Aufgeschlagenes Geschichtsbuch
Am Molkenmarkt haben Ausgrabungen des Landesdenkmalamtes begonnen, da bleiben Verkehrseinschränkungen nicht aus





Autofahrer müssen am Molkenmarkt Schlängelwege machen und sich auf Zeitverzug einstellen. Nicht allen Berlinern gefallen solche Unbequemlichkeiten und meinen, es gebe dringlichere Aufgabe, als im Boden nach alten Scherben zu wühlen.





Am Jüdenhof (oben) und im Vorfeld des Staatsratsgebäudes wurden stadt- und kulturgeschichtlich interessante Relikte aus Stein, Keramik, Metall und anderen Materialien gefunden.



Was früher weggeworfen wurde wie diese schön bemalte Keramiktafel, ist heute für Archäologen und Historiker von großem Interesse.



Archäologen legten im Zusammenhang mit dem Bau der U-Bahn 55 an der Rathausstraße Mauerreste aus uralten Zeiten frei und haben sie vermessen. Diesen Rest eines Pfeilers und andere Fundstücke möchten sie auf dem Archäologischen Lehrpfad der Öffentlichkeit dauerhaft präsentieren.



Dieses etwa zehn Jahre alte Foto zeigt die Grabungen auf dem Schlossplatz. Heute erhebt sich hier das Humboldt Forum, das noch in diesem Jahr eröffnet werden soll. Wenn in einer Ausstellung auch die Geschichte des Ortes dokumentiert wird, sollten auch archäologische Fundstücke gezeigt werden. (Fotos: Caspar)

Am Berliner Molkenmarkt gehen Archäologen vom Landesdenkmalamt der frühen Geschichte der Stadt auf den Grund. Es gilt, wie in einem Geschichtsbuch zu lesen, das mit Hilfe von Spaten, Spachteln udn Pinseln zum "Sprechen" gebracht wird. Außer einer Absperrung, einem Holzzaun und viel Stau ist aktuell noch nicht viel zu sehen. Die Arbeiten erfolgen im Zusammenhang mit Plänen zur Um- und Neugestaltung des Molkenmarkts, der zu den ältesten Bereichen Berlins gehört. Geplant ist hier unter anderem ein neues Stadtquartier, dessen Grundrisse und Traufhöhen sich an historische Situationen anlehnen sollen. Bis es so weit ist, muss das Gebiet von den Archäologen untersucht werden. Da das Gelände zwischen Mühlendamm und Molkenmarkt schon vor rund 800 Jahren besiedelt wurde, erwarten die Bodendenkmalpfleger Einsichten, über die alte Urkunden üblicherweise kein Wort verlieren, weil dort Alltagsbegebenheiten und Lebensweise der Menschen kein Thema waren.

Aufgrund der Einschränkungen auf der Fahrbahn müssen sich Autofahrer auf längere Passagen einstellen. Leser der Berliner Zeitung regen sich über die neuen Verkehrseinschränkungen auf. Einer schrieb: "Geschwindigkeitsbegrenzung auf der Leipziger Straße, Umgestaltung Molkenmarkt, archäologische Grabungen und Errichtung House of One, Neubau der Mühlendammbrücke, Unter den Linden und Friedrichstraße als Flaniermeilen. Damit wird Berlin zur Stauhauptstadt und der Ost-West-Verkehr blockiert. Auch werden sich Stickoxid- und Feinstaubmesser über neue Höchstwerte freuen."

Geplant ist, dass der Mühlendamm am Molkenmarkt künftig in einer langgezogenen Kurve verläuft. Die überdimensional breite Grunerstraße soll näher an das Rote Rathaus gerückt werden. Aufgrund der neuen Straßenführung verschwinden die Parkplätze auf dem Mittelstreifen, was zu chaotischen Zuständen führen wird, denn Parkraum ist in diesem Bereich wie überall im Bezirk Mitte rar. Auf dem frei werdenden Areal soll ein neues Stadtquartier nach historischem Vorbild entstehen, ähnlich dem aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Mit der neuen Verkehrsführung wird außerdem eine Spur für die Straßenbahn geschaffen, die den Alexanderplatz über die Leipziger Straße mit dem Potsdamer Platz verbindet. Dazu soll ab 2022 die Mühlendammbrücke ersetzt werden.

