Tag der Freude und der Trauer
Was den 9. Oktober 1989 und den 9. Oktober 2019 verbindet und was dem Mordanschlag von Halle unbedingt folgen muss



Überall in der "Heldenstadt Leipzig" wird auf Stelen und Tafeln an Hauswänden an die friedliche Revolution vor 30 Jahren in Bild und Schrift erinnert.







Da die Fotos von Massenaufmärschen nicht geheim blieben, konnte sich die DDR-Führung nicht damit retten, es seien nur einzelne Krawallmacher und Rowdys unterwegs. Die Orte der friedlichen Revolution 1989 in Leipzig sind auf dieser Tafel vermerkt.





Eine Säule aus der Nikolaikirche und eine Tafel im Boden davor weisen darauf hin, dass die Friedensgebete und Montagsdemonstrationen von diesem Gotteshaus im Herzen der Messestadt ausgingen. Ungeachtet massiver Gegenmaßnahmen und massenhafter Verhaftungen konnten Polizei und Stasi den friedlichen Protest unter dem Dach der Kirche nicht unterbinden.



In der Stasizentrale an der "Runden Ecke" hatte man sich auf einen bewaffneten Kampf gegen die Demonstranten eingestellt, doch verzichtete die DDR-Führung auf den Schießbefehl. In dem Haus am Dittrichring ist heute eine Ausstellung über den hier von 1950 bis 1989 residierenden Geheimdienst und seine Machenschaften zu sehen.



Am Dresdner Hauptbahnhof wollten am 3. Oktober 1989 und danach ausreisewillige DDR-Bewohner in die von Prag über die DDR in den Westen fahrenden Züge der Reichsbahn steigen, was aber von schwer bewaffneter Polizei und der Stasi verhindert wurde. Die Bilanz waren auf beiden Seiten zahlreiche Verletzungen und 1300 Verhaftungen. Von der von ganz oben befohlenen Festtagsstimmung konnte unter diesen Umständen nicht die Rede sein. Zu Friedensgebeten kamen unzählige Dresdner in die Kirchen und versammelten sich anschließend zu Umzügen durch die Stadt.



Der Jubel der Botschaftsflüchtlinge war unbeschreiblich, als sie nach einer Zeit des Wartens und Bangens endlich den Westen ereichten. (Fotos/Repros: Caspar)

Während in Halle an der Saale der Rassist und bekennender Holocaust-Leugner Stephan B. mordete, fand im Leipziger Gewandhaus zum 30. Jahrestag der überwältigenden Protestaktion vom 9. Oktober 1989 in der Messestadt mit 70 000 Demonstranten eine Feierstunde statt. In Leipzig wurde an den Protestzug von 70 000 Demonstranten vor 30 Jahren erinnert. Zuvor waren am 7. Oktober 1989, als in Ostberlin prunkvoll der 70. Jahrestag der DDR gefeiert wurde, im vogtländischen Plauen 20 000 Menschen auf die Straße gegangen, was in der Berichterstattung aber wenig beachtet wurde. Zeitgleich zu den Gedenkfeiern in der Leipziger Nikolaikirche und im Gewandhaus hatte der Rechtsradikale, Rassist und Neonazi Stephan B. die Synagoge im Paulusviertel zu Halle mit Waffengewalt angegriffen und anschließend zwei unbeteiligte Menschen erschossen und zwei weitere verletzt. Ihm war es nicht gelungen, in das Gotteshaus einzudringen und die Gläubigen zu ermorden, die sich dort anlässlich des Versöhnungsfestes Jom Kippur versammelt hatten. Nach einer Verfolgungsfahrt konnte die Polizei ihn festnehmen, inzwischen hat der Generalbundesanwalt das Verfahren an sich gezogen und den als Terroristen eingestuften Täter in Haft genommen.

