Warnungen in den Wind geschlagen
Stasi-Minister Mielke unternahm am 13. November 1989 in der Volkskammer einen Rechtfertigungsversuch und erntete Gelächter



Auf einem Monitor in der Stasi-Gedenkstätte ist man Erich Mielke, dem mächtigsten Mann nach Honecker in der DDR, bei seiner Ansprache vom 13. November 1989 vor der Volkskammer im Palast der Republik ganz nahe.



Großes Vorbild des MfS war Feliks Dzierzynski, der erste Chef des Allrussischen Außerordentlichen Komitees zur Bekämpfung von Konterrevolution und Sabotage (Tscheka). Eine Bronzefigur des von Lenin in dieses Amt berufenen Anführers der sowjetischen Geheimpolizei steht im Vestibül vom Haus 1 des Ministeriums für Staatssicherheit, in dem Erich Mielke und seine engsten Vertrauten die Fäden zogen. Mielke hämmerte seinen Leuten tschekistisches Verhalten ein, sein Wachregiment war nach Dzierzynski benannt.



Da man in den 1950er Jahren von Hochhäusern in Berlin-Lichtenberg sehen konnte, wer am Haus 1 des MfS vorfuhr und wer es verließ, bekam der Eingangsbereich einen aus Betonelementen bestehenden Sichtschutz. Von hier gelangt man in das heutige Stasimuseum.



Die beiden Eriche - Honecker und Mielke - waren Brüder im Geiste, engstirnig, unbelehrbar, ganz auf den Erhalt ihrer Macht bedacht. Wehe, es kam einer ihnen zu nahe und versuchte, sie eines Besseren zu belehren, dann konnten sie brutal zurückschlagen.



Wie Erich Honecker war der Stasi-Minister ein begeisterter Jäger, hier zu sehen bei einem Essen im Wald mit Apfelsinen auf dem Tisch, die der Normalbürger nur zu Weihnachten zu Gesicht bekam.





Die Abhör-, Briefkontroll- und andere Technik, die im Stasimuseum gezeigt wird, mutet heute altbacken und lachhaft an, war aber vor über 30 Jahren das Modernste, was die Stasi zur Überwachung der Bevölkerung im Einsatz hatte.



Im Hof des Ministeriums ist eine interessante Freiluftausstellung aufgebaut. Sie berichtet, wie es vor 30 Jahren zum Fall der Mauer und zum Ende der SED- und damit auch der Stasiherrschaft kam. (Fotos/Repros: Caspar)

Wer die Stasi-Gedenkstätte im Haus 1 des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit besucht, wird auf Schritt und Tritt mit dessen Chef Erich Mielke konfrontiert. Zeitzeugen beschreiben den Befehlshaber eines riesigen Heers von offiziellen und inoffiziellen Mitarbeitern als "Mann fürs Grobe" unter den SED-Chefs Walter Ulbricht und Erich Honecker. Im Kreis seiner Untergebenen und bei seinen vielen Jagdausflügen gab er sich der kleine Mann mit der Brille, ein Glas Schnaps in der Hand, jovial-kumpelhaft, doch konnte er auch ausgesprochen jähzornig und brutal sein. "In seiner Gegenwart wurden hochdekorierte Generale und Oberste des MfS ganz klein mit Hut, und manche gingen nach Dienstbesprechungen hinaus wie begossene Pudel", erfahren Besucher des heutigen Stasi-Museums.

An verschiedenen Video- und Hörstationen kann man Mielkes polternder Stimme zuhören. So war es auch einer Rede, die er am 13. November 1989, nur wenige Tage nach dem Fall der Mauer, in der Volkskammer hielt. Während der Sitzung übernahm der bisherige Vorsitzende des Ministerrats, SED-Politbüromitglied Willi Stoph, die Verantwortung "für all das, wofür die Regierung unter Kritik steht" und erklärte: "Ich muss bekennen, dass der Ministerrat und ich als sein Vorsitzender den verfassungsmäßigen Pflichten nicht voll nachgekommen sind. Unsere Kompetenz war bekanntlich wesentlich eingeschränkt."

