"Anmut sparet nicht noch Mühe…"
Bertold Brecht dichtete die Kinderhymne als Gegenentwurf zur dritten Strophe des Deutschlandlieds



Johannes R. Becher wurde im November 1949 zu einer Zusammenkunft beim DDR-Präsidenten Wilhelm Pieck über die neue Nationalhymne eingeladen. Das von Fritz Cremer geschaffene Denkmal des Dichters seit 1960 im Bürgerpark in Berlin-Pankow.



Der Schlüsselsatz in der Becher-Hymne, in den frühen 1950er Jahren auch in der Propaganda verwendet, wurde während der Honecker-Ära nicht mehr geduldet.



Auf einer schlichten Bank, unweit seiner einstigen Wirkungsstätte, dem Berliner Ensemble, hat Bertolt Brecht Platz genommen. Lächelnd schaut der Dichter geradeaus, die Hände entspannt in den Schoß gelegt, als beobachte er das Geschehen auf einer Probebühne. Gestalter der Anlage sind der Bildhauer Fritz Cremer und der Architekt Peter Flierl. Das bronzene Brechtdenkmal wurde am 10. Februar 1988, dem 90. Geburtstag des Dichters, eingeweiht. (Foto/Repros: Caspar)

Im Gegensatz zur französischen Marseillaise brauchte das Deutschlandlied mit der Anfangszeile "Deutschland, Deutschland über alles" Jahrzehnte, bis es sich bei uns als Nationalhymne durchgesetzt hat. Von Heinrich Hoffmann von Fallersleben im Jahr 1841 bei einem Besuch auf der Insel Helgoland als Trinklied gedichtet und mit einer von Joseph Haydn komponierten Melodie gesungen, die zur österreichischen Kaiserhymne "Gott erhalte Franz den Kaiser" wurde, konkurrierte das Deutschlandlied in der Zeit der Monarchie mit der deutschen Kaiserhymne "Heil dir im Siegerkranz". Nach der Errichtung der Republik 1918 avancierte Hoffmann von Fallerslebens Lied durch Verfügung des Reichspräsidenten Friedrich Ebert zur Nationalhymne. In der Nazizeit mit dem Horst-Wessel-Lied mit der Anfangszeile "Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen" kombiniert, wurde das Deutschlandlied 1945 von den alliierten Siegermächten verboten. Auf Betreiben des damaligen Bundespräsidenten Theodor Heuss und von Bundeskanzler Konrad Adenauer erfolgte die Zulassung als Nationalhymne der Bundesrepublik Deutschland, wobei man aus guten Gründen nur noch die dritte Strophe mit der Anfangszeile "Recht und Freiheit über alles" sang und singt.

Die inoffiziell auch "Ruinenwalzer" genannte DDR-Hymne mit der Anfangszeile "Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt" wurde zum erstenmal in Berlin am 6. November 1949 anlässlich einer Festveranstaltung zum 32. Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution gesungen und soll vom Publikum ergriffen und begeistert aufgenommen worden sein. Der vom SED-Politibüro genehmigte Text des Dichters Johannes R. Becher kennzeichnete treffend die Aufbruchstimmung nach dem Zweiten Weltkrieg. Aber schon der nächste Satz "Lasst und dir zum Guten dienen, Deutschland einig Vaterland" war zumindest angesichts der Abgrenzungspolitik in der Honecker-Ära zwischen 1971 und 1989 politisch inopportun, weshalb die DDR-Hymne nicht mehr gesungen, sondern nur noch vom Orchester gespielt werden durfte.

Erst gefeiert, dann verboten

Johannes R. Becher, der in seinem Moskauer Exil während der Nazizeit zahlreiche Deutschland-Dichtungen verfasst hatte, schrieb für die spätere DDR-Hymne verschiedene Textentwürfe. Sie sollte nach eigenem Bekunden von jeder Gemüsefrau verstanden werden. Übrigens war zunächst der Komponist Otmar Gerster beauftragt, die neue Landeshymne zu vertonen, und er tat es auch. Doch dann traf Becher in Warschau Hanns Eisler, der auf einem Chopin-Flügel spontan eine Melodie vortrug, die dem Dichter gefiel. In Ost-Berlin fand später in Anwesenheit von SED- und FDJ-Funktionären ein Wettstreit zwischen beiden Komponisten statt, aus dem Eisler siegreich hervor ging, während man bei Gersters choralähnlicher Vertonung hymnisches Pathos vermisste und sie ad acta legte. Becher und Eisler wurden für ihr gemeinsames Werk 1950 mit dem Nationalpreis, der höchsten DDR-Auszeichnung für Künstler und Wissenschaftler ausgezeichnet. In der Bundesrepublik wurde im Rahmen einer Kampagne gegen die DDR-Hymne behauptet, Eisler habe die ersten Noten des Songs von Peter Kreuder "Good bye, Jonny!" plagiiert, den der Schauspieler Hans Albers in dem Film "Wasser für Canitoga" sang. Der Streit verlief im Sande. 1989/90 wurde die entscheidende Zeile "Deutschland einig Vaterland" von Bürgerrechtlern skandiert und alsbald Realität.

