Schabowskis Zettel
Im Tränenpalast am Berliner Bahnhof Friedrichstraße werden Notizen und Bilder von der Maueröffnung vor 30 Jahren gezeigt



Mit Dokumenten, Bildern und authentischen Hinterlassenschaften berichtet die Ausstellung im Tränenpalast am Bahnhof Friedrichstraße über das Grenzregime der DDR, die komplizierten Beziehungen zwischen Ost und West und wie es zum Fall der Mauer vor 40 Jahren kam.





Schabowskis Zettel tauchte Jahre nach dem Mauerfall wieder auf, kam ins Bonner Haus der Geschichte und wird von diesem bis Januar 2020 im Tränenpalast, der ehemaligen Grenzübergangsstelle am Bahnhof Friedrichstraße, gezeigt. Auf einem Monitor über dem Exponat werden Ausschnitte aus der legendären Pressekonferenz und anschließend jubelnde Menschen, die mal kurz zum Kudamm fahren.





Wie es in Mauerzeiten in den Katakomben des Bahnhofs Friedrichstraße zuging und welchen Zumutungen Reisenden ausgesetzt wurden, zeigt die mit zahlreichen Dokumenten, Bildern und Gegenständen bestückte Ausstellung, die dienstags bis freitags von 9 bis 19 Uhr und am Wochenende sowie an Feiertagen von 10 bis 19 Uhr bei freiem Eintritt geöffnet ist.







Reste der einstigen Befestigungen quer durch Berlin und entlang der deutsch-deutschen Grenze sind ebenso zu sehen wie Bilder von Menschen, die sich nach dem Mauerfall vor Freude weinend in den Armen liegen, sowie solche vom Abbau von Grenzbefestigungen unter den Augen der Weltöffentlichkeit. (Fotos: Caspar)

Im Tränenpalast am Bahnhof Friedrichstraße wird neben vielen andern Relikten anlässlich des 30. Jahrestags des Mauerfalls bis zum 12. Januar 2020 Günter Schabowskis berühmter Zettel gezeigt, den er vor sich hatte, als er am 9. November 1989 bei einer Pressekonferenz zur neuen Reiseregelung und Öffnung der Grenze befragt wurde. Eher beiläufig verlas der neue Medien-Sekretär im SED-Politbüro um 18.57 Uhr, als alle schon gehen wollten, vor laufenden Kameras die Mitteilung: "Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen - Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse - beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Versagungsgründe werden nur in besonderen Ausnahmefällen angewandt". Die Ausreisen könnten "über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD beziehungsweise Berlin-West erfolgen". Auf die Frage eines italienischen Journalisten kam Schabowski ins Stottern. Auf seine Papiere blickend sagte er: "Wenn ich richtig informiert bin, nach meiner Kenntnis sofort". Dabei hätte er verkünden müssen, dass die Maßnahme erst ab 10. November in Kraft tritt. Die auch im Westfernsehen übertragene und am Abend dann mehrfach wiederholte und kommentierte Sensation war perfekt.

Viele Fernsehzuschauer verstanden Schabowskis Information richtig: Ab sofort wird die Mauer geöffnet, ab sofort können die Grenzübergänge "ohne Vorliegen von Voraussetzungen", also Genehmigungen, passiert werden. Allerdings übersah er, die Regelung erst ab 10. November 1989 gelten soll. Und so setzten sich an jenem späten Donnerstagabend unzählige Berliner in Bewegung, versammelten sich vor den Übergangsstellen, verlangten von den völlig konsternierten Grenzern, dass ihnen geöffnet wird. Die überforderten DDR-Grenztruppen ließen die Menschen schließlich ohne die geforderten Ausweispapiere über die Grenze. Die Mauer war gefallen.