Mit dieser flapsigen Bemerkung hatte Stoph nicht Unrecht, denn das eigentliche Machtzentrum im Land war nicht die Volkskammer und die Regierung, sondern das SED-Politbüro und dessen Generalsekretär Erich Honecker. Nach dem Motto "Die Partei hat immer Recht" legte er fest, was im Land zu tun und zu lassen ist, und da die Stasi "Schild und Schwert der Partei" war, hatte sie mit den anderen staatlichen Organen dafür zu sorgen, dass die Befehle aus dem Zentralkomitee am Werderschen Markt in Berlin punktgenau ausgeführt werden, koste es was es wolle. Beim Rundgang durch die Gedenkstätte ist zu erfahren, wie die Stasi und die DDR-Justiz mit so genannten feindlich-negativen Elementen umgegangen ist, also mit Regimegegnern und auch Leuten, die vom demokratischen Sozialismus träumten sowie mit DDR-Bewohnern, die sich über offenkundige Missstände ärgerten und Besserung verlangten. Das allein konnte einen Eintrag in die Kaderakte zur Folge haben, und schon war der Weg auf der Karriereleiter versperrt oder man konnte sich eine andere Arbeit suchen. Nicht die Missstände wurden beseitigt, sondern diejenigen gemaßregelt, die sie anprangerten. Das konnte auf Dauer nicht gut gehen.

"Lehrstunde der Demokratie"

Im Verlauf jener Volkskammersitzung im Palast der Republik wurde der bisherige Chef der SED-Bezirksleitung Dresden, Hans Modrow, zum neuen Vorsitzenden des Ministerrats gewählt. Anders als gewohnt herrschte in der Volkskammer, die bekanntlich nicht frei gewählt worden war und nur das absegnete, was die SED-Führung ihr vorschrieb, eine gelöste Atmosphäre, und es waren sogar kritische Stimmen zu vernehmen. Der neue Volkskammerpräsident Günter Maleuda von der Demokratischen Bauernpartei Deutschlands (DBD) nannte das, was man gerade erlebe, eine "Lehrstunde für die Demokratie". Vier Tage waren nach der Öffnung der Grenzen zur Bundesrepublik und West-Berlin befand sich die allmächtige SED bereits in der Auflösung, die alten Männer, die bisher das Sagen hatten, traten mit dem Ausdruck des Bedauerns von der Bühne ab. Im Ministerium für Staatssicherheit waren Mielkes Leute derweil mit der Vernichtung brisanter Akten und der Frage beschäftigt, wie es mit ihnen weitergehen soll.

Dass der Minister überhaupt am 13. November 1989 vor den "Genossen Abgeordneten" sprach und versuchte, sich zu rechtfertigen, war ungewöhnlich. Doch es war nur konfuses Zeug, was er stammelnd von sich gab. Dass er an verschiedenen Stellen Zwischenrufe provozierte und sogar Gelächter, brachte den in Zivil erschienenen Armeegeneral, so sein militärischer Rang, aus dem Konzept. Dabei muss man wissen, dass für ihn die Beförderung zum "Marschall der DDR" vorgesehen war, wie erst nach dem Ende des zweiten deutschen Staats bekannt wurde. Mielke begann seine Rede mit einer Klarstellung darüber, "was unsere Mitarbeiter im Ministerium für Staatssicherheit gegenüber den Werktätigen, gegenüber unserem Volk für Verpflichtungen haben. Wir sind Söhne und Töchter der Arbeiterklasse, der Werktätigen und kommen aus allen Schichten - einfache und gebildete und wissenschaftliche Mitarbeiter. Wir vertreten die Interessen der Werktätigen. Das ist unser oberster Auftrag der Volkskammer, und dem sind wir immer - und haben uns auch immer bemüht - gerecht geworden. Das war nicht immer leicht und wurde unter schwierigen Bedingungen durchgeführt." Der Minister beschrieb seine Arbeit und die seiner Leute als "einen außerordentlich hohen Kontakt zu allen werktätigen Menschen. Ja, wir haben den Kontakt. Ihr werdet gleich hören, warum. Ich fürchte mich nicht, ohne Rededisposition hier Antwort zu stehen. Auch eine Demokratie. Ich habe kein Referat vorher fertig gemacht."

