordnete in das höchste deutsche Parlament wählen lassen, das Kaiser Wilhelm II. intern als "Reichsaffenhaus" verspottete.

Das zunächst bis zum 31. März 1881 gültige und danach vom Reichstag regelmäßig verlängerte Sozialistengesetz gab der Justiz reichliche Handhabe, um massiv gegen Sozialdemokraten und andere politisch missliebige Personen wegen des Vorwurfs des Hoch- und Landesverrats, der Aufwiegelung zur Rebellion, der Majestätsbeleidigung und anderer Delikte vorzugehen. Im Unterschied zu dem, was der Opposition später im Nationalsozialismus angetan wurde, fielen die Strafen relativ moderat aus. Für die Betroffenen bedeuteten sie aber Entzug ihrer Arbeit- und Lebensgrundlagen. Viele gingen ins Ausland oder in den Untergrund. Zwar konnte die Staatsmacht aufgrund des Sozialistengesetzes gegen vermeintliche Reichsfeinde vorgehen, die sozialen und politischen Konflikte aber blieben und spitzten sich weiter zu.

Tote bleiben auf der Straße

Ungeachtet der staatlicher Unterdrückung und demagogischer Hetze ließ sich der Erfolg der Sozialdemokratie nicht aufhalten. Ihre Mitglieder waren bei der Umgehung des Gesetzes sehr kreativ. Dem Reichskanzler gelang es nicht, die Arbeiterbewegung zu zerschlagen Sie arbeitete im Untergrund weiter, indem sie unverdächtige Turn-, Naturfreunde- oder Radsportvereine gründeten oder in Lesezirkeln und ähnlichen Tarnorganisationen zusammenkamen, um auf regionaler Ebene die Parteiarbeit fortzusetzen. Ungeachtet des Verbots blieb die sozialdemokratische Reichstagsfraktion weiter bestehen, ihre Abgeordneten behielten ihre Mandate. Als das Sozialistengesetz 1890 zu Beginn der Ära Kaiser Wilhelms II. gegen den Protest von Reichskanzler Otto von Bismarck aufgehoben wurde, hatte die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SAP) die Zahl ihrer Wählerstimmen mehr als verdreifacht und war, als Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) neu formiert, hatte über 19 Prozent der Währerstimmen gewonnen und war mit 35 Abgeordneten im Reichstag vertreten. Die zwölf Jahre ihres Verbots hatten ihr mehr genutzt als geschadet.

Jenseits glänzender Fassaden und prunkvoller Paraden war das Leben für die meisten Berliner vor und nach der Reichsgründung alles andere als leicht und erfreulich. Es kam immer wieder zu Hungerkrawallen und Streiks, gegen die die Obrigkeit mit brachialer Gewalt vorging. Begräbnisse bekannter Sozialdemokraten sowie von Arbeiter- und Gewerkschaftsführern gestalteten sich zu stummen Protestaktionen gegen die herrschenden Zustände. Als 1907 der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Ignaz Auer starb, folgten Zehntausende dem Sarg bis zum Friedhof in Friedrichsfelde, wo er unweit des 1900 verstorbenen Wilhelm Liebknecht ein Ehrengrab erhielt. Bei der Errichtung eines Gedenksteins für Auer erschienen laut Polizeibericht 2000 Menschen. Nichts Außergewöhnliches habe sich ereignet, Beschädigungen habe es nicht gegeben, notierten Polizeispitzel.

Wesentlich unfriedlicher ging es im frühen 20. Jahrhundert bei Streiks zu, die die betroffenen Unternehmen durch Streikbrecher zu unterlaufen versuchten, die sie aus Hamburg nach Berlin holten. Bei Auseinandersetzungen mit ihnen und der Polizei erteilte Polizeipräsident Traugott von Jagow einen Schießbefehl. Ein Teilnehmer notierte: "Und dann knallte es durch die Gegend, mitten hinein in die erregten Menschen, die weiter nichts taten, als ihre Lebensrechte zu verteidigen. Als es an diesem Abend still wurde, lagen zwei Arbeiter in ihrem Blute auf der Straße, und einige hundert Männer und Frauen waren verletzt". Die Berliner Polizei durfte sich nach dem Gemetzel über eine Spende von 10 000 Mark aus Unternehmerkreisen freuen, und sie registrierte mit Genugtuung, dass 14 als Rädelsführer angeklagte Streikende zu mehr als 67 Monaten Gefängnis verurteilt wurden. Ihnen wurde Aufruhr, Landfriedensbruch und Widerstand gegen die Staatsgewalt vorgeworden, und es nutzte der Nachweis durch die Verteidigung nicht, dass die Polizei als erste Gewalt angewendet hatte.

Kampf gegen das Dreiklassenwahlrecht

Neben dem Kampf um bessere Löhne und geringere Arbeitszeit spielte auch das Ringen um demokratische Mitbestimmung und namentlich um das Wahlrecht eine große Rolle. In Berlin und Preußen galt immer noch das undemokratische Dreiklassenwahlrecht, das nach der Revolution von 1848/9 von König Friedrich Wilhelm IV. eingeführt wurde und bis zum Ende der Monarchie in Kraft war. Im Unterschied zum Wahlrecht für den Reichstag benachteiligte das Dreiklassenwahlrecht alle diejenigen, die die geringsten Steuern zahlten, und bevorzugte wohlhabende Personen im konservativen Lager, die die höchsten Steuern entrichteten und dem Staat am nächsten standen.

Die SPD und weitere linke Kreise wollten sich nicht mit dem Zustand abfinden und riefen zu Protestaktionen auf, die mitunter als Wahlspaziergang getarnt wurden und/oder in geschlossenen Räumen stattfanden. Polizeipräsident von Jagow ließ am 13. Februar 1910 blutrot gefärbte Zettel anschlagen, auf denen er den Waffengebrauch bei Widerstand gegen die Staatsgewalt ankündigte, verbunden mit dem klassischen Satz "Ich warne Neugierige". Er verkündete Massenansammlungen in der Öffentlichkeit unter Strafe, sei es durch die Demonstranten oder nur durch Schaulustige. Am liebsten hätte er gesehen, wenn die Berliner brav zu Hause geblieben wären. Da sie das aber nicht taten, schritten seine mit Säbeln bewaffneten Polizisten gegen die Demonstranten ein. Diese ließen sich nicht einschüchtern und versammelten sich Tage später vor dem Reichstagsgebäude, im Treptower Park und an anderen Stellen.

Allen Schießbefehlen und dem Polizeiterror zum Trotz erkämpften sich die Berliner nach und nach das Recht für die Versammlung unter freiem. "Diese Volksmasse ist reif geworden, die Regierung selbst in die Hände zu nehmen, diese Volksmasse ist nicht länger gewillt, sich die Herrschaft eines übermütigen kleinen Häufleins von Ausbeutern und Unterdrückern auf die Dauer gefallen zu lassen", erklärte der linke Sozialdemokrat Karl Liebknecht im Preußischen Landtag und erntete Gelächter von der rechten Seite. Es sollte etliche Jahre dauern und einen Krieg, den Ersten Weltkrieg, geben, bis die Monarchie und ihr feudalaristokratisches Systems verschwunden und auch das Dreiklassenwahlrecht Geschichte war.

2. Januar 2018



Zurück zur Themenübersicht "Geschichte, Zeitgeschichte, Ausstellungen"