"Komm doch mal nach Ost-Berlin - Wahnsinn"
Stadtmuseum geht in neuer Ausstellung der Frage nach, wie es sich in der geteilten Hauptstadt lebte



"Ost-Berlin. Die halbe Hauptstadt" im Ephraimpalais ist dienstags, donnerstags bis sonntags von 10 bis 18 Uhr, mittwochs von 12 bis 20 Uhr geöffnet, an jedem 1. Mittwoch im Monat ist freier Eintritt. Informationen im Internet unter www.ost.berlin



Die Ausstellung dokumentiert unter anderem, wie die Ost-Berliner oder Ostberliner mit der Mauer klar kamen, wie der offizielle und inoffizielle Kulturbetrieb beschaffen war und dass es eine von der Stasi überwachte und infiltrierte, aber dennoch sehr rege Untergrundbewegung gab.



Paul Spies und seine Kolleginnen und Kollegen zeigen im Ephraimpalais zahlreiche Fotografien, Plakate, Hand- und Druckschriften und weitere Hinterlassenschaften aus DDR-Zeiten, die aus Wohnungen, Fabrikhallen, Dienstzimmern, öffentlichen Räumen sowie der eigenen Sammlung und aus Privatbesitz stammen.



Aus dem Jahr 1969 stammt die "Rakete" im Entree des Ephraimpalais, ursprünglich aufgestellt von einem Fahrgeschäft im Kulturpark Berlin-Plänterwald.



Die Treppenstufen hinauf zu den Ausstellungsräumen sind mit heute zum Teil bereits vergessenen Begriffen aus der Alltagssprache der DDR versehen.





In der Ausstellung ist ein Arbeitsplatz nachgestaltet, wie man ihn überall finden konnte. Die Plakate werben für den Wiederaufbau von Berlin. Ohne kämpferische Parolen und Selbstverpflichtungen ging es im zweiten deutschen Staat nicht.



Der Druckapparat zur Vervielfältigung illegaler Schriften stammt aus der Berliner Erlöserkirche, in der sich Angehörige von Friedensgruppen versammelten, von Stasileuten bespitzelt und unterwandert.



Die Stalinallee, seit 1961 Karl-Marx-Alle, wurde vor Jahrzehnten im Westen als Zuckerbäckerstil belächelt und ist bis heute eine begehrte Adresse, um die sich Investoren mit viel Geld in der Tasche bemühen. Das Foto zeigt ein Relief aus der Aufbauzeit.





Viele DDR-Bauten wie die beliebte Speisegaststätte "Ahornblatt" an der Leipziger Straße sind von der Bildfläche verschwunden. Manche Berliner weinen dem Palast der Republik eine Träne nach (Abrissfoto von 2008).



Der Tränenpalast genannte Grenzübergang am Bahnhof Friedrichstraße ist heute eine gut besuchte Erinnerungsstätte. (Fotos: Caspar)

Die Stiftung Stadtmuseum zeigt bis zum 9. November 2019, dem 30. Jahrestag des Mauerfalls, im Ephraimpalais die Ausstellung "Ost-Berlin - Die halbe Hauptstadt", eine bemerkenswerte Schau auf das gesellschaftliche und kulturelle Leben in der, wie sie sich selber nannte, Hauptstadt der DDR. Der Jubel über die überraschende Öffnung der Mauer und das Ende des SED-Regimes war groß, von jenen abgesehen, die Privilegien und einflussreiche Posten verloren, und denen, die Strafe für Verbrechen, Spitzeldienste und Schüsse an der Mauer, für Misswirtschaft, Vergeudung von Volksvermögen, Wahlbetrug, Militarisierung der Gesellschaft sowie Lug und Trug in den Medien befürchten mussten und vielfach einen tiefen Fall taten. Bald schon wurde aus dem Ruf "Wir sind das Volk" das Bekenntnis "Wir sind ein Volk" und "Deutschland einig Vaterland".

