"Zille, du hast jesacht, wies is"
Das dem Zeichner des Berliner "Milljöhs" gewidmete Museum im Berliner Nikolaiviertel hat eine neue Attraktion





Albrecht "Zille" Hoffmann erzählt Schülern der Berliner Zille-Grundschule erstaunliche Geschichten aus dem Leben von "Pinselheinrich". Museumsleiterin Karin Heckendorf und ein als Eckensteher Nante kostümierter Zeichner hören in der neu eingerichteten Wohnküche zu.





Blick in die Ausstellung, in der man viele originale Grafiken und Fotografien sowie eine Zille-Büste, geschaffen von August Kraus, bewundern kann. Mit einem Relief hat der bekannte Bildhauer Kraus seinen Freund Heinrich Zille wunderbar porträtiert.



Sorgen am Küchentisch 1924: "Wat, det Jeld is for die janze Woche?" - "Ja, und von morjen ab zwei Stunden länger Arbeet! Er hat jesagt, er käme uns entjejen, je länger wir arbeeten, desto weniger Jelejenheit hätten wir, Jeld auszujeben!"



Die dicke Dame fragt einen Knirps, wie denn sein Lehrer heißt. Worauf Heinrich Zille ihn antworten lässt: "Ick hab keen Lehrer, mir lernt een Meechen".



Der Metzger lässt auf seine Wurst aus Blut und Schrippen nichts kommen, rechts liefern sich dicke Frauen in einer Kneipe ein vermutlich lautstarkes Wortgefecht. Zille hat viele solche Szenen gezeichnet.



Im Köllnischen Park und im Nikolaiviertel erinnern diese Skulpturen an Heinrich Zille, der vor 90 Jahren gestorben ist. (Fotos/Repros: Caspar)

Anlässlich des 161. Geburtstages von Heinrich Zille hat das nach ihm benannte Museum an der Propststraße 11 im Berliner Nikolaiviertel eine Wohnküche als neueste Errungenschaft eröffnet, wie sie zu Zeiten des Zeichners des Proletariats in unzähligen Haushalten existierte. Der Schauspieler Albrecht Hoffmann, der mit seinem dichten Bart, dem breitkrempigen Hut, der Nickelbrille und dem weiten Mantel aussieht wie "Vater Zille", erzählte unter dem Motto "Siehe. So leben Menschen" Schülern der Zille-Grundschule im Berliner Bezirk Friedrichshain sowie Gästen aus dem wechselvollen Leben des beliebten Künstlers. Er erläuterte Zeichnungen an der Wand und befasste sich mit Hinterlassenschaften, die Freunde und Besucher dem Museum geschenkt oder geliehen haben und die nun die alte Wohnküche schmücken. Ihr fehlt noch eine so genannte Küchenmaschine, unter der man sich einen Herd vorstellen muss, auf dem man nicht nur sein Essen kochte, sondern auch die "Wohnküche" heizte.

Die Kinder durften ausnahmsweise ein altes schweres Plätteisen anheben, das in alten Zeiten auf dem Herd stand, denn ein mit elektrischem Strom erwärmtes Gerät konnten sich Leute, die in solchen Wohnungen auf engstem Raum hausten, nicht leisten. Zeichnungen in der nachgestalteten Wohnküche und den anderen Räumen des Zillemuseums zeigen Szenen in der Kneipe, in der Gartenkolonie, beim Baden im Freien und beim Musizieren im Hof einer Mietskaserne. Zu sehen sind schwangere Frauen, die des Lebens müde sind und "ins Wasser" gehen, sodann hungernde Kinder sowie solche, die Blut in den Schnee spucken, weil sie lungenkrank sind. Zwei Knirpse unterhalten sich über eine Ratte, die einer feuchten Wohnung zum Opfer fiel. Bei diesem Bild kam Albrecht Hoffmann auf das traurige Los der Trockenwohner zu sprechen, die in damaligen Neubauwohnungen so lange hausen mussten, bis die Feuchtigkeit daraus verschwunden war, wobei sie sich schwere Lungenkrankheiten zuzogen. Die Armeleute-Krankheit Tbc hieß im Volksmund "Motten", weil der Erreger die Lunge wie die kleinen Insekten Stoffe zerfressen. Jetzt wissen die Kinder von der Zille-Schule, was die in Berlin benutzte Redewendung "Ich krieg die Motten" bedeutet.