Ich liebe alle Menschen, ich setze mich dafür ein

Die Aufgabe des MfS beschieb Mielke so: "Wir haben erst einmal den Auftrag gehabt, als Allerwichtigstes, alles aufzudecken, was sich gegen den Frieden richtete. Und wir haben hervorragende Informationen geliefert, die die Entwicklung soweit brachten, wie wir sie heute haben, Genossen, nicht nur für die DDR, sondern für das sozialistische Lager. Zweitens, ich sage es nur kurz, eine der wichtigsten Aufgaben war die Stärkung unserer sozialistischen Wirtschaft. Und wenn ihr mich fragen würdet, ihr werdet sehen, im Saal werden viele zustimmen, dass unsere Mitarbeiter Hervorragendes auf diesem Gebiet leisten. Und mehr möchte ich doch wohl dazu nicht sagen müssen. Wir haben Hervorragendes, Genossen, geleistet, unsere Arbeit gemacht zur Stärkung der Volkswirtschaft." Hier wurde der Minister durch einen Zuruf zur Geschäftsordnung unterbrochen. Mielke sollte endlich darauf verzichten, die Abgeordneten nicht alle als Genossen anzusprechen. Nachdem der Beifall abgeklungen war, antwortete Mielke sichtlich irritiert: "Ich bitte, das ist doch nur eine formale Frage."

Das Protokoll hielt daraufhin Missfallensäußerungen fest. Dann fiel Mielkes legendärer, mit Gelächter quittierter Satz "Ich liebe doch alle Menschen... Ich setze mich doch dafür ein. Also ich bitte um Verständnis. Wenn ich das gemacht haben sollte, dann bitte ich um Verzeihung für diesen Fehler. Aber jetzt kommt noch eine andere Wahrheit neben diesen beiden. Viele Menschen, einfache und andere, bis zu Direktoren, haben uns vieles mitgeteilt über Unzulänglichkeiten, für die wir gar nicht zuständig gewesen wären. Aber, liebe Abgeordnete, wir haben alles entgegengenommen, um darüber bei den zuständigen Stellen zu berichten, dass eine solche Lage vorhanden ist. Das haben wir getan, von Anfang an seit unserem Bestehen bis zum heutigen Tage. Wir haben das getan."

Sodann zählte Mielke auf, was nach seiner Meinung zu der gegenwärtigen Lage geführt hat. "Alle Unzulänglichkeiten, manchmal von ganz kleinen Dingen nur bis zu den größten, haben wir gemeldet Wir haben die ganzen Schwierigkeiten aufgezeigt, die entstehen mit der Republikflucht, mit dem Verlassen der Republik. Wir haben aufgezeigt, wieviel Ärzte die Republik verlassen, haben aufgezeigt, wieviel Lehrer die Republik verlassen. Wir haben, Genossen, ich weiß nicht, soll ich hier die Wahrheit sagen oder nicht, berichtet über diese ganzen Fragen. Wir haben Vorschläge gemacht an die Stelle, der ich verpflichtet bin als Minister für Staatssicherheit zu berichten, an die betreffenden Genossen, die ein bestimmtes Arbeitsgebiet haben. Die haben die Fragen bekommen, für die sie zuständig sind, die anderen die anderen."