Die Synagoge war unbewacht. Nur weil es fest verschlossen war und sich die Leute darin verbarrikadiert hatten, konnte B. nicht eindringen. Er wird als Einzeltäter beschrieben, doch wird nach Unterstützern gefahndet, und es wird auch untersucht, wie er an die Waffen und den Sprengstoff gelangte, die man bei ihm gefunden hat. Der 27jährige Stephan B. hat das Verbrechen mit einer Helmkamera gefilmt und die Aufnahmen und ein in englischer Sprache verfasstes "Manifest" ins Internet gestellt, das seine rassistischen und fremdenfeindlichen Motive beschreibt. Dass die Synagoge ohne polizeilichen Schutz war, wird von allen Seiten kritisiert und fordert deutschlandweit zu entschiedenen Maßnahmen, die von den Behörden nun veranlasst werden. Das Argument der Hallenser Polizeiführung, es sei ja seit Jahren nichts passiert, kann nicht gelten. Dass Polizeiwagen und Streifen vor gefährdeten Objekten die Sicherheit von Juden und ihren Einrichtungen erhöhen und die aufgeheizte Stimmung in rechtsextremen, rassistischen und terroristischen Kreisen dämpfen, ist gut, bringt aber nur partiell Erleichterung. Da muss weitaus mehr getan werden, da muss ein Mentalitätswandel her, da muss in den Familien, Schulen, am Arbeitsplatz, in der Kneipe, in den Medien, Parlamenten der Justiz aufgeklärt und gesprochen und entschieden gegen geistige, vielfach schwer bewaffnete und zum Kampf gegen das "System" entschlossene Brandstifter vorgegangen werden, die sich ungeniert auf Marktplätzen und sogar im Deutschen Bundestag Hass- und Hetzreden halten und in den sozialen Medien anfeuernden Beifall bekommen.

Mit dem Mut der Verzweiflung

Von Halle nach Leipzig! In den Reden zum 30. Jahrestag der Montagsdemonstration vom 9. Oktober 1989 wurden die Menschen gewürdigt, die mit dem Mut der Verzweiflung auf die Straße gingen und sich schwer bewaffneten Polizisten und Stasileuten entgegen stellten. Zu einem Massaker in der Art des Blutbades wenige Wochen zuvor auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking kam es zum Glück nicht. Nachdem am Tag danach von einem Kirchturm von Siegbert Schefke und Aram Radomski heimlich hergestellte und nach Westberlin geschmuggelte Videoaufnahmen vom Protestmarsch der 70 000 in der Tagensschau der ARD gezeigt wurden, konnten der wutentbrannte SED- und Staatschef Erich Honecker und die von ihm beherrschten DDR-Medien nicht länger behaupten, es seien nur wenige Randalierer und Krawallmacher unterwegs gewesen und die überwiegende Mehrheit der DDR-Bewohner stehe nach wie vor treu zur Partei und zum Staat.

Siegbert Schefke, einer der beiden jungen Videofilmer von 1989, beschrieb 30 Jahre später im Deutschlandfunk die Szene so: "Das erste Bild ist, als ich vom Kirchturm mit meinem Freund Aram runterfilmte und die geschätzten 70.000 uns entgegen kamen und wie kraftvoll 70.000 Menschen rufen können: ‚Keine Gewalt!' - ‚Schließt Euch an, wir sind keine Rowdies!' - ‚Völker hört die Signale, des Menschen Recht!' - ‚Neues Forum zulassen!' - ‚Gorbi, Gorbatschow, Gorbatschow!' Wenn ich das alle fünf Jahre , auch heute noch mal auf Video sehe, da kriege ich Gänsehaut und weiß genau, wie wir da im Taubendreck gelegen haben, wie wir die Masse erwartet haben und wie wir gehofft haben, dass kein Schuss fällt."

