Als vor rund 125 Jahren die ersten kinematographischen Aufnahmen gemacht wurden und die Bilder laufen lernten, ahnte niemand, welchen Siegeszug der Film binnen weniger Jahre antreten würde. Nach 1900 hatte das neue, noch mit manchen Kinderkrankheiten behaftete Medium bereits die größeren Städte erobert, war aber auch auf dem Land in Wanderkinos präsent. Das Themenspektrum der anfangs nur wenige Minuten langen, aber zu größeren Einheiten zusammengeschnittenen Schwarz-Weiß-Filme war breit gefächert. Herz und Schmerz, Satiren, Komödien und Tragödien, Historienschinken und Themen aus der Bibel, vor allem aber Schmonzetten mit prügelnden und immerzu auf die Nase fallenden Akteuren fanden viel Beifall. Hinzu kamen Militärspektakel sowie Stücke aus der Welt des Großstadtproletariats, aber auch solche aus den Villen besserer Stände, denn die Zuschauer wollten sehen, dass dort auch nur Menschen mit all ihren zwischen Glück und Tragik schwankenden Problemen leben, freilich auf höherem Niveau als sie selber. Nicht zu vergessen sind Aktualitäten und Kuriositäten aller Art, denn der Hunger nach Neuigkeiten und laufenden Bildern von Menschen, Tieren und Sensationen aus fernen Ländern war immens. Beliebt waren Abenteuersujets wie Gangster- und Detektivgeschichten, halsbrecherische Fluchten über Brücken und Hausdächer. Es gab sogar schon Verfilmungen literarischer Stoffe und die Schau in die Zukunft in Anlehnung an die damals beliebten Romane von Jules Verne mit Reisen zum Mond und durch die Tiefen der Meere. Schon frühzeitig wurden Werbefilme produziert, und es gab erste Versuche, farbige Streifen herzustellen.
Selbstverständlich nahm sich die Presse sehr früh des Themas Film an, und es erschienen die ersten kinematographischen Zeitschriften. Das Anschwellen von Kinofilmen aller Art rief die Ordnungsmächte auf den Plan. Und so wurde 1906 vom Berliner Polizeipräsidenten angeordnet, die "Films", wie man damals sagte, einer Vorzensur zu unterziehen und politisch missliebige oder die "Sittlichkeit" gefährdende Arbeiten zu verbieten. Im Ersten Weltkrieg mischten sich unter die häufig in plüschigen Kulissen zelebrierten Kammerspiele Reportagen von den Kriegsschauplätzen, die aber von der Militärzensur freigegeben werden mussten. Schilderungen von zerfetzten Soldatenleibern und verbrannter Erde waren verboten, um die allgemeine Missstimmung an der Heimatfront nicht noch weiter anzuheizen. Dafür sah man umso öfter Kaiser Wilhelm II. in Begleitung seiner Generale bei Paraden und Ordensverleihungen und seine Gemahlin Auguste Viktoria als treusorgende Landesmutter beim Besuch von Verwundeten.
Warten auf sonniges Kaiserwetter
Dass das Kino in der Kaiserzeit einen unvergleichlichen Siegeszug antreten konnte, hatte sicher etwas mit der Vorliebe des ersten Mannes im Staate für Fotografien und "lebendige Bilder" zu tun - Wilhelm II. Wo der deutsche Kaiser und König von Preußen stand oder saß, waren Hoffotografen und bald auch die ersten Kameramänner mit ihren Kurbelkisten nicht weit. Am besten gerieten die Aufnahmen bei Kaiserwetter, also bei prächtigem Sonnenschein. Bereits für das Jahr 1895 ist ein gefilmter Auftritt Seiner Majestät durch eine Beschreibung überliefert. Ein Kinematograph hatte den Monarchen bei der Eröffnung des Kaiser-Wilhelm-Kanals aufgenommen. An einem Regiment Soldaten bewege sich "etwas" nach vorn und erweise sich alsbald als die "vertraute Gestalt des Kaisers", berichtete die Presse über die Aufnahmen, die wie viele andere verloren gingen und nur noch durch Beschreibungen bekannt sind. Ungeachtet genauer Festlegungen konnte es bei solchen Auftritten geschehen, dass jemand ins Blickfeld der Kamera lief, weshalb der spannendste Moment, etwa wenn auf einen Wink des Kaisers die Hüllen eines Denkmals fielen oder der Monarch aus seiner Kalesche grüßte, missriet. Ebenso waren voller Begeisterung geschwenkte Hüte ein Feind der Kameraleute, die mit schwerer Aufnahmetechnik hantieren und bangen mussten, dass im entscheidenden Moment die Sonne hinter den Wolken verschwindet oder es anfängt zu regnen.