Dem ersten Rausch und der Freude über die D-Mark folgte bald Ernüchterung und bei manchen Depression, denn vieles, was man sich erträumte, ging nicht in Erfüllung oder entwickelte sich anders als gedacht. Die ostdeutschen Bundesländer und der Ostteil unserer Hauptstadt haben sich in den vergangenen 30 Jahren rasant verändert. Weitgehend vergessen und den Jüngeren erklärungsbedürftig sind die kaputten Innenstädte zwischen Elbe und Oder, Rügen und Rennsteig. Ihr schlimmer Zustand war zusammen mit dem Ruf nach wirklicher Demokratie und Reisefreiheit ein weiterer Grund, warum die Massen, Gefahr und Verhaftung nicht achtend, auf die Straße gingen. Die in großen Teilen marode, auf Verschleiß fahrende Industrie, die verrauchte Luft und der Gestank der Autoabgase standen in schreiendem Kontrast zu dem, was die von der SED gesteuerte Propaganda den eigenen Untertanen und dem Ausland weis zu machen versuchte, dass nämlich die DDR zu den zehn führenden Industriestaaten der Welt gehört, dem Gesundheits- und Umweltschutz oder ganz allgemein Humanität auf der Dringlichkeitsliste ganz oben stehen.

"Beziehungen" gingen über alles

Wer denkt heute noch daran, dass auch in Ost-Berlin, das mit Lebensmitteln, Südfrüchten und Industriegütern besser versorgt war als die Provinz, viel Zeit, auch Arbeitszeit, mit Schlangestehen vergeudet wurde, um für seine Familie Lebensmittel und ganz normale Gebrauchsgegenstände zu beschaffen? Wer erinnert sich noch an entwürdigende Umstände, wenn jemand auf den Ämtern ein Anliegen vortrug, oder an die Wartezeiten für ein Auto, einen Kühlschrank oder auch nur ein Telefon? Wer weiß noch, dass "Beziehungen" über alles gingen, und wie arm jemand dran war, wenn er über diese nicht verfügte. Na klar, es gab im zweiten deutschen Staat vieles, was heute rar ist - Kindergärten und billige Wohnungen, sofern man eine bekam. Und wenn man heute - übertrieben gesagt - zwischen hundert Hosen wählen kann und immer noch nicht zufrieden ist, gab es damals drei Typen und musste zugreifen, sonst waren sie weg.

Wenn es immer noch Leute gibt, die die DDR über den Klee loben und sie sich sogar wieder zurück wünschen, sei ihnen ein Besuch der Ausstellung im Ephraimpalais sowie Dokumentationen an anderen Orten empfohlen, die einen gruseln lassen und treffende Argumente gegen Ostalgie und DDR-Verklärung liefern. Als vor längerer Zeit der aus den Niederlanden gekommene, zum Direktor der Stiftung Stadtmuseums ernannte Paul Spies nach einer Bilanz der 2014 und 2015 laufenden Ausstellung über West-Berlin seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fragte, was denn mit Ostberlin sei, habe in der Runde beredtes Schweigen geherrscht. Offenbar habe niemand die zweite, als irgendwie steril, grau und uninteressant empfundene Stadthälfte auf dem Schirm gehabt. Dann aber habe man das Thema mit großem Elan und fachlich unterstützt vom Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam und weiteren Partnern aufgegriffen und die neue, vor allem die siebziger und achtziger Jahre umfassende Ausstellung auch mit Hilfe Berliner Bezirksmuseen gestaltet. Sie nimmt alle vier Etagen des Ephraimpalais im Nikolaiviertel ein, und wenn man die elegant geschwungene Treppe besteigt, dann liest man auf den Holzstufen seinerzeit in aller Munde befindliche, heute schon fast vergessene Begriffe aus dem DDR-Wortschatz wie Exquisit und Protokollstrecke, Tränenpalast, Kessel Buntes, Fahnenmasten und Verfall. Eine gute Idee, die Lust macht, die Worthüllen mit Fakten zu füllen. Und von diesen bietet die sehenswerte Schau jede Menge.