Randbemerkung mit unabsehbaren Folgen

Günter Schabowski erzählt in seinem Buch "Der Absturz" (1991), wie es zu seiner alles verändernden Randbemerkung kam. "Das Thema nahm ganze dreieinhalb Minuten von der fast dreistündigen Pressekonferenz in Anspruch. Ich hatte die Maueröffnung bekanntgegeben. Als ich mir anschließend um 19 Uhr den Weg durch die sich am Ausgang ballenden Journalisten bahnte, ahnte ich nicht, was für ein Impuls damit ausgelöst worden war. […] Die bis heute eingetretenen Folgen der von mir überbrachten Botschaft lagen am 9. November jenseits meines Blickfeldes. Hätte mir damals jemand vorgehalten, dass ich mich nach unserem Schritt in weniger als zwölf Monaten zu einem Bundesbürger mausern würde, ich hätte das als eine lächerliche Prophezeiung zurückgewiesen. […] Ich empfand um so mehr Genugtuung über mein Verkündungsrecht, als ich damit einen neuen Fehler berichtigen konnte", schreibt Schabowski und meint damit den Entwurf für ein neues Reisegesetz, der Antragsteller zu Bittstellern bei der Polizei gemacht hätte und auf einhellige Ablehnung stieß.

Mielke: Wenn schon schießen, dann auch treffen

Die Berliner Zeitung brachte am 8. und 9. November 2019 Sonderausgaben zum Mauerfall vor 30 Jahren mit einer interessanten Chronik, aus der hervorgeht, dass Leute in der Parteiführung, bei der Stasi und im Militär lieber heute als morgen die Opposition mit Schusswaffen in Schach gehalten hätten, dies sich aber nicht getraut haben. Innenminister Friedrich Dickel sagte in einer Dienstbesprechung am 21. Oktober 1989: "Mir braucht keiner zu sagen, wie man mit dem Klassenfeind umgeht. Ich hoffe bloß, dass Ihr das genau wisst. Umzugehen, schießen, liebe Genossen, und dass Panzer vor der Bezirksleitung und dem ZK stehen, das wäre noch die einfachste Sache. Aber solche eine komplizierte Situation nach 40 Jahren DDR?" Am 28. April 1989 ließ Stasi-Minister Erich Mielke seine Leute noch im Vollgefühl seiner Macht und Unantastbarkeit wissen: "Ich will euch überhaupt einmal sagen, Genossen: Wenn man schon schießt, dann muss man es so machen, dass nicht jeder Betreffende noch wegkommt, dann muss er eben dableiben bei uns. Ja, so ist die Sache! Wat is denn das, 70 Schuss losballern, und die machen 'ne Riesenkampagne. […] Wo noch etwas mehr revolutionäre Zeiten waren, da war es nicht so schlimm. Aber jetzt, wo so neue Zeiten sind, den neuen Zeiten muss man Rechnung tragen."

Zum Schießen kamen zu ihrem Leidwesen weder Dickel noch Mielke, obwohl es ihnen in den Fingern juckte. Am 3. November 1989 erging der Befehl Nummer 11/89 des Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates der DDR, Egon Krenz: "Die Anwendung der Schusswaffe im Zusammenhang mit möglichen Demonstrationen ist grundsätzlich verboten." In einem Interview am 8. November 2019 mit der Berliner Zeitung sagte Krenz, Nachfolger von Erich Honecker als SED- und Staatschef, die Nacht vom 9. zum 10. November 1989 sei die schwerste seines Lebens gewesen. Er habe Schabowski eine Pressemitteilung gegeben, für die eine Sperrfrist bis zum nächsten Morgen, also 10. November, galt. "Die vorzeitige Bekanntgabe des Termins führte in jener Nacht, als noch nötige Vorbereitungen zur Grenzöffnung getroffen mussten, zu einer äußerst gefährlichen Lage. Dank der Besonnenheit unsere Grenzer, die meinen schon früher gegebenen Befehl zur Nichtanwendung der Schusswaffe strikt befolgten, kam es zu keiner Eskalation mit unübersehbaren Folgen. Das waren Stunden, die einem lebenslang in den Adern sitzen." Nur ein Toter, nur ein Verletzter, nur ein Tropfen Blut in jener Nacht - das hätte eine Katastrophe geben können, fügt Krenz hinzu.