Die Blume im hintersten Winkel

Als Heinrich Zille um 1900 seine Karriere als Zeichner des Berliner "Milljöhs" startete, waren die Meinungen über diesen neuen Stern am Himmel der Humoristen geteilt. Vertreter und Nutznießer des offiziellen Kunstgeschmacks Wilhelms II. sprachen von Abschaum und Gosse und zitierten damit ihren kaiserlichen Herrn und Auftraggeber, der die sozialkritische Moderne als "Rinnsteinkunst" verteufelte und forderte, Kunst möge erheben und nicht herabziehen, denn es gebe schon genug Elend. Die so von Deutschlands oberstem Kunstrichter Gescholtenen wie Käthe Kollwitz, Max Liebermann, Hans Baluschek, Gerhart Hauptmann und eben auch Heinrich Zille hefteten sich das kaiserliche Verdikt stolz ans Revers, trennten sich vom offiziellen Kunstbetrieb, machten als Sezessionisten Furore. Heinrich Zille, der "Rinnsteinkünstler", entdeckte noch im schlimmsten Elend einen Lichtstrahl, im hintersten Winkel eine bescheidene Blume. Allerdings: seine Bilder gingen nicht so weit, die Herrschaftsverhältnisse und insbesondere das autoritäre Gehabe des Kaisers und seiner Hofschranzen anzugreifen und nach Alternativen zu rufen. Das taten andere mit spitzer Feder und scharfer Zunge - und handelten sich Verfahren wegen Majestätsbeleidigung und Landesverrat ein.

Selbst wenn Zille eine verzweifelte Mutter zeichnete, die mit ihrem Kind ins Wasser gehen will und von Passanten von diesem letzten Schritt abgehalten werden, lautet der Bildtext nur "Des Lebens satt", oder wenn er einen aus dem vierten Stock gesprungenen Mann in einer Blutlache zeigt, ist das für ihn kein Grund, in die Trompete der Revolution zu stoßen. Auch der Invalide, der mit nur einem Bein und zwei Krücken aus dem Ersten Weltkrieg kommt, ist für Zille kein Grund, das unsinnige Abschlachten anzuklagen. "Nun Bruder nimm den Bettelsack, Soldat bis Du gewest", lautet des Künstlers lapidarer Kommentar.

Zweite Liebe zur Fotografie

In ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, hatte sich der 1858 in Radeburg bei Dresden geborene Zille hochgearbeitet, war in fortgeschrittenem Alter sogar Mitglied der Akademie der Künste und Professor geworden, wohnte im vornehmen Charlottenburg. Als er neun Jahre alt war, zog die Familie nach Berlin, und mit vierzehn erlernte er den Beruf des Lithographen und fand mit neunzehn eine schlecht bezahlte Anstellung bei der Photographischen Gesellschaft. Von daher kam Zilles zweite Liebe, die Fotografie, die er auch bei der Suche nach Motiven aus dem Leben der kleinen Leute erfolgreich nutzte. Proben dieses seines virtuosen Umgangs mit der Kamera können im Zillemuseum eingehend betrachtet werden und sind in einem abgedunkelten Raum auch als Video mit diversen Zeichnungen und bewegten Szenen zu bewundern. Der Film zeigt die ganze Breite im Schaffen des populären Meisters, der nie den Professor heraushängen ließ.

Selber irdischen und vor allem alkoholischen Freuden nicht abgeneigt, war Zille, nach seinem Abschied von der Photographischen Gesellschaft (1908) selbstständig arbeitend, ein gern gesehener Gast in Berliner Kneipen und Destillen, wo er vor sich hin im Fuselrauch dösende Familienväter, dicke Mütter und ihre stets blähenden Kinder mit rachitisch-krummen Beinen auf einzigartige Weise abschilderte. Und dann diese Szenen in den Schrebergärten, beim Picknick im Grünen oder an überfüllten Volksbädern! Oder die armseligen Typen, die auf dem eisigkalten Weihmachtsmarkt Selbstgebasteltes anbieten oder sich an hell erleuchteten Schaufenstern die Nasen platt drücken und genau wissen, dass sie von all den Herrlichkeiten nichts abbekommen werden. Das ganze Gegenteil dieser lärmenden, mal melancholischen, mal beschwingten Alltagszenen sind die Zeichnungen, Aquarelle und Radierungen, die dem dunklen, geheimnisvollen Berlin gewidmet sind. Zille bekam Ärger mit der Zensur, als er sehr drastisch und detailfreudig schilderte, wie "Schlafmeechens" Sex mit "scharfen Jungs" in Hinterstuben haben, und das nicht nur im einfachen Paarbetrieb, sondern gleich mit mehreren Leuten zusammen.