Machtzentrum und Schaufenster

Wichtig war, dass die Kuratoren der Ausstellung und ihre Berater aus eigenem Erleben die Konzeption erarbeitet und die Exponate, etwa eintausend an der Zahl, ausgewählt und präsentiert haben. "Ost-Berlin hatte viele Gesichter, war Machtzentrum der SED und ihrer Repressionsorgane, Schaufenster und Zentrum von Wissenschaft, Kunst und Kultur, ein wichtiger Industriestandort. Die zweite Hälfte der deutschen Hauptstadt bot Raum für unterschiedliche Lebensentwürfe und eine vielfältige Kultur", sagt Ausstellungskurator Jürgen Danyel und betont, dass die Dokumentation keine Wehmutsveranstaltung ist, sondern versucht, die lange wie ein blinder Fleck behandelte Stadtgeschichte der vergangenen Jahrzehnte mit Bildern, Fakten und Emotionen zu füllen. "Wir zeigen an zahlreichen Beispielen die geradezu atemlose Entwicklung der Stadt diesseits und in Teilen jenseits der Mauer. Die Ausstellung schildert, wie Politik und Alltag verschränkt waren, wie die Ostberliner mit der Mauer lebten und wie sie sich in ihren Altbau- und Neubauquartieren eingerichtet haben."

Mit der Wende ist es so eine Sache. Der Begriff wurde von Egon Krenz, dem Nachfolger des am 18. Oktober 1989 entmachteten Partei und Staatschefs Egon Krenz erfunden und kommt vielen Menschen, auch mir, nur schwer über die Lippen. Bis zum Mauerfall und der Wiedervereinigung stolz "Hauptstadt der DDR" und im Westen nur Ostberlin oder Ost-Berlin genannt, erlebte die halbe Hauptstadt in den vergangenen drei Jahrzehnten eine Erneuerung ohnegleichen. Als Schaufenster des zweiten deutschen Staates herausgeputzt und zum Ärger der Bevölkerung draußen im Lande besser auch mit Neubauwohnungen bestückt als der große Rest, wurde die zweite Hälfte aufgemöbelt und regelrecht erleuchtet. Heute sind nur an versteckten Stellen noch kaputte Fassaden und leere Werkhallen zu finden. Wo es Baulücken und Brachen gibt, wurden und werden sie mit neuen Häusern besetzt, nicht immer mit Zustimmung der dort wohnenden Menschen, die Zuzügler und Krach nicht wollen. Das Wohnen ist seit 1990 für viele Menschen existenzbedrohend teuer geworden, es gibt massive Verdrängungsprozesse und die Umwandlung von Stadtteilen, in denen zu wohnen und zu leben vor 30 Jahren noch eine Strafe war, in schicke, angesagte und teure Viertel, in denen kaum noch Alteingesessene zu finden sind. Verschwunden sind bis auf Reste die Mauer und die anderen Grenzbefestigungen. Sie kommen im Ephraimpalais kaum vor, weil es über sie viel die besser ausgestattete Gedenkstätte an der Bernauer Straße gibt, so das Argument der Ausstellungsmacher.

Das gilt auch für die Staatssicherheit, über die man sich im ehemaligen Mielke-Ministerium an der Normannenstraße in Lichtenberg sowie im früheren Untersuchungsgefängnis Hohenschönhausen umfassend über das Zusammenspiel von SED und Geheimdienst und die flächendeckende Überwachung der Bevölkerung durch hauptamtliche und inoffizielle Stasi-Leute informieren kann. Was in der Berliner Gedenkstätten- und Kulturlandschaft noch fehlt und nur in einschlägigen Publikationen nachgelesen werden kann, sind die Eingriffe des "Apparats" in den Kulturbetrieb und die Medien.

Zustrom aus der Provinz

Die Ausstellung unterstreicht die enorme Anziehungskraft von Ost-Berlin auf die in der DDR-Provinz lebenden Menschen. Der halben Hauptstadt war ein Hauch von Weltläufigkeit in der Enge der DDR eigen, und sie bot Raum für Lebensentwürfe jenseits ideologischer Vorgaben und politischer Normen. Unzweifelhaft war sie für Aussteiger ein Sehnsuchtsort, die sich nicht darum scherten, dass das die Stasi, die sich Schild und Schwert der Partei nannte, sie genau beobachtet und unterwandert. Dessen ungeachtet haben mutige Dissidenten unter dem Dach der Kirche und in Umweltgruppen Untergrundliteratur hergestellt. Einige dieser Samisdat-Hefte sind samt Abziehapparat in der Ausstellung zu sehen. Was da produziert wurde und wie sich die DDR-Bewohner gegen Bevormundung und Lügenpresse wehrten, wäre eine weitere Dokumentation wert!