Gorbatschow gratuliert Krenz

Schabowskis Pressekonferenz habe er nicht verfolgt, er sei erst von Mielke darüber informiert worden, dass sich größere Menschenmengen in Richtung Grenze bewegen. Der Stasiminister wollte wissen, wie zu verfahren sei, worauf er, Krenz, laut Interview sagte: "Wir wollen ja ohnehin morgen die Grenzübergänge öffnen, wir werden ja nicht noch einen Zusammenstoß mit der Bevölkerung auslösen." Nach einigen Irritationen in Moskau habe Michail, Gorbatschow ihm, Krenz, zur Grenzöffnung in Berlin gratuliert.

Leider wurde Krenz nicht zu seiner Meinung über Schabowski und die von ihm unabsichtlich ausgelöste Maueröffnung gefragt, und auch das, was er im Sommer 1989 zum Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking lobend gesagt hat, den Interviewern keine Frage wert. Wohl aber berichtete der frühere SED-Politiker, dass er in Briefen an frühere Bundespräsidenten vergeblich gebeten hat, Legenden über angebliche Vorbereitungen der Staatsmacht in Leipzig für ein mögliches Blutbad unter Demonstranten zurückzuweisen. Die vorsichtshalber bereitgestellten Leichensäcke und zur Behandlung der Verletzten einberufenen Chirurgen habe es nicht gegeben. Auch die Aussage von Bundespräsident Steinmeier in seiner jüngsten Rede zum Gedenken an den 9. Oktober 1989 in Leipzig, als 70 000 Menschen auf die Straße gegangen waren, die Geschichte wäre anders verlaufen, hätte Gorbatschow die SED-Führung nicht zur Zurückhaltung gemahnt, sei ihm Krenz, völlig neu. "So eine Aufforderung aus dem Kreml haben wir nie erhalten. Sie war auch nicht notwendig." Nun ist es Sache der Historiker nachzuweisen, was an der einen und an der anderen Behauptung wahr ist.

"GrenzErfahrungen - Alltag der deutschen Teilung"

Das Haus der Geschichte in Bonn zeigt im Tränenpalast unter der Überschrift "GrenzErfahrungen - Alltag der deutschen Teilung" auf 400 Quadratmetern eine sehenswerte Ausstellung, die vom Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 bis zum Ende des Kalten Kriegs 1989/90 reicht. Einige Abfertigungsschalter vermitteln eine Ahnung davon, wie es in der mit vielen Tränen der Freude und der Trauer verbundene Übergangsstelle, als sie noch streng gesichert war. Wer Diplomat war oder eine Sondergenehmigung besaß, durfte ohne Anstehen passieren, der große Rest aber musste erniedrigende Prozeduren über sich ergehen lassen, bis er, durch unterirdische Gänge vorbei an misstrauisch dreinschauenden Soldaten gehend, endlich einen besonderen Bahnsteig im Bahnhof Friedrichstraße erreichte.

Die Erinnerungsstätte zeigt Utensilien, mit denen die DDR-Grenzer bei der Abfertigung der artig und oft eingeschüchtert vor ihnen stehenden Menschen hantierten. Anhand von Koffern und Paketen wird dargestellt, was man beim Wechsel von hüben nach drüben mitnehmen durfte und was verboten war und einbehalten wurde. Ebenso lernen Besucher Methoden der Propaganda und Gegenpropaganda anhand von Plakaten und Zeitungsausschnitten, an Hörstationen auch durch Reden und Lieder kennen. Sie sehen, wie nach dem 13. August 1961 die Mauer mit großem finanziellem und technischem Aufwand immer undurchlässiger gemacht wurde, und es wird auch an jene Menschen erinnert, die bei der Flucht Leben und Freiheit verloren haben. So ist der Tränenpalast wegen der besonderen Authentizität des Ortes wie kaum ein anderes Haus geeignet, auch jenen Menschen ein Stück dramatischer Zeitgeschichte nahezubringen, die die deutsche Teilung nicht mehr erlebt haben. Dass besonders viele junge Leute den Tränenpalast besuchen und auch echtes Interesse zeigen, gehört zu den erfreulichen Eindrücken an einem Ort, der vor 30 Jahren seinen Schrecken verloren hat. Der friedlichen Revolution in der DDR sei Dank.

8. November 2019 mit besten Grüßen an alle Leser am Vorabend des 30. Jahrestags des Mauerfalls

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