Der Stoff, aus dem die Träume sind
Was in der DDR von dem Slogan "Chemie gibt Brot, Wohlstand und Schönheit" zu halten war







Da konnte die Propaganda die Lage noch so schön und optimistisch verklären, das von der SED verkündete Chemieprogramm war mit schweren Risiken behaftet. Erst nach der Wiedervereinigung konnte daran gegangen werden, mit einem Milliardenaufwand die Schäden an Menschen und der Natur zu beheben.



Die Segnungen des Chemieprogramms in der DDR werden auf einem Mosaik am Haus des Lehrers unweit des Alexanderplatzes gefeiert.





Das DDR-Museum in der Kulturbrauerei dokumentiert Licht und Schatten des Alltags im zweiten deutschen Staat. (Fotos/Repro: Caspar)

"Chemie gibt Brot, Wohlstand und Schönheit" war ein seinerzeit viel skandierter Spruch mit Vergiftungskraft. Solange die DDR existierte, besaß der Bezirk Halle, heute Teil von Sachsen-Anhalt, als Chemiebezirk einen denkbar schlechten Ruf. Vor allem in Bitterfeld und Leuna roch es nach Chemie, der Himmel war in der Regel grau von den Ausdünstungen der Chemiebetriebe, und der Krankenstand der Bewohner war hoch. Riesige Summen wurden nach der Wiedervereinigung investiert, um die Folgen der so genannten Chemisierung zu beseitigen und menschen- und umweltverträgliche Zustände wiederherzustellen.

Der seit den späten 1950-er Jahren in der DDR propagierte Slogan war Ausdruck ungebremster Fortschrittsgläubigkeit und der Überzeugung, dass der Mensch, ausgestattet mit der richtigen Ideologie, alles kann und alles darf. Diesen Standpunkt gab es, an dortige Verhältnisse angepasst, auch im Westen, wo es ebenfalls in den Chemiestandorten übel roch und die Umwelt stark belastet war. Doch vermochten es Umweltgruppen und Bürgerinitiativen in der Bundesrepublik, die schlimmsten Auswüchse zu stoppen und sich in den Medien Gehör zu verschaffen, was in der DDR ein Ding der Unmöglichkeit war.

Nach dem Volksaufstand am 17. Juni 1953 setzten die SED-Führung und mit ihr die Regierung auf eine verstärkte Konsumgüterproduktion. Auf dem V. SED-Parteitag 1958 wurde nach sowjetischem Vorbild ein gigantisches Chemieprogramm ausgerufen. Bis 1965 sollte im Rahmen des Siebenjahresplans die Chemieproduktion verdoppelt werden. Zu diesem Zweck wurden die traditionsreichen Standorte Leuna und Buna massiv ausgebaut und neue Werke in Schwedt an der Oder und an anderen Orten errichtet. Da die DDR keine eigene Erdölvorkommen besaß, erhielt sie das "flüssige Gold" aus der Sowjetunion und lieferte dorthin Fertigprodukte. Der Aufbau der Petrolchemie folgte einem internationalen Trend, die DDR wollte mit ihren Chemieprodukten den steigenden Bedarf an Konsumgütern, Textilien, Düngemitteln, Kraftstoffen usw. befriedigen, mit ihren Angeboten aber auch auf dem Weltmarkt konkurrieren.

Kein Wunder, dass Chemieerzeugnisse einen großen Stellenwert bei den Präsentationen auf der Leipziger Messe besaßen und in der von der Partei gelenkten Presse eine hervorragende Rolle spielten. Obwohl der damalige SED-Chef Walter Ulbricht über die Erfolge der Chemisierung regelmäßig ins Schwärmen geriet, blieben die Ergebnisse der Kampagne hinter den Erwartungen zurück. Synthetische Textilfasern etwa kamen an die Eigenschaften der natürlichen Fasern nicht heran, und daraus erzeugte Kleidung wurde ungern gekauft.

Die Kleidungsstücke aus synthetischem "Präsent 20" brachten nicht den Erfolg, den man sich von der zu Ehren des 20. Jahrestages der DDR 1969 entwickelten Chemiefaser erhofft hatte. Als "Stoff, aus dem die Träume sind" angepriesen, machte das Material aus 100 Prozent Polyester dem westdeutschen Trevira Konkurrenz. Die aus Präsent 20 bestehende Kleidung war knitterfrei, pflegeleicht und strapazierfähig und eignete sich auch für Vorhänge, Stuhlbezüge und Tischdecken. Allerdings regte sich schon bald Kritik, denn die Kleidungsstücke luden sich elektrostatisch auf und "umflossen" nicht elegant den Körper. Wer Präsent 20 trug, kam schnell ins Schwitzen, weshalb bereits 1974 die Produktion der als "Weltspitzenerzeugnis" hochgejubelten Faser eingestellt. Verschwiegen wurde, dass die zur Erzeugung von Präsent 20 teuer importierten Großrundstrickmaschinen aus der Bundesrepublik importiert worden waren. Die Herstellung vieler anderer Produkte aus Kunststoff erwies sich als viel zu aufwändig und zu teuer.

Was sich bei der Zerstörung der Umwelt sowie der Vergiftung von Luft, Boden und Wasser abspielte, nahm man offiziell nicht zur Kenntnis. Wer sich im Umweltschutz nicht regierungskonform verhielt, geriet in den Blick der Stasi, die die inoffiziellen Umweltgruppen unterwanderte und mit ihren Spitzeln durchsetzte. Die schweren Schädigungen von Gesundheit und Umwelt abzustellen und eine Umkehr herbeizuführen, war einer von vielen Gründen, weshalb im Herbst 1989 in der DDR hunderttausende Menschen auf die Straße gingen.

30. Januar 2019

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