Videoaufnahmen vom Kirchturm

Der aus Eberswalde stammende Siegbert Schefke, der Sohn eines Maurers, hatte eine Lehre zum Baufacharbeiter mit Abitur gemacht und arbeitete ab 1985 in Ostberlin als Bauleiter bei der Neubausanierung. Ab 1986 engagierte er sich in der ostdeutschen Friedens- und Umweltbewegung und war einer der Mitbegründer der Umwelt-Bibliothek in der Berliner Zionsgemeinde. Als Fotograf, Kameramann und Reporter dokumentierte er Umweltzerstörung und den Verfall der historischen Städte in der DDR, die es offiziell dort nicht gab und geben durfte. Die Stasi bewertete ihn wegen seines Engagements als einen der gefährlichsten Oppositionellen im Lande und gab ihm den Decknamen "Satan". Seine heimlich für Westmedien angefertigten Fernsehaufnahmen erreichten auch die DDR-Bevölkerung. Als Leipzig für Westjournalisten gesperrt war, filmte er gemeinsam mit seinem Reporterkollegen Aram Radomski die bis dahin größte Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989 vom Turm der Evangelisch-Reformierten Kirche am Tröndlingring unweit des Leipzig Stadtzentrums. Dazu benutzte er eine Kamera, die er vom ausgebürgerten Dissidenten Roland Jahn erhalten hatte, dem heutigen Leiter der Stasi-Unterlagenbehörde. Die Aufnahmen übergab er dem Spiegel-Korrespondenten Ulrich Schwarz, der sie nach Westberlin brachte. Am nächsten Tag sendete die Tagesschau die spektakulären Aufnahmen. Um Schefke und Radomski zu schützen, gab die ARD an, die Bilder würden "von einem italienischen Kamerateam" stammen. In Hans-Christoph Blumenbergs Doku-Drama "Deutschlandspiel" (2000) wurde Siegbert Schefke von Arnd Klawitter dargestellt, die Rolle von Aram Radomski, der einen ähnlichen Lebenslauf hatte wie sein Freund Schefke, übernahm Fabian Busch. Siegbert Schefke verfasste das Buch "Als die Angst die Seite wechselte - Die Macht der verbotenen Bilder", das 2019 im Transit Verlag Berlin erschien (ISBN 978-3-88747-373-0).

Wer sollte sich ihnen entgegen stellen?

Bundespräsident Frank Walter Steinmeier zitierte in der Feierstunde aus dem Roman "Nikolaikirche" des Schriftstellers Erich Loest mit den Worten "Nun zogen sie unter Tausenden. Ihnen war, als schwebten sie eine Handbreit über dem Boden. […] Was sollte sich ihnen noch in den Weg stellen wollen" und betonte: "Der 9. Oktober war ein großer Tag in der deutschen Geschichte. Ich bin dankbar, dass ich heute hier sein kann, um diesen Tag mit Ihnen zu feiern. Ja, der 9. Oktober ist ein großer Tag für die deutsche Geschichte. Aber ich will, ich muss mit dem Heute beginnen. Denn bei meinen Reisen durch Deutschland - gerade in Gegenden, die sonst kaum im Mittelpunkt stehen - treffe ich immer wieder auf Menschen, denen wenig nach Feiern zumute ist. Viel weniger noch als bei manch früherem Jubiläum."

30 Jahre nach jenem 9. Oktober 1989 sehe er ein starkes, aber auch ein verunsichertes Land vor sich, sehe ein Land, in dem sich Risse auftun, fügte Steinmeier hinzu und beschrieb diese so: "Risse, die sich auch in Wahlergebnissen widerspiegeln, aber mehr noch in der Art und Weise, wie wir übereinander und über dieses Land sprechen. Ich höre von einem Land, in dem Menschen sich abgehängt fühlen - links liegen gelassen von Politik und Eliten. Ich höre von einer wachsenden Kluft, längst nicht nur zwischen Ost und West. Auch zwischen Lebenswelten: zwischen Stadt und Land, zwischen Besserverdienenden und prekär Beschäftigten." Er höre junge Menschen, die sich von den Älteren verlassen, ja sogar verraten fühlen, die fürchten, dass ihnen die Zukunft auf diesem Planeten geraubt wird. Er höre von Jüdinnen und Juden, die beleidigt und angegriffen werden. Ich höre, dass unser Land zu viele Flüchtlinge und Zuwanderer aus anderen Kulturen aufgenommen habe und das Gefühl der Fremdheit im eigenen Land wachse. Er höre aber auch, dass sich Bürgerinnen und Bürger mit Migrationsgeschichte zunehmend bedroht fühlen. Er höre nationalistische und fremdenfeindliche Töne, die ganz offensichtlich an Verführungskraft gewonnen haben. "30 Jahre nach Friedlicher Revolution und Mauerfall höre ich Ostdeutsche, die sich unverstanden fühlen, und Westdeutsche, die davon nichts mehr hören wollen. Ich sehe ein Land, das um seinen Zusammenhalt ringt."