Bei zahlreichen nationalen und internationalen Sportereignissen sowie anderen offiziellen Gelegenheiten war nach der Ablösung von Walter Ulbricht als Partei- und Staatschef ohne jenen von der DDR-Führung als nicht mehr zeitgemäß empfundenen Text zu hören. Angesichts der von Erich Honecker praktizierten Abgrenzungspolitik konnte man unmöglich die Vision von "Deutschland einig Vaterland" singen. Einen neuen Wortlaut in Auftrag zu geben oder eine ganz neue, den veränderten Gegebenheiten Rechnung tragende Hymne schaffen zu lassen, hat sich das Honecker-Regime offenbar nicht getraut.

Verzicht auf neue Verfassung

Nach dem Ende der DDR wurde heftig darüber diskutiert, was von dieser ins vereinte Deutschland übernommen werden und was im Orkus der Geschichte verschwinden sollte. Einig waren sich die meisten Ostdeutschen, dass die Einparteienherrschaft der SED und der Stasi-Terror dorthin gehört, aber ob denn auch die Volkseigenen Betriebe von der Treuhandanstalt abgewickelt und auch Polikliniken, Kindergärten, berufsbildende und manch andere Einrichtungen von der Bildfläche verschwinden sollen, weil es diese so oder in anderer Form im Westen nicht gab, ist ein bis heute diskutiertes Thema.

Kategorisch lehnte Bundeskanzler Helmut Kohl, der den Ostdeutschen "Blühende Landschaften" versprochen hatte, den Ersatz des Grundgesetzes durch eine neue gesamtdeutsche Verfassung ab. Im Artikel 146 des Grundgesetzes von 1949 ist festgeschrieben: "Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist." Als in der Endphase der DDR über eine gemeinsame Hymne diskutiert wurde, ließen sich der CDU-Politiker und sein Anhang nicht erweichen. Ins Gespräch wurde die von Bertolt Brecht im Jahr 1950 verfasste und von Hanns Eisler komponierte "Kinderhymne" gebracht. Der Text lautet so: "Anmut sparet nicht noch Mühe, / Leidenschaft nicht noch Verstand, / dass ein gutes Deutschland blühe, / wie ein andres gutes Land. // Dass die Völker nicht erbleichen / wie vor einer Räuberin, / sondern ihre Hände reichen / uns wie andern Völkern hin. // Und nicht über und nicht unter / andern Völkern wolln wir sein, / von der See bis zu den Alpen, / von der Oder bis zum Rhein. // Und weil wir dies Land verbessern, / lieben und beschirmen wir's./ Und das liebste mag's uns scheinen / so wie andern Völkern ihrs." Bei den SED-Oberen kam das Lied nicht gut an, populär wurde es nicht.

Von der Oder bis zum Rhein

Dass Brecht als Eingangswort die "Anmut" wählte, also eine Kategorie aus dem Bereich der Ästhetik, der Schönheit und des Ebenmaßes, ist ungewöhnlich in einer Zeit, als kräftiges Zupacken statt Grazie, Überwindung von Zorn, Erbitterung, Angst, Trauer und Traumata gefragt waren. Vielleicht meinte er auch, den Deutschen möge es nicht "an Mut" bei der Bewältigung der Folgen des Naziregimes und des Zweiten fehlen. Brechts Gedicht erschien erstmals im Heft 6/1950 der Zeitschrift "Sinn und Form" und trug zunächst den Titel Hymne/Festlied. Gedacht war es als Antwort auf eine Initiative von Bundeskanzler Konrad Adenauer, der am 15. April 1950 auf einer öffentlichen Versammlung in Westberlin demonstrativ die dritte Strophe des von Heinrich Hoffmann von Fallersleben verfassten Deutschlandlieds singen ließ. Seine später so genannte Kinderhymne schrieb Brecht bewusst als Gegenentwurf zum Deutschlandlied, das seiner Meinung nach durch den Ersten Weltkrieg und den Nationalsozialismus korrumpiert war. In seiner dritten Strophe spielte Brecht auf dieses an, als er schrieb "Und nicht über / und nicht unter / andern Völkern wolln wir sein", während es im Deutschlandlied heißt: "Deutschland, Deutschland über alles / über alles in der Welt". Bei Brecht wird der Geltungsbereich mit "Von der See bis zu den Alpen / Von der Oder bis zum Rhein" beschrieben, während es im Deutschlandlied "Von der Maas bis an die Memel / Von der Etsch bis an den Belt" heißt.

Wenn man je zwei der vier Strophen der Kinderhymne zusammenfassen würde, entspräche ihr Versmaß exakt dem des Deutschlandliedes und nahezu dem der von Johannes R. Becher verfassten Nationalhymne der DDR, die in der Honecker-Ära ab 1971 wegen der Zeile "dass die Sonne schön wie nie über Deutschland scheint" nicht mehr gesungen, sondern nur noch von einem Orchester intoniert werden durfte. Alle drei Texte können mit einer kleinen Abweichung am Ende der DDR-Hymne auch auf die Melodien der jeweils anderen gesungen werden. Das war ein Argument für diejenigen, die weder die DDR-Hymne noch die 3. Strophe des Deutschlandlieds hören wollten und als Alternative Brechts Kinderhymne ins Spiel brachten. Wie wir wissen, haben alle Initiativen nichts genutzt. Die Kinderhymne ist jedoch auch ein Gegenstück zu Johannes R. Bechers Text der Nationalhymne der DDR, die im Auftrag der SED im Oktober 1949 entstanden und von der Parteiführung gebilligt worden war. Brechts Text stellt - trotz einiger inhaltlicher Bezugnahmen - den pathetischen Formulierungen Bechers eine einfache, wenn auch präzise gewählte Diktion gegenüber.

27. August 2019

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