Ein paar Striche, und es sind Meisterwerke

Als Heinrich Zille vor bald 90 Jahren, am 9. August 1929, einundsiebzigjährig starb, folgten unzählige Menschen dem Trauerzug bis hinaus auf den Stahnsdorfer Waldfriedhof. "Pinselheinrich", wie man ihn liebevoll nannte, galten ehrende Nachrufe. Er blieb bis heute populär, auch wenn sich gottlob die Lebens-, Arbeits- und Wohnverhältnisse, die er so unnachahmlich aufs Korn genommen hatte, grundsätzlich geändert haben. Seine akademisch, heldisch und historisierend malenden Widersacher hingegen sind zumeist vergessen, und ihre Werke verstauben in den Museumsdepots. "Zille, du wahrts ein jrossa Meista; Du hast jesacht, wies is", schrieb Kurt Tucholsky, und Käthe Kollwitz fasste ihr Urteil in folgenden Worten zusammen: "Ein paar Linien, ein paar Striche, ein wenig Farbe mitunter - und es sind Meisterwerke".

Aus dem Plan, in Berlin ein dem Zeichner der kleinen Leute, der Huren und Luden, der Schlummermütter, Kneipiers, Pferdeschlächter, Hinterhofjongleure, Rummelboxer, der Kindermädchen und kalten Mamsells gewidmetes eigenes Museum einzurichten, wurde zu Zilles Lebzeiten und danach nichts. In der Nazizeit waren seine Typen nicht gefragt, weil sie nicht deutsch und kernig genug waren, und in DDR-Zeiten hat man den wenig klassenkämpferischen Charakter seiner Bilder bemängelt, sie aber immer gesammelt und publiziert. So kam es, dass 2002, 73 Jahre nach Zilles Tod, im Berliner Nikolaiviertel ein eigenes Zille-Museum eröffnet werden konnte.

Pinselheinrich ganz aus Bronze

In Bronze gegossen, erhebt sich der Künstler seit 1965 auf einem flachen Sockel unweit des Märkischen Museums im Köllnischen Park. Der Bildhauer Heinrich Drake zeigt "Pinselheinrich" stehend bei seiner Arbeit, wobei ihm ein Junge über die Schulter schaut. Heinrich Zille, den Schlapphut auf dem Kopf, den unvermeidlichen Zigarrenstummel im Mund, ist, über seinen Brillenrand blickend, gerade dabei, eine Straßenszene im Skizzenblock festzuhalten. Ausgebeult sind die Taschen seines Jacketts mit Mal- und Zeichenutensilien darin. Der junge Arbeiter, der die Zeichnung beäugt, demonstriert die Tuchfühlung, die der Künstler für sein Werk brauchte.

Der Standort des Zilledenkmals von 1965 - ein älteres von Paul Keutsch aus dem Jahre 1930 in der Bergstraße ist verschwunden - ist gut gewählt. Ein weiteres steht im Nikolaiviertel. So mag der Zeichner ausgesehen haben, als er sich auf die Suche nach seinen machte Typen, die ihm Freunde waren. In Kneipen wie dem "Nussbaum" oder auch im "Metzer Eck" war Heinrich Zille ein gern gesehener Gast. Dort nahm man ihn liebe- und respektvoll auf, ließ ihn nicht spüren, dass er als Akademiemitglied und Kunstprofessor ja eigentlich etwas "Besseres" ist. "Im Nussbaum links vom Molkenmarcht, / Da hab' ick manche Nacht verschnarcht, / Da malt der Vater Zille! / Die Jäste, die sind knille!", sang die Kabarettistin und Chansonsängerin Claire Waldoff. Mit dem "Nussbaum" war das Altberliner Wirtshaus auf der Fischerinsel gemeint, das DDR-Hochhäusern weichen musste. Es hat im Nikolaiviertel 1987 eine originalgetreue Zweitauflage erhalten, und auch hier wird, wie wenige Schritte weiter im Zillemuseum, das Andenken an den Maler des Berliner "Milljöhs" gepflegt.

Das Zille-Museum Berlin, Propststraße 11 in 10178 Berlin-Mitte ist täglich von 11 bis 18 Uhr von 10 bis 18 Uhr geöffnet, Eintritt 7 und ermäßigt 5 Euro. Telefon 030/24632500, e-mail info@zillemuseum-berlin.de und im Internet www.zillemuseum-berlin.de.

11. Januar 2019

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