Hilfe und Zuspruch aus Nachbarländern

Zu den Geschichten unserer Deutschen Einheit gehören auch die Geschichten unserer europäischen Nachbarn, betonte der Bundespräsident. "Der epochale Umbruch, an den wir heute erinnern, wäre ohne den Freiheitskampf unserer östlichen Nachbarn nicht möglich gewesen. In Polen hatten sich die Menschen schon jahrelang aufgelehnt gegen Diktatur und Unfreiheit. Massenproteste und Streiks, die Gründung von Solidarnoc und des Runden Tisches - trotz aller Rückschläge war die Demokratisierung nicht aufzuhalten. Der Funke sprang über auf andere Länder. Auf Ungarn, das im Frühjahr 1989 seine Grenzen öffnete. Auf die damalige Tschechoslowakei. Und was in Osteuropa geschah, hat auch die Menschen in der DDR ermutigt. Heute wissen wir: Die Geschichte wäre auch anders verlaufen, hätte im Kreml Michail Gorbatschow nicht entschieden, keine Truppen zu schicken; hätte er die SED-Führung nicht zur Zurückhaltung gemahnt; hätten er und die westlichen Verbündeten nicht später der Einheit Deutschlands zugestimmt."

Ohne sich mit Moskau und Ostberlin in Verbindung zu setzen, hatte die ungarische Regierung in der Nacht zum 11. September 1989 die Grenze nach Österreich geöffnet. Nach und nach verließen tausende in Ungarn weilende DDR-Urlauber das Land zu Fuß, im Auto, mit Bussen oder der Bahn und kamen jubelnd und tränenüberströmt in Österreich an, um dann gleich weiter in die Bundesrepublik gefahren zu werden. Vergeblich bat die DDR-Regierung in Moskau um Intervention, doch da war man nicht bereit, sich in die Angelegenheiten zwischen Ungarn und der DDR einzuschalten. Michail Gorbatschow gab die Losung aus: "Wir unterstützen die DDR, aber nicht auf Kosten unserer Interessen in der BRD und in Europa insgesamt", was nichts anderes hieß als dass sich der sowjetische Partei- und Staatschef mit dem Gedanken anzufreunden begann, die DDR, den ewigen Besserwisser, fallen zu lassen.

Flüchtlinge in der Prager Botschaft

Um aus dem Dilemma herauszukommen, sah die DDR-Führung nur einen Weg, nämlich die Reisen von DDR-Bürgern nach Ungarn drastisch einzuschränken und jeden auf politische Zuverlässigkeit zu überprüfen, der eine Fahrt dorthin unternehmen will. Angesichts der zu erwartenden Einschränkungen besetzten in Polen und der ?SSR befindliche DDR-Bürger die bundesdeutschen Botschaften in Warschau und Prag und forderten, von dort aus in den Westen gebracht zu werden. Namentlich auf dem Gelände der Prager Botschaft hatten sich tausende Hilfesuchende oft mit kleinen Kindern eingefunden und warteten auf ihre Ausreise in die Bundesrepublik. Dieses Begehren löste in Ostberlin hektische Betriebsamkeit aus. Bilder von den unter schlimmen hygienischen Bedingungen im Hof und im Garten der im Palais Lobkowicz untergebrachten Prager Botschaft kampierenden DDR-Bürgern passten nicht zu der befohlenen Jubelstimmung anlässlich des 40. Gründungstags der DDR am 7. Oktober 1989 und zu der Erfolgsbilanz, die Erich Honecker der eigenen Bevölkerung und der Weltöffentlichkeit vorzulegen gedachte.