Für Leute vom Film war es zunächst nicht einfach, an höfischen Haupt- und Staatsaktionen teilzunehmen. Die Beamten, welche die dafür erforderliche Erlaubnis erteilten, konnten mit der "Jahrmarktsangelegenheit" nichts anfangen und hielten sich zudringliche Vertreter der neuen Kunst vom Lebe. Diese Ablehnung bekam ein Pionier des Kinos, Oskar Messter zu spüren, als er 1897 mit seinem Gesuch, die Feierlichkeiten zum einhundertsten Geburtstag Kaiser Wilhelms I. mit seiner Filmkamera ablichten zu dürfen, von Pontius zu Pilatus geschickt wurde. Messter ließ nicht locker, es gelang ihm, den immer an technischen Neuerungen interessierten Kaiser für sein Anliegen zu interessieren. Wilhelm II. sah sich zum erstenmal selbst, war begeistert und sorgte dafür, dass man Messter einen Offizier als Begleitung und Türöffner an die Seite stellte. "Sie müssen einen Start mehrerer großer Kreuzer aufnehmen, das muss ein herrliches Bild abgeben", trug der prestigesüchtige Kaiser dem Filmemacher auf. Wilhelm II. hatte erkannt, was in dem neuen Medium steckt, und so wurde Messter sein wichtigster Kameramann. Zunehmend nutzte der Monarch die Kinematographie für seine Selbstdarstellung und bestimmte auch die abzulichtenden Themen - Grundsteinlegungen, Paraden, Denkmalweihen, Empfänge von Staatsgästen, nicht zu vergessen Aufnahmen von der Familie sowie die Auslandsaufenthalte und Schifffahrten, die er unternahm.
Brausende Orgeltöne und knallende Pistolenschüsse
In den zwanziger Jahren gab es große Anstrengungen, aus dem Stummfilm einen Tonfilm zu machen. Der Ende 1925 vorgestellte erste Ufa-Tonfilm "Das Mädchen mit den Schwefelhölzern" erwies sich als akustischer Misserfolg, der Durchbruch gelang im Oktober 1927 in den USA, die auf dem Gebiet der Filmkunst eine Vorreiterrolle spielten, mit "The Jazzsinger". Mit "Melodie des Herzens" schaffte die Ufa im Dezember 1929 den Anschluss. Für einige auf "stumm" getrimmte Filmgrößen war die Novität eine Katastrophe, weil ihre Stimmen offenbar nicht die Kraft hatten, die man von ihnen erwartete. Anderen Mimen, die gut singen und sprechen konnten, standen glänzende Zeiten bevor.
Anfangs schauten Vertreter der Hochkulturen abfällig auf das herab, was "der Kino" den Zuschauern bot. Bessere Stände sahen in den zittrigen Szenen mit 18 Bildern pro Sekunde statt 24 Bilder heute billige, zum alsbaldigen Verbrauch bestimmte Ware. Viele frühe Streifen verschwanden ebenso schnell von der Bildfläche wie sie gekommen waren. Filmhistoriker bedauern die Verluste und versuchen, noch vorhandene Fragmente zu rekonstruieren und zu komplettieren. Zu sehen waren die Filme zunächst in so genannten Flohkinos, also in billigen Etablissements gelegentlich mit Insektenbefall, die dafür aber im Winter warm und in den Wohnvierteln der "kleinen Leute" gelegen waren. Viel Komfort konnten die Betreiber bei den geringen Eintrittsgeldern nicht bieten. Ein geräuschvoll arbeitender Projektor übertrug die flackernden, sich aber immerhin bewegenden Schwarz-Weiß-Bilder auf eine weiße Fläche. Die Aussicht, mehrere dieser Kurzfilme nacheinander sehen zu können, genügte, um das Publikum anzulocken. Inhaltliche und gestalterische Aspekte hatten nachrangige Bedeutung.
Da die Filme anfangs stumm waren, weil man keine Möglichkeit hatte, sie akustisch zu untermalen, es sei denn, man spielte parallel Schallplatten ab, was aber Schwierigkeiten mit der Synchronisation mit sich brachte, traten Kinoerklärer auf, außerdem wurden kurze Texte zum besseren Verständnis der Handlung eingeblendet. Wichtig war die Begleitmusik, die je nach Art und Dramatik des Geschehens anschwoll oder sich in lyrischen Sphären bewegte. In der Regel wurde auf dem Klavier gespielt, doch standen in größeren Häusern veritable Kinoorgeln zur Verfügung, mit denen man Geräusche vom Donnergrollen und Sturmgebraus über das Türenknarren und bis zu knallenden Pistolenschüssen imitieren konnte.
Eine solche Filmorgel ist im Berliner Traditionskino BABYLON am Rosa-Luxemburg-Platz erhalten und wird intoniert, wenn Stummfilme, darunter auch solche in Woltersdorf gedrehte Streifen, vorgeführt werden, natürlich nicht mehr die fragilen Originale, die in kühl gehaltenen Depots verwahrt werden, sondern halt- und strapazierbare Kopien. Ein solches Archiv befindet sich am Fehrbelliner Platz in Berlin. Es entstand aus dem Zusammenschluss des Staatlichen Filmarchivs der DDR und der Filmbestände des Bundesarchivs in Koblenz. Die kinematographischen Kostbarkeiten werden technisch bearbeitet, restauriert und umkopiert und stehen so für die Forschung und zur Verwendung in den Medien, vor allem im Fernsehen, zur Verfügung.