Viele Infos blieben unberücksichtigt

Auf den Zuruf, er möge konkret werden, sagte Mielke: "Aber gestattet doch mal, was heißt konkret? Natürlich könnte ich alle Namen nennen. Die kann ich doch nicht alle jetzt aufführen, wohin wir unsere Informationen gegeben haben. Aber wir haben sie gegeben. Glaubt mir doch, wir haben sie gegeben. Wir haben etwas gemacht, was der Abgeordnete dort anfragte. Wir haben tatsächlich so, wie er es beschrieben hat, auch gearbeitet. Wir haben auf vieles aufmerksam gemacht, was heute hier besprochen wurde. Das einzigste ist, dass vieles, was wir gemeldet haben, nicht immer berücksichtigt wurde und nicht eingeschätzt wurde." Diese Aussage wollte Mielke nicht weiter untermauern, auch nicht, als ihm "Von wem?" zugerufen wurde. Er ließ sich nur zu diesen Worten herbei: "Und ich kann hier einmal sagen, daß wir sogar auf Konferenzen aufgetreten sind und gesagt haben: Die Bitte unserer Genossen besteht darin, werte Abgeordnete, - zu den Betreffenden -, dass man unsere Informationen ernst nimmt und sie auswertet, soweit sie auswertbar sind, und dass man Veränderungen schafft. Und wir haben die Einstellung gehabt, auch darauf zu achten, dass das, was gemeldet wurde, was unzulänglich ist, sich verändert. Auch darauf haben wir geachtet. Wir haben also in dieser Beziehung tatsächlich das Wichtigste gesehen: Erhaltung des Friedens, Stärkung der Wirtschaftskraft unserer Deutschen Demokratischen Republik, darauf zu achten, dass unsere Werktätigen ihre Sorgen und Note mitteilen können. Viele wissen doch, dass sie mit uns gesprochen haben, damit wir das weitergeben können, damit das Beachtung findet. Wir haben in dieser Beziehung versucht, nach der Verfassung und nach den bestehenden Gesetzen einwandfrei zu arbeiten."

Die eigenen Leute zeigen sich betroffen

Erich Mielke trat ab, der Beifall fiel mager aus. Das SED-Zentralorgan Neue Deutschland hielt sich mit einem Kommentar über den blamablen Auftritt des Stasi-Ministers zurück und schrieb in der nur 24 schmale Zeilen umfassende Zusammenfassung der angerissenen Themen lediglich: "Mit Bitterkeit sprach er jedoch darüber, dass viele Informationen nicht berücksichtigt wurden". Zwar wusste man, wer was nicht berücksichtigt hat, aber man sprach es nicht aus. So weit ging die neue Offenheit, die von Honeckers Nachfolger Egon Krenz verkündet worden war, denn doch nicht.

Die Reaktion bei der Stasi war verheerend. "Mit Betroffenheit und Befremden haben die Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit das Auftreten des amtierenden Ministers Armeegeneral Mielke vor der Volkskammer am 13. 11. 1989 zur Kenntnis genommen", heißt es in einem Schreiben an den Präsidenten der Volkskammer, Günter Maleuda, das im Stasimuseum gezeigt wird. "Durch seine unzureichenden Darlegungen und Rechtfertigungsversuche, ohne zugleich die politische Gesamtverantwortung für die Gesamttätigkeit des Ministeriums für Staatssicherheit persönlich zu übernehmen, ist in der Öffentlichkeit ein falsches Bild über die Tätigkeit und Haltung der Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit entstanden. Davon distanzieren wir uns entschieden. Wir versichern erneut, dass die Staatssicherheitsorgane sich mit Entschiedenheit zur Erneuerung der sozialistischen Gesellschaft in der DDR bekennen, sie engagiert stützen und die dazu nötigen Veränderungen bei sich selbst durchsetzen werden." Dazu ist es dann zum Glück nicht mehr gekommen. Mielke soll nach einer Aussprache mit leitenden Leuten seines Ministeriums laut Begleitschreiben an den Volkskammerpräsidenten bedauert haben.

6. November 2019

Zurück zur Themenübersicht "Geschichte, Zeitgeschichte, Ausstellungen"