Die Nachricht, dass alle DDR-Flüchtlinge ausreisen dürfen, die sich in den deutschen Vertretungen in Prag und Warschau ausharren, verkündete Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher am Abend des 30. September 1989 vom Balkon des Palais Lobkowicz. Ihm brandete unbeschreiblicher Jubel entgegen, als er sagte: "Liebe Landsleute, ich bin heute zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass Ihre Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland bevor steht". Die letzten Worte konnte keiner mehr verstehen. Als die Wartenden begriffen hatten, dass die Züge über das Gebiet der DDR fahren sollen, schlug die Stimmung um, denn natürlich mussten sie befürchten, aus den Zügen geholt und verhaftet zu werden. Das ist dann nicht geschehen, die DDR-Regierung hätte sich sonst zusätzliche Probleme bereitet und wäre international vollkommen unglaubwürdig geworden.

Fahrt in den Westen durch die DDR

Honecker ließ sie die von bundesdeutschen Beamten begleiteten Botschaftsflüchtlinge in verschlossene Waggons der Deutschen Reichsbahn über DDR-Territorium in die Bundesrepublik fahren. In Reichenbach im Vogtland auf DDR-Seite stiegen Stasi-Leute zu, um den Passagieren ersatzlos die Personalpapiere abzunehmen, was als letzte Gemeinheit empfunden wurde und zu weiterer Verbitterung führte. Mit der Maßnahme sollte die Ausbürgerung der "Verräter" auf den Weg gebracht und Vergeltung an ihren Angehörigen genommen werden. Bevor sich die Züge in Bewegung setzten, öffnete ein junger Mann ein Fenster und warf sein letztes DDR-Geld auf den Bahnhof von Reichenbach, andere Leute folgten seinem Beispiel und entledigten sich ihrer Schlüssel, Mitgliedsausweise und anderer Habseligkeiten und zogen damit auf spektakuläre Weise einen Schlussstrich unter ihre Vergangenheit.

Die DDR-Regierung kaschierte ihr Zugeständnis als humanitäre Geste. Im NEUEN DEUTSCHLAND vom 2. Oktober 1989 heißt es: "In dem Bestreben, die nicht von der Regierung der DDR herbei geführte Situation in den Botschaften der BRD in Prag und Warschau zu beenden, hat die Regierung der DDR nach Konsultationen mit den Regierungen der ?SSR und der VRP [Volksrepublik Polen, H. C.] sowie mit der Regierung der BRD veranlasst, dass die sich in diesen Botschaften rechtswidrig aufhaltenden Personen aus der DDR mit Zügen der Deutschen Reichsbahn über das Territorium der DDR in die BRD ausgewiesen werden." Damit verbinde die Regierung der DDR die Hoffnung, "dass auch seitens der Regierung der BRD Schlussfolgerungen für den normalen, den internationalen Gepflogenheiten entsprechenden Betrieb in ihren Botschaften gezogen werden".

Die Eisenbahnstrecke von Prag in die Bundesrepublik wurde auf DDR-Seite von deren Sicherheitskräften abgesperrt, um zu verhindern, dass Menschen auf die Züge aufspringen und mitfahren. Am Dresdner Hauptbahnhof lieferten sich am 4. Oktober 1989 Ausreisewillige und Demonstranten schwere Auseinandersetzungen mit der Stasi und der Volkspolizei, wobei viele Protestierer vergeblich versuchten, auf die Züge mit den Botschaftsflüchtlingen zu springen und mit ihnen in den Westen zu gelangen. Wo immer die Reichsbahnzüge mit mehreren tausend Passagieren durch Städte und Dörfer der DDR fuhren, haben Zurückgebliebene ihnen mit weißen Tüchern zugewinkt. Die Spannung in den Waggons löste sich erst und schlug in unbeschreiblichen Jubel und in Freudentränen um, als die Züge in Hof, auf dem Territorium der Bundesrepublik Deutschland, angekommen waren. Die Vorgänge in der Prager und der Warschauer Botschaft der Bundesrepublik Deutschland war für die DDR-Führung und Erich Honecker persönlich wie ein Schlag ins Gesicht. Ohnmächtig musste der mächtigste Mann in der DDR zusehen, wie Zehntausende seiner Untertanen das Land auf spektakuläre Weise verließen. Um weitere unliebsame Bilder und Nachrichten von Botschaftsflüchtlingen ein für allemal aus der Welt zu schaffen und das "Loch ?SSR" zu stopfen, suspendierte die DDR-Regierung den visumsfreien Reiseverkehr mit der Tschechoslowakei. Damit wurde den DDR-Bewohnern das letzte Reiseland genommen, in das sie ohne amtliche Genehmigung fahren durften.