Berühmte Mimen im Blick der Öffentlichkeit
Binnen weniger Jahre hatte sich im Deutschen Reich und in anderen Ländern das Kino zur veritablen Massenkultur entwickelt. Jetzt wurden prächtige Filmpaläste mit viel Marmor, Stuck und Samt gebaut, in denen sich wie bei Theater- und Opernpremieren gut zahlende Besucher versammelten, um von teuren Logen aus die neuesten Filme und ihre Darsteller zu bestaunen. Der erste deutsche Kinoneubau wurde 1910 am Berliner Nollendorfplatz eröffnet. Eine Statistik aus diesem Jahr spricht von tausend Lichtspielstätten in Deutschland mit durchschnittlich 200 Plätzen. Üblich war es, das Programm mehrfach in der Woche zu wechseln. Das erhöhte die Anziehungskraft der Kinos beträchtlich und steigerte die Einnahmen der Filmfirmen und Kinobetreiber.
Das in den Anfangsjahren als Eintagsfliege verlachte Medium wurde aufgewertet, als sich bekannte Mimen wie Lil Dagover, Mia May, Pola Negri, Asta Nielsen und Henny Porten, Harro Piel, Conrad Veidt und Paul Wegener sowie großartige Regisseure wie Fritz Lang, Ernst Lubitsch, Joe May und Robert Wiene, um nur einige bekannte deutsche Filmkünstler zu nennen, seiner annahmen und die nacheinander gezeigten Episoden von wenigen Minuten Länge und unterschiedlicher Thematik durch aufsehenerregende Spielfilme mit einer Dauer von einer Stunde und mehr ersetzt wurden. Das Publikum interessierte sich schon damals dafür, was die Filmstars taten und wie sie lebten, und diese Neugier wurde von illustrierten Zeitschriften und Boulevardblättern in reichem Maße befriedigt. Die deutsche Filmgeschichte verzeichnet für das Jahr 1910 mit dem 45-Minuten-Film "Abgründe" den ersten programmfüllenden Streifen, drei Jahre später, als man im Deutschen Reich bereits 2400 Kinos zählte, wurde mit "Der Andere" der erste Autorenfilm vorgeführt, und 1914 kam mit der Messter-Woche die erste Wochenschau ins Programm.
Tricks, Kniffe und gemalte Kulissen
Gedreht wurde anfangs in Ateliers mit feststehenden Kameras, was den Aufnahmen den Anstrich von gefilmtem Theater gab. Nach und nach traten zu diesen Kammerspielen, in denen Streit zwischen Mann und Frau sowie Herrin und Dienerin, rührselige Liebesstücke, aber auch Mord und Todschlag vorherrschten, Außenaufnahmen und Straßenszenen hinzu. Die Kinofilme gewannen an Tempo und Spannung, als man nicht nur die Akteure in Bewegung setzte, sondern sie bei wilden Verfolgungsjagden und waghalsigen Stunts mit beweglichen Kameras begleitete. Dass da mit vielen Tricks und Kniffen, oft auch nur mit gemalten Kulissen im Hintergrund gearbeitet wurde, sieht man den hundert Jahre alten Stummfilmen an, aber das macht ja ihren besonderen Charme aus.
Dass die im Film steckenden Potenziale noch lange nicht ausgeschöpft sind, dass er unbedingt sein etwas verruchtes, kindisches Image ablegen muss, wurde vor über hundert Jahren in Tages- und Kinozeitungen ausführlich erörtert. Die 1883 von Emil Rathenau gegründete Deutsche Edison-Gesellschaft, welche die Patente des Thomas Alva Edison besaß, erklärte 1907: "Wir lassen unser Gehirn fortwährend arbeiten, um unsere Films zu verbessern, trotz der Tatsache, dass sie bereits die besten sind. Wir verlangen Films mit Geist darin, Films, die Bedeutung haben, voller Leben, originell, unique und der Menge gefällig, jene Sorte, welche das warme rote Blut durch die Adern der Zuschauer jagt". Der österreichische Schriftsteller Hugo von Hoffmannsthal erkannte, dass die Leute im Kino Ersatz für Träume suchen. "Sie wollen ihre Phantasie mit Bildern füllen, starken Bildern, in denen sich Lebensessenz zusammenfasst; die gleichsam aus dem Inneren des Schauenden gebildet sind und ihm an die Nieren gehen [...]. Der vollgepfropfte halbdunkle Raum mit den vorbeiflirrenden Bildern ist mir, ich kann es nicht anders sagen, beinahe ehrwürdig als die Stätte, wo die Seelen in einem dunklen Selbsterhaltungsdrange hinflüchten, von der Ziffer zur Vision".
21. Januar 2019
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