In und außerhalb Berlins gibt es die seinerzeit von Bundeskanzler Helmut Kohl versprochenen "blühenden Landschaften" sowie Gewinner der deutschen Einheit, aber auch abgehängte und entvölkerte Regionen. Auch heute, 30 Jahre später, wird mit Trauer und Wut beklagt, dass nach 1989/90 ohne Not Betriebe mit vielen Beschäftigten von westdeutschen Konkurrenten regelrecht okkupiert und platt gemacht wurden und unzählige Menschen ihre Arbeit verloren haben. Wobei bei den Klagen gern übersehen wird, dass es mit der technisch hochgerüsteten DDR-Industrie nicht weit her war und deren Erzeugnisse vielfach mit denen im Westen weder im Design noch in ihrer Funktionalität konkurrieren konnten. Hinter heute spiegelglänzenden Fassaden und übereich ausgestatteten Supermärkten und Warenhäusern verbirgt sich weiterhin viel Alltagsgrau, und es breiten sich bedrohlich Existenzängste um die Frage aus, ob und wie man noch seine Wohnung bezahlen kann und mit oft jämmerlichen Löhnen auskommt und was sein wird, wenn man eines Tages seinen kargen Rentenbescheid in Händen hält.

Vertiefende Texte zum Nachlesen

Das zur Ausstellung im Ch. Links Verlag Berlin erschienene Buch "Ost-Berlin 30 Erkundungen" mit der Ansicht der Weltzeituhr auf dem Schutzumschlag bietet mit 30 Essays zum Teil sehr persönlich gefärbte Einblicke in das mal bunte und fröhliche, mal beängstigend traurige Leben im Schatten der Mauer (448 Seiten, 50 Abb., 25 Euro, ISBN 978-3-96289-013-1). Die Texte vertiefen die Ausstellung und führen in soziale und kulturelle Milieus und Arbeitswelten und behandeln das Wohnen in Alt- und Neubauten, machen mit Orte privaten Vergnügens und solchen der Subkultur bekannt. Das Buch spürt dem Sound der Stadt nach, zeigt ihr damaliges Straßenbild und vermittelt Eindrücke von der ewigen Abfolge von Kundgebungen, Paraden und Festivals, mit denen die Partei- und Staatsführung das "Volk der DDR" nach dem altrömischen Prinzip "Brot und Spiele" bei Laune und an der Stange zu halten versuchte. Der Band ist kein Katalog, er lädt ein, Erfahrungen aus Ost-Berlin und heutige Probleme der Metropole Berlin neu zu befragen. Einer der Beiträge schildert die Entstehung und Wirkung des von Lilli Berlin gesungenen und von Jürgen Barz gedichteten Liedes von 1982 "Ostberlin - Wahnsinn / Komm doch mal nach Ostberlin - Wahnsinn / man lässt hier jeden hin - Wahnsinn /Eintritt 25 Mark -Wahnsinn / schwer was los, richtig stark…"

Wer den Osten besuchte, dem ging es gut, Verwandte und Freunde tischten auf, was zu bekommen war, und zeigten sich besonders aufgeräumt. Kellner sahen schon von weitem, woher einer kam, und boten begehrte Plätze an, während der DDR-Normalbürger vor dem Schild "Sie werden platziert" geduldig warten mussten. Vieles war Fassade und Potemkinsches Dorf wie die Häuser an der Protokollstrecke von Wandlitz ins ZK-Gebäude, die "untenrum" angestrichen und mit netten Läden besetzt waren, so dass sich die Genossen vom Politbüro in dem Wahn wiegen konnten: Alles wunderbar im Arbeiter-und-Bauern-Paradies.

11. Mai 2019

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