"Man sollte ihnen keine Träne nachweinen"

Am 2. Oktober 1989 erschien im NEUEN DEUTSCHLAND und anderen DDR-Blättern ein scharfmacherischer Kommentar der staatlichen Nachrichtenagentur ADN, in dem massiv gegen jene Menschen Stellung bezogen wurde, die dem Arbeiter-und-Bauern-Staat den Rücken kehrten. Unter der Überschrift "Sich selbst aus unserer Gesellschaft ausgegrenzt" wurde behauptet, Politiker und Medien in der BRD würden eine stabsmäßig vorbereitete "Heim-ins-Reich"-Psychose führen, "um Menschen in die Irre zu führen und auf einen Weg in ein ungewisses Schicksal zu treiben. Das vorgegaukelte Bild vom Leben im Westen soll vergessen machen, was diese Menschen von der sozialistischen Gesellschaft bekommen haben und was sie nun aufgeben. Sie schaden sich selbst und verraten ihre Heimat." Sie hätten sich selbst von ihren Arbeitsstellen und von den Menschen getrennt, mit denen sie bisher zusammengelebt und gearbeitet haben. Bar jeder Verantwortung hätten Eltern auch gegenüber ihren Kindern gehandelt, "die im sozialistischen deutschen Staat wohlbehütet aufwuchsen und denen alle Bildungs- und Entfaltungsmöglichkeiten offenstanden. […] Sie alle haben durch ihr Verhalten die moralischen Werte mit Füßen getreten und sich selbst aus unserer Gesellschaft ausgegrenzt. Man sollte ihnen deshalb keine Träne nachweinen." Den letzten Satz hatte Honecker persönlich in den alle Realitäten auf den Kopf stellenden Text hineingeschrieben.

Wie Günter Schabowski, der langjährige ND-Chefredakteur beziehungsweise 1. Sekretär der Bezirksleitung der SED Berlin, in seinem Buch "Der Absturz" bemerkte, habe der Kommentar nicht nur bei vielen Angehörigen der Flüchtlinge große Empörung ausgelöst. Realitätsferne und Zynismus, die aus den Worten sprachen, hätten den Parteisekretären in den Betrieben und vielen SED-Mitgliedern schwer zu schaffen gemacht. Nach Honeckers Sturz beeilte sich die neue Parteiführung unter Egon Krenz, den Schaden zu beheben, indem sie versicherte, jeder Flüchtling sei einer zu viel und alle Menschen würden gebraucht, um die krisenhafte Situation in den Griff zu bekommen.

Zug in die Freiheit

Im MDR-Fernsehen lief das Dokudrama "Zug in die Freiheit", ein Film mit echten Aufnahmen und nachgespielten Szenen. Er schildertunter anderem, wie für die Botschaftsflüchtlinge nach Genschers Ankündigung eine Zeit des Bangens und Hoffens beginnt. Stasileute steigen in den Zug und sammeln die Pässe ein. Vertreter des Auswärtigen Amts raten den Flüchtlingen, ihre persönlichen Daten "für später" zu notieren. Junge Leute springen in Reichenbach auf den Zug. Wo er hält, kommt es zu Unruhen, Schlägereien und Festnahmen. Als der erste Zug Hof ereicht, löst sich die Spannung, und die Passagiere liegen sich mit Tränen in den Augen in den Armen. Der 90-Minuten-Film von 2014 schildert historische Ereignisse und Hintergründe auf dem Weg zur deutschen Einheit, die viele Zuschauer so nicht kannten, vor allem, was sich in der Prager Botschaft tat, was im Hintergrund zwischen Bonn, Moskau und Ostberlin ablief und vor allem, welche Ängste die der Freiheit entgegen fahrenden Menschen aushalten mussten. Dass es vor dem Mauerfall am 9. November 1989 weitere Züge dieser Art gab, geht in dem ergreifenden Filmdrama fast unter.

11. Oktober 2019

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