Die Planungen zur menschenfreundlichen und neuen Wohnraum gewinnenden Bebauung ziehen sich schon ewig hin. Sie umfassen auch den Jüdenhof, der bereits archäologisch untersucht wurde, und nun mit Häusern besetzt werden soll, wie sie dort bis zur Zerstörung im Zweiten Weltkrieg gestanden haben. Bei der Grunerstraße war vor Jahren davon die Rede, dass der aus der Ulbrichtzeit stammende Autotunnel zugeschüttet wird. Bisher war dazu nichts Neues zu erfahren.

Leben in der alten Doppelstadt

Es hat lange gedauert, bis Ausgrabungen im historischen Zentrum in Angriff genommen werden konnten. Die Berliner hätten die Maßnahme den Behörden durch beharrliche Neugier regelrecht abgetrotzt, sagt Manfred Kühne, Abteilungsleiter Städtebau und Projekte in der Senatsbauverwaltung. Archäologisch ausgehungert, wie sie sind, hätten sie immer sehnsuchtsvoll den Grabungen zugeschaut, ob sie nun am Petriplatz, am Schloss, am Dominikanerkloster vor dem Staatsratsgebäude, an der Spandauer Straße, der Breiten Straße oder in der Nähe des Alexanderplatzes erfolgten, wo Reste eines Armenfriedhofs gefunden wurden. Immer wieder seien sie in Begeisterung verfallen und hätten nach mehr Informationen gefragt. Die Grabungen ergaben, dass die Stadt viel früher gegründet wurde als bis dahin angenommen. Vor ihrer erstmaligen Erwähnung in Urkunden aus den Jahren 1237 und 1244 hat es hier schon eine Siedlung gegeben.

Wie das Leben in der alten Doppelstadt Berlin-Kölln ausgesehen hat, soll anhand eines archäologischen Lehrpfades mit 25 Stationen geschildert werden. Matthias Wemhoff, seines Zeichens Berliner Landesarchäologe und Direktor des Museums für Vor- und Frühgeschichte der Staatlich en Museen zu Berlin, spricht von der letzten Chance, das Jahrhunderte alte Erbe Berlins dauerhaft ans Tageslicht zu holen. Denn wenn erst einmal die historischen Siedlungsgebiete überbaut sind, sei alles vernichtet. Die Sorge des Landesarchäologen ist nicht unbegründet, denn wenn am Molkenmarkt Tiefgaragen gebaut werden, ist das uralte Berlin, "final" vernichtet.

Wemhoff plädiert dafür, die Keller des im Zusammenhang mit dem Neubau des Roten Rathauses beseitigten Alten Berliner Rathauses sichtbar zu machen. Bei Ausgrabungen waren sie vor Jahren in gutem Zustand freigelegt worden, darunter auch mächtige Backsteinpfeiler, die ein Gewölbe trugen. Aus Chroniken ist bekannt, dass in der unterirdischen Halle Wein und Bier getrunken und verkauft wurde, während im Erdgeschoss Tuchhändler und Gewandschneider ihre Ware feil boten. Zur Zeit ist von den Gebäuderesten allerdings nichts zu sehen, sie wurden sicherheitshalber unter den für die U-Bahnstation hergerichteten Decken mit Sand verfüllt. Wenn das Archäologische Fenster entsteht, muss alles wieder freigelegt werden, aber für Matthias Wemhoff ist der Ort so wichtig, dass sich jede Mühe lohnt. "Wir wollen hier zeigen, dass Berlin eine lebendige Bürgerstadt war, bevor es unter die Herrschaft der Markgrafen von Brandenburg geriet."

Erstaunliche Funde auf dem Jüdenhof

Auf dem Großen Jüdenhof zwischen Alexanderplatz und Klosterstraße haben Archäologen erstaunliche Reste uralter Keller und Hausmauern freigelegt. Sie gehören zu einer Periode, als hier keine Juden ansässig waren, diese wurden zu Beginn des 16. Jahrhunderts vertrieben und durften sich erst im ausgehenden 17. Jahrhundert auf Einladung des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm, aus Wien kommend, in Berlin ansiedeln. Am Großen Jüdenhof, dessen Name nicht verändert wurde, lebten christliche Handwerker. Die Funde deuten auf Metallhandwerker und Leute hin, die im Textilgewerbe und als Gerber tätig waren. Die Ausgrabungen auf dem lange als Parkplatz genutzten Areal erfolgten im Zusammenhang mit Plänen zum Bau kleiner Wohn- und Geschäftshäuser. Das Landesdenkmalamt möchte die stadtgeschichtlich interessanten Spuren in die Neubauten einbeziehen. "Reste dieses bisher noch nie von Archäologen erforschten Viertels könnten in die Häuser integriert werden, die hier demnächst entstehen. Das würde das geschichtlich hochinteressante Areal spürbar aufwerten und seinen Bekanntheitsgrad verbessern", sagte vor einiger Zeit der bisherige Landeskonservator Jörg Haspel und sprach von einem schönen Brückenschlag von den ältesten Zeiten Berlins bis zur Gegenwart. Ähnliches sei mit den alten Mauern und Gewölben auf dem Petriplatz, an dem die Wiege Berlin stand, sowie auf dem Schlossplatz und vor dem Roten Rathaus beabsichtigt. Einige bei den Grabungen an allen diesen Orten entdeckten Keramiken, Metallgegenstände, Münzen und andere Hinterlassenschaften werden im Museum für Vor- und Frühgeschichte im Neuen Museum auf der Museumsinsel gezeigt.

Die Gesellschaft Historisches Berlin und weitere an der Historie und Baukultur der Stadt interessierte Vereine begrüßen prinzipiell die Pläne für den Molkenmarkt. "Nach über zwanzigjähriger Planungszeit wurde der Bebauungsplan für den Molkenmarkt und das Klosterviertel festgesetzt. Der Plan nimmt einen erkennbaren Bezug zu dem historischen Stadtgrundriss, verzichtet jedoch darauf, die ehemals geplante Kleinteiligkeit der Parzellen festzulegen. Aus politischer Sicht will man die Grundstücke nicht mehr an einzelne private Bauherren verkaufen, sondern je eine große Parzelle an zwei städtische Wohnungsbaugesellschaften und eine rückübertragene kleine Parzelle an einen privaten Bauherren vergeben. Mit dieser Maßnahme soll preisgünstiges Bauen ermöglicht werden."

Warnung vor traurig-tristen Straßen

Den städtischen Wohnungsbaugesellschaften sei auferlegt worden, ein Nutzungskonzept mit mindestens 50 Prozent bezahlbaren Wohnungen zu erstellen. So weit, so gut, heißt es in der Stellungnahme, die deutliche Kritik an der Ausformung der Bauten nimmt. "Konformistische Bauherren und angepasste Architekten sollen das neue Stadtquartier am Gründungsort Berlins planen.Die Senatorin für Stadtentwicklung glaubt, allein mit dem Bezug zum historischen Stadtgrundriss und mit dem Namen Klosterviertel Urbanität und Zukunftsfähigkeit herstellen zu können. Der Gedanke, zwei städtische Wohnungsbaugesellschaften ein Stadtquartier entwickeln zu lassen, erinnert an die von Planern angepriesenen neuen Stadtquartiere hinter den Bahnhöfen von Frankfurt am Main, Stuttgart und Quartiere in Berlin, wie z. B. die Planung der WBM an der Rathenower Straße in Moabit." Wenn man die gut gemeinten Bemühen um "bezahlbaren Wohnraum" genauer anschaut, packe einen kaltes Grausen. Man fühle sich an renovierte Nachkriegsbauten mit Wärmedämmputz ummantelt und mit Stahlbalkonen versehen erinnert, "die an das billigste Kellerregal erinnern. Entwürfe ohne Sockelgeschosse, ohne attraktive Grünflächengestaltung! Ewiggestrige Ideologen bestimmen die Stadtbaupolitik. Bisherige Planungen der städtischen Wohnungsbaugesellschaften für Stadtquartiere weisen darauf hin, dass traurig-triste Straßen, denen jede Anmut und Aufenthaltsqualität fehlt, geplant werden. Dabei sind die Außenwände der Häuser die Innenwände des öffentlichen Straßenraumes. Um Urbanität und Zukunftsfähigkeit herzustellen, wären sowohl eine kleinteilige Parzellenstruktur für den Bau von Stadt- bzw. kleineren Bürgerhäusern, mehrere Bauherren, private wie genossenschaftliche, als auch vielfältige Konzepte unterschiedlicher Architekten in Zusammenarbeit mit städtischen Wohnungsbaugesellschaften notwendig."

Nun darf man gespannt sein, ob und wie diese von Kennern angebrachte Kritik aufgenommen und berücksichtigt wird. Wer allerdings die Berliner Bauszene kennt, muss vom Schlimmsten ausgehen und sich auf lange Realisierungsfristen einstellen.

3. März 2019 Zurück zur Themenübersicht "Berlin, Potsdam, Land